Die Jury der Initiative Nachrichtenaufklärung e. V. präsentiert jährlich zehn Nachrichten oder Themen, die in der medialen Berichterstattung zu kurz gekommen sind. Es handelt sich um Sachverhalte, die für die deutsche Öffentlichkeit relevant sind, über die aber bislang in Presse, Funk, Fernsehen und Internet kaum Debatten geführt werden. Hier können Sie einen eigenen Themen-Vorschlag einreichen. Die Top Ten des Jahres 2017 wurden am 08. Februar zusammen mit der Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks in Köln vorgestellt. Einen Mitschnitt der Pressekonferenz mit Günter Wallraff zur Bekanntgabe der Top Ten gibt es bei der Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks. Wir freuen uns immer über die Weiterverbreitung unserer Top Ten und stellen Ihnen auf Anfrage gerne weiterführende Informationen zur Verfügung.
Top 1: Bundesrichterwahl illegal?
Die Durchführung der Wahl zum Richter an einem deutschen Bundesgericht ist unklar und wenig nachvollziehbar. Es gibt kaum klare Auswahlkriterien für diese Ämter. Stellenausschreibungen werden nicht öffentlich gemacht. Das Prinzip der Chancengleichheit wird zu wenig berücksichtigt. Der Richterwahlausschuss wird vom Deutschen Bundestag bestimmt und setzt sich ausschließlich aus Parteimitgliedern zusammen. Entsprechend ist die Gefahr einer parteilichen Auswahl groß. Nicht alle Wahlausschussmitglieder haben zwingend eine juristische Ausbildung, entscheiden aber über die „sachliche“ Eignung eines Kandidaten. Über die persönliche Eignung der Bewerber wird entschieden, ohne dass diese sich überhaupt persönlich vorstellen müssen. Die Besetzungen der hohen Richterämter sind immer wieder Thema in den Medien, die Umstände der Wahl sind aber medial vernachlässigt.
Top 2: Die meisten Auslandseinsätze der Bundeswehr sind unbekannt
Die deutsche Bundeswehr ist aktuell an 16 offiziellen Auslandseinsätzen in 14 Ländern beteiligt. Der Öffentlichkeit ist das weitgehend unbekannt: Denn bei weitem nicht über alle Missionen wird in der Presse berichtet. Dabei sind es deutsche Soldaten, die in der Regel im Auftrag des deutschen Bundestags Leib und Leben im Ausland riskieren. Auch im Hinblick auf die Finanzierung sämtlicher Auslandseinsätze aus Steuergeldern und die neue Ausrichtung der Bundeswehr hin zur Verteidigung der Sicherheit Deutschlands im Ausland sollten die deutschem Medien mehr und genauer über die Auslandseinsätze deutscher Soldaten berichten. Seit 1992 haben die Auslandseinsätze der deutschen Bundeswehr über 17 Milliarden Euro gekostet. Es gibt jedoch noch nicht einmal eine regelrechte Erfolgskontrolle solcher Einsätze: Ein entsprechender Gesetzentwurf liegt zwar vor, wurde aber noch nicht verabschiedet.
Top 3: Costa Rica und andere Länder ohne Militär
Costa Rica ist einer von sehr wenigen Staaten weltweit, der über kein eigenes Militär verfügt, und das bereits seit über sechzig Jahren. Trotz der über 20 Länder ohne stehendes Heer und dem langen Zeitraum, den Costa Rica bereits darauf verzichtet, ist dieser Zustand nahezu unbekannt und wird und wurde von der Presse, sowohl von ausländischer als auch von inländischer, stark vernachlässigt. Die Frage nach den Erfolgschancen und den Vorteilen militärloser Staaten, insbesondere für Wirtschafts- und Bildungssysteme der entsprechenden Länder, verleiht dem Thema Relevanz. Diese Relevanz besteht auch im Hinblick auf den weltweit zunehmenden Terrorismus und die damit verbundenen Kritikpunkte und in Bezug auf die Frage, wie sicher und modellhaft dieses Konzept des armeelosen Staates in Zeiten wie diesen noch ist.
