2017: Top 10

Scheinselbstständigkeit unter freien Mitarbeitern

Gerade Journalisten, die häufig über Missstände in der Arbeitswelt berichten, sind selbst davon betroffen. Viele Medienschaffende arbeiten als Scheinselbständige, da Medienhäuser Festanstellungen vermeiden und durch die Beschäftigung von freien Mitarbeitern Sozialabgaben sparen. Mithilfe teils absurder Arbeitsregelungen und der Künstlersozialkasse umgehen sie feste Beschäftigungsverhältnisse und zwingen Medienschaffende ohne Kranken- und Urlaubsgeld bei niedrigen Honoraren in die Unsicherheit. Das Thema Scheinselbständigkeit von Medienschaffenden erschien nach einigen Entlassungen und Verfahren gegen Medienhäuser kurz in den Nachrichten, das systematische Vorgehen und die enorme Verbreitung finden thematisch nicht statt, nicht zuletzt weil die Medien kein Interessen daran haben, öffentlich auf der Anklagebank wegen Sozialbetrug zu sitzen.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Viele Medienschaffenden die für große Medienhäuser arbeiten, sind freie Mitarbeiter. Die Medienhäuser sparen durch die Beschäftigung von freien Mitarbeitern Sozialabgaben und je nach Vertrag auch Kranken- und Urlaubsgeld. Zum Schutz der vermeintlich Selbstständigen regelt Paragraf Sieben des Sozialgesetzbuchs IV die Unterscheidung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit. Als Anhaltspunkte für eine Beschäftigung werden hier die Tätigkeit nach Weisungen und die Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers genannt. Um sich vor Klagen auf Festanstellung von freien Mitarbeitern zu schützen, nutzen die Medienhäuser verschiedene Arbeitsregelungen. Der WDR beispielweise beschäftigt freie Mitarbeiter, vor allem Kameramänner und Cutter, im Rahmen der sogenannten Prognose höchstens fünf Tage im Monat oder nutzt Zeitarbeitsverträge. Das Problem für die Freien liegt hierbei darin, dass auf einen Zeitarbeitsvertrag eine dreimonatige Sperre folgt, in der kein Einkommen vom WDR bezogen werden darf. Diese Arbeitssperre auf Zeit ist unabhängig von der vorherigen Auftragslänge. Freie Mitarbeiter die über 10 Tage per Zeitvertrag beim WDR beschäftigt werden, sind anschließend genauso für drei Monate gesperrt, wie freie Mitarbeiter deren Zeitvertrag über mehrere Monate lief, beschreibt eine freie Mitarbeiterin des WDR. Diese monatelangen Sperren kommen bei den quasi-monopolartigen Strukturen an den großen Medienstandorten einem Berufsverbot gleich. Andere große Medienhäuser haben ähnliche Arbeitsregelungen. Medienschaffende die auf Aufträge der Medienhäuser angewiesen sind leiden unter Existenzängsten und Problemen ihre Arbeitstage mit Aufträgen zu füllen, berichtet auch Bernd Ziegler von Verdi. Ein weiteres Problem auf der Seite freier Journalisten ist, dass Medienhäuser jederzeit und ohne Begründung die Beschäftigung freier Mitarbeiter aufheben können. Befragte Mitarbeiter sprachen von permanenter psychischer Anstrengung als Folge von Unsicherheiten über zukünftige Aufträge.
Bemerkenswert bei diesen Arbeitsverhältnissen sei, so Bernd Ziegler, dass Arbeitszeiten meist von den Medienhäusern vorgeschrieben und genutzte Arbeitsmittel wie Tontechnik bereitgestellt werden. Dabei nennt die Deutsche Rentenversicherung, die die Arbeitsverhältnisse Selbständiger auf Scheinselbstständigkeit prüft, unter anderem die Verpflichtung, Arbeitszeiten einzuhalten und bestimmte Hard- und Software zu benutzen, als Merkmale für Scheinselbstständigkeit. Bernd Ziegler sagt hierzu: „der WDR entledigt sich seiner sozialen Verantwortung.“ Weitere Kriterien die laut der Deutschen Rentenversicherung für eine Scheinselbstständigkeit sprechen sind die uneingeschränkte Pflicht allen Weisungen des Auftraggebers Folge zu leisten, die Verpflichtung dem Auftraggeber regelmäßig in kurzen Abständen detaillierte Berichte zukommen zu lassen und die Verpflichtung in den Räumen des Auftraggebers oder an von ihm bestimmten Orten zu arbeiten.
Selbstständige Medienschaffende sind über die Künstlersozialkasse (KSK) versichert. Sie bezahlen einen von ihrem Einkommen abhängigen Beitrag an die KSK, der dann „vergleichbar mit einem Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnis“ an die zuständigen Träger, also Renten-, Kranken-, und Pflegeversicherung, weitergeleitet wird. Medienhäusern, die freie Mitarbeiter beschäftigen sparen somit Sozialabgaben, was laut Kritikern einem Sozialbetrug gleichkommt. Tatsächlich ist auf der Website der KSK nachzulesen, dass die Kasse zu 60% aus Sozialabgaben von Unternehmen und zu 40% vom Bund finanziert wird.
Am 01.Juni 2016 hat das Bundeskabinett den Gesetzentwurf zur Regulierung von Werkverträgen und Leiharbeit verabschiedet, der sich gegen Missbrauch von Werkverträgen richtet. Der neue Paragraf im BGB soll die Abgrenzung von Scheinselbstständigkeit gegenüber „echter“ Selbständigkeit regeln. Andrea Nahles, die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, schreibt auf ihrer Website (andrea-nahles.de): „[d]er Kabinettsbeschluss zu Leiharbeit und Werkverträgen hat drei zentrale Ziele: erstens sorgen wir dafür, dass gute Arbeit auch fair bezahlt wird. Zweitens schieben wir dem Missbrauch bei Leiharbeit und Werkverträgen einen Riegel vor. Und drittens erhalten Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Möglichkeit, die Bedingungen für mehr Flexibilität und Sicherheit auszuhandeln. Wer mehr Flexibilität will, muss mehr Sicherheit bieten, damit stärken wir die Sozialpartnerschaft. Das macht die Sozialpartner gemeinsam stark.“ Verdi begrüßt diesen Beschluss, „da dieser die Feststellung des Status erleichtern wird“, sagt Bernd Ziegler.

