US-Journalismus mit Daten und Statistiken: Wenn Zahlen die Geschichte erzählen

Recherche mit dem Computer und dem Internet ist für Journalisten Routine. Eine Routine, die meist Google dominiert und oberflächlich bleibt. Dabei geht es auch anders. In den USA durchforsten Journalisten Statistiken und Datenbanken und werten sie aus. „Computer-Assisted Reporting“ (CAR) nennt sich das und ist wesentlicher Bestandteil amerikanischer Recherche.

Es war eine außergewöhnliche Leistung von Bill Dedman. Der Reporter des Atlanta Journal-Constitution hatte jeden einzelnen Kredit von 88 Banken für einen Hauskauf oder Renovierung in der Stadt zwischen 1981 und 1986 gesammelt und analysiert. Er glich sie mit demografischen Angaben aus Volkszählungen ab, studierte den Immobilienmarkt, sprach mit Bankern, Maklern und Nachbarschaftsgruppen.

Rassistische Kreditvergabe entlarvt

Seine Recherche ergab, dass die Banken ihre Kredite rassistisch vergaben: nach Hautfarbe. Schwarze erhielten viel seltener einen Kredit als Weiße, sie wurden systematisch benachteiligt. Die Serie von 1989 mit dem Titel „The Color of Money” führte zu einer Zusage von 65 Millionen Dollar an günstigen Krediten für benachteiligte Viertel. Dedman erhielt den renommierten Pulitzer-Preis, andere Journalisten untersuchten die Vergabe in ihren Städten.

Präzision oder Pseudorecherche?

Die Serie gilt als Inbegriff für Computer-Assisted Reporting. „Durch sie wurden Newsrooms auf CAR aufmerksam“ schrieb unlängst Aron Pilhofer von der New York Time in seinem Blog. Manche nennen es auch Präzisionsjournalismus. Kritiker halten es für billige Pseudorecherche. Dabei gibt es sogar spezielle Abteilungen und ausschließlich für CAR zuständige Reporter. Die Vereinigung der investigativen Journalisten hatte kurz nach Erscheinen von Dedmans Geschichte das „National Institute for Computer-Assisted Reporting“ (NICAR) eingerichtet. „Unsere Seminare und Schulungen sind immer voll”, sagt NICAR-Mitglied David Herzog, der auch Professor an der Missouri School of Journalism ist. Auch seine Studenten seien sehr interessiert.

CAR bedeutet, dass Journalisten sozialwissenschaftliche Methoden und Datenanalyse für ihre Recherchen anwenden. Sie werten offizielle Statistiken aus oder stellen sie selbst zusammen. Spezielle Software sei dafür nicht nötig, so David Herzog: „Es reicht ein Web Browser, ein Programm zur Tabellenkalkulation und eine Datenbanksoftware. Die meisten Redaktionen nutzen einfache Programme, wie Excel und Access oder Open SourceSoftware.“ Die Technik sei jedoch nicht das Entscheidende. Viel wichtiger sei, dass man kritisch mit den Daten umgehen könne. Das meint auch Melisma Cox von der Universität Miami in einem Aufsatz: „Die grundsätzlichen Fähigkeiten zur kritischen Analyse sind ohnehin Teil des Journalismus. Mit CAR kam einfach die Technologie hinzu.“

Pulitzer Preis

Seit Bill Dedmans Serie haben auf CAR basierte Artikel nahezu jährlich einen Pulitzer-Preis gewonnen. Die verbesserte technische Entwicklung tut ihr übrigens. Die Pioniere vom Fernsehsender CBS arbeiteten 1952 noch mit Lochkarten, um Umfragen zur Präsidentenwahl auszuwerten. Die Ergebnisse wurden übrigens nicht veröffentlicht – die Redaktion traute ihnen nicht.

Seitdem wurden die Dimensionen größer und professioneller. Schon 1997 untersuchte etwa die New York Times 30 Millionen Rechnungen für Medikamente und deckte die Steuerhinterziehung eines Großproduzenten auf. Nach der Veröffentlichung ermittelte das FBI. Heute können grafische Tools Daten auf Landkarten dargestellen. Bill Dedman könnte die rassistische Kreditvergabe in Atlanta inzwischen optisch auswerten und präsentieren.

Aufwändige Beschaffung von Material

Nicht leichter geworden ist laut Journalistik-Professor David Herzog jedoch das Sammeln der Daten: „Manche Institutionen veröffentlichen ihre Statistiken auf ihren Websites, von wo man sie einfach herunterladen kann. Andere versuchen das mit technischen Tricks zu verhindern.“ Ohnehin sei das meiste nicht online zu finden, sondern nur auf Computern in Büros gespeichert. Einige Ämter verweigern die Auskunft mit dem Hinweis, der technische Aufwand sei zu groß. „Dann müssen die Journalisten zum Beispiel mit dem Freedom of Information Act argumentieren. Oder dem entsprechenden Gesetz eines Bundesstaates”, sagt Herzog. Die entscheidende Frage sei immer, ob Aufwand und Kosten gerechtfertigt seien: „Da entstehen regelrechten Daten-Verhandlungen.” Ein langer Atem ist notwendig, manche Anfragen würden Wochen oder Monate dauern.

Online-Portal für Recherchen

Im Mai startete Präsident Obama darum ein neues Portal im Internet: Data.gov soll nutzerfreundlich und übersichtlich offizielle Statistiken anbieten. „Das Goldene Zeitalter des Daten-Journalismus” titelte Kevin Anderson vom englischen Guardian in seinem Blog. Um einige Absätze später von der ersten Enttäuschung zu berichten: Bei der Einweihung von Data.gov waren ganze 47 eher unspektakuläre Daten online, etwa vom Nationalen Wetterservice. „Data.gov geht noch nicht weit genug. Das meiste davon gibt es bereits online. Viel wichtiger ist das, was noch nicht im Internet vorhanden ist“, sagt David Herzog.

Trotz derartiger Hürden: CAR ist weit davon entfernt, seine Bedeutung zu verlieren. Im Gegenteil. George Kennedy und Daryl Moen von der School of Journalism der University of Missouri–Columbia schrieben 2007 in ihrem Buch „What good is journalism?“, dass viele Medien zwar ihre Newsrooms verkleinert, aber nicht aufgehört hätten, in CAR zu investieren. Auch David Herzog sieht noch Potential. Vorstellbar sei zum Beispiel, dass ein Programm Textdateien nach Daten durchsuche und diese filtere.

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