Top 4: Kann Hunger durch weniger Nahrungsmittelverschwendung verringert werden?
Hunger und Nahrungsmittelverschwendung haben verschiedene Gründe, und die Verschwendung bedingt indirekt auch den Hunger. Es gibt Ideen zur Verbesserung der Lage, doch bisher wird wenig langfristig umgesetzt. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Hunger und Nahrungsmittelverschwendung sowohl wirtschaftlich, als auch politisch, sozial und ökologisch relevant. In der Presse werden zwar die einzelnen Themenblöcke immer wieder angesprochen. Der komplizierte Zusammenhang von Nahrungsmittelverschwendung hier und Hunger dort sind jedoch kaum Thema und Handlungsvorschläge werden selten angesprochen.
Top 5: Deregulierung von Au-pair Agenturen in Deutschland durch EU-Recht
Au-pair-Mädchen und -Jungen werden oft als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Bis 2002 gab es in Deutschland eine Lizenzpflicht für Au-pair-Agenturen, seitdem werden sie aber nicht mehr staatlich kontrolliert. Die heute etwa 300 Agenturen mit Sitz in Deutschland müssen nur für 30 Euro einen Gewerbeschein erwerben und haben keine Auflagen zu befürchten. Dieser Zustand hat gravierende Folgen für Au-pairs: Leidensgeschichten gibt es reichlich. Das Thema wurde 2016 in einem Kurzfilm der ARD aufgegriffen und danach in einigen Medien weiter behandelt. Die fehlende staatliche Kontrolle wird erwähnt, aber es wird nicht auf den Grund der weggefallenen Lizenzpflicht eingegangen: Sie fiel 2002 der Liberalisierung des EU-Arbeitsmarkts zum Opfer. Dass das EU-Recht als Ursache der fehlenden Kontrolle von Au-pair-Agenturen vernachlässigt wird, kann mit einer Scheu besonders von politisch orientierten Journalisten zusammenhängen, Kritik an der zunehmend gefährdeten EU zu üben.
Top 6: Die Rolle des Westens im Jemen–Konflikt
Die Krisen und kriegerischen Konflikte im nahen und mittleren Osten sind Tagesthema. Wirklich? Seit März 2015 findet im Jemen, dem ärmsten Land des Nahen Ostens, eine durch Saudi-Arabien angeführte militärische Intervention statt: mit Unterstützung weiterer sunnitischer arabischer Staaten und den USA, Großbritannien und Frankreich fliegt Saudi-Arabien Luftangriffe gegen die schiitischen Huthi-Rebellen. Nach Angaben der UN und Menschrechtsorganisationen hat der Konflikt bereits tausenden Zivilisten das Leben gekostet und Millionen in Hungersnot gestürzt. Es wird von Kriegsverbrechen, wie der Bombardierung von Krankenhäusern und dem Einsatz von Streubomben, berichtet. Deutschland ist Waffenlieferant für Saudi-Arabien. Es handelt sich um ein vernachlässigtes Thema, weil die Rolle westlicher Länder im Jemen-Konflikt kaum in den Medien diskutiert wird.
Top 7: Unzuverlässiges Gütesiegel führt zu Gewalt bei der Pferdeausbildung
Das Geschäft der Gestüte geht zu Lasten der Pferde, obwohl viele unter dem Schutz eines Siegels stehen. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung, kurz FN, zertifiziert Gestüte und vergibt das sogenannte FN-Gütesiegel. Das garantiert eine harmonische Ausbildung und eine korrekte Haltung der Pferde, und – wenig verwunderlich – erhöht den Kaufpreis eines zertifizierten Pferdes. Doch nicht immer hält das Siegel, was es verspricht, und Pferdekäufer stellen fest, dass das Pferd trotzdem eine gewaltsame, mit Schmerzen verbundene Ausbildung durchlaufen hat, die einen gefahrlosen Umgang mit dem Pferd dauerhaft verhindert. Ein der der Gründe sind unzureichende Qualitätskontrollen der Gestüte auf die Einhaltung der Versprechen und die Verlässlichkeit des Siegels. Während über andere Siegel in der Presse oft berichtet wird, findet die Missachtung der Richtlinien des Pferdesiegels kaum Beachtung. Dabei sind vier Millionen Reitsportler und über eine Million Pferde betroffen.