Relevanz:

Die KSK meldet für Anfang 2016 einen Versichertenstand auf Bundesebene von 43.094 Publizisten, davon sind knapp die Hälfte 21.157 selbstständige Journalisten und Redakteure. Aufgrund der Aussagen von Bernd Ziegler von Verdi und Frank Überall, dem Vorsitzenden des Deutschen Journalisten Verbandes, ist davon auszugehen, dass ein Großteil der selbständigen Publizisten von der Scheinselbstständigkeit betroffen ist. Dazu kommt die große Zahl freier Kameraleute, Techniker und Cutter.
In dem Artikel „die Leiharbeit des Journalismus“ auf taz.de (Anne Fromm, 06.07.2015) beschreibt eine ehemalige Spiegel-Online Pauschalistin die Situation freier Mitarbeiter von Spiegel-Online, die auf Grund einer neu eingeführten Regelung des Hauses nach zwei Jahren alle entlassen wurden und sich aus Angst vor Rufschädigung nicht gewehrt haben. Betroffene, die über ihr Schicksal sprechen werden von den Medienhäusern ungern gesehen. Deshalb ist es wichtig, dass unabhängig über das Thema berichtet wird.

Vernachlässigung:

Die Medienlandschaft meidet das Thema „Scheinselbstständigkeit unter Journalisten und Medienschaffenden.“ Die Scheinselbständigkeit von Medienschaffenden wurde hinsichtlich Entlassungen, verschiedener Verfahren gegen Medienhäuser und durchgeführten Razzien in Verlagshäusern thematisiert. So berichtet die Zeitung Freitag über Entlassungen festangestellter Mitarbeiter im Hause Gruner + Jahr, deren Stellen durch freie Mitarbeiter ersetzt werden („Nullen und Nadelstreiten“, 06.11.14) und die taz über eine durchgeführte Razzia wegen des Verdachts des Vorenthaltens von Sozialbeiträgen beim Kölner Stadtanzeiger („Die Leiharbeiter des Journalismus“, 06.07.2015). In diesem Jahr berichtete die taz ebenfalls über Gruner + Jahr und thematisierte deren Versuch, eine Lösung für freie Mitarbeiter zu finden, die unter dem Verdacht der Scheinselbstständigkeit stehen („Gruner + Jahr tut sich schwer“, 29.01.2016). Der Einreicher schreibt in seinem Internetblog www.derpodcast.de in der Rubrik „Arbeitskampf im SWR“ über seine persönlichen Erfahrungen, die er als „arbeitnehmerähnlicher Unternehmer“ beim SWR gemacht hat und sein andauernde gerichtliche Auseinandersetzung mit dem SWR und der Deutschen Rentenversicherung. Die wenigen Berichte stehen in keinem Verhältnis zu der Breite der Thematik.

Quellen:

– persönliches Gespräch mit Prof. Dr. Frank Überall, Vorsitzender des DJV, am 8.07.2016
– Telefonat mit Bernd Ziegler, Mitarbeiter Verdi, am 11.07.2016.
– Telefonat mit freier Mitarbeiterin WDR (Anonym), am 06.07.2016
– Telefonat mit Mitarbeiter Heinz Kissler der KSK, am 08.07.2016

– Anne Fromm, 06.07.2015, Taz.de: „Die Leiharbeit des Journalismus“, Beschreibung des Vorgehens
verschiedener Verlage bei der Umgehung von Festanstellungsansprüchen, http://www.taz.de/!5210276/
– Martin Kissel, „Arbeitskampf im SWR“, http://derpodcast.de/wp/?p=1465
– Andrea Nahles, ohne Datum, Statement zum Kabinettbeschluss vom 01.06.2016,
http://www.andrea-nahles.de/page/3/ [Abrufdatum: 01.07.2016]

Kommentar:

„.. der WDR entledigt sich seiner sozialen Verantwortung […]aber die öffentlich rechtlichen sind da noch relativ sauber. Richtige Probleme haben wir mit den großen privaten Rundfunkanstalten, Zeitungshäusern und Werbeagenturen“ (Bernd Ziegler, Mitarbeiter Verdi).

„Durch die starke Abhängigkeit von Redakteuren oder Produktionen steht man enorm unter Druck, deshalb leiden auch sehr viele in unserer Brache an Burnout“ (Freie Mitarbeiterin des WDR).