Top 8: Medikamentöse Ruhigstellung in Altenpflegeheimen
Ältere Menschen werden in Pflegeheimen gegen ihren Willen und häufig ohne Wissen der Angehörigen mit Medikamenten wie Benzodiazepine oder Neuroleptika ruhiggestellt. Von den 2,86 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland leben viele in einer der 11.164 stationären Einrichtungen. Das Pflegepersonal ist häufig mit der Situation konfrontiert, sich zu zweit um 75 bis 100 Patienten kümmern zu müssen, von denen viele unruhig sind oder aufgrund ihrer Demenzerkrankung orientierungslos umherirren. Dieser hohe Arbeitsaufwand kann einer der möglichen Gründe sein, die Pflegebedürftigen zu betäuben. In den deutschen Medien wurde dieser Umstand bislang noch nicht durchleuchtet.
Top 9: Fehlender Schutz von Kulturgütern bei atomarem GAU
Im Falle eines atomaren Unglücks, des sogenannten GAU, in einem Atomkraftwerk sind schon Mensch und Tier in Deutschland völlig unzureichend geschützt. Umso mehr gilt das für unschätzbares Kulturgut, das nach einem Atomunfall unwiederbringlich zerstört sein kann. Deutschland ist umringt von 65 Atomreaktoren der unmittelbaren Nachbarländer (Stand November 2016). In Belgien ist es vor allem der Reaktor in Tihange, der im Falle eines atomaren GAUs Teile West-Deutschlands atomar verunreinigen und unbewohnbar machen würde. In Frankreich sind es die Reaktoren Cattenom und Fessenheim. Selbst im eigenen Land hat Deutschland noch 8 aktive Atomreaktoren. Alle diese Reaktoren stellen eine Gefahr für Menschen und ihre Kultur dar. Zum Bevölkerungsschutz hat das Bundeministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit einen breiten Maßnahmenplan entwickelt. Doch für das Kulturgut ist ein explizit auf den atomaren Katastrophenfall zugeschnittener Maßnahmenplan nicht entwickelt worden. Ein Großteil der Verantwortung für einen Maßnahmenplan im Falle einer atomaren Katastrophe liegt bei den Ländern. Dennoch ist bisher nur für den allgemeinen Katastrophenfall, insbesondere den bewaffneten Konflikt, vorgesorgt. Auch der Bund steht in der Verantwortung, seine Kulturgüter zu schützen. Es existiert zwar von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) eine „Bestandsaufnahme zu Maßnahmen des Bundes zum Schutz von Kulturgut bei Katastrophen“, aber keinen Maßnahmeplan. Der Öffentlichkeit ist das vollkommen unbekannt.
Top 10: Scheinselbstständigkeit unter freien Mitarbeitern
Gerade Journalisten, die häufig über Missstände in der Arbeitswelt berichten, sind selbst davon betroffen. Viele Medienschaffende arbeiten als Scheinselbständige, da Medienhäuser Festanstellungen vermeiden und durch die Beschäftigung von freien Mitarbeitern Sozialabgaben sparen. Mithilfe teils absurder Arbeitsregelungen und der Künstlersozialkasse umgehen sie feste Beschäftigungsverhältnisse und zwingen Medienschaffende ohne Kranken- und Urlaubsgeld bei niedrigen Honoraren in die Unsicherheit. Das Thema Scheinselbständigkeit von Medienschaffenden erschien nach einigen Entlassungen und Verfahren gegen Medienhäuser kurz in den Nachrichten, das systematische Vorgehen und die enorme Verbreitung finden thematisch nicht statt, nicht zuletzt weil die Medien kein Interessen daran haben, öffentlich auf der Anklagebank wegen Sozialbetrug zu sitzen.