Es ist etwas Eigentümliches mit der Erinnerungskultur in den deutschen Medien: Mal wird regelrecht Erinnerungsexzess betrieben und die Medien überschlagen sich vor lauter Veröffentlichungsfuror über historische Themen – da reichen nicht Dossiers und Leitartikel, da gibt es noch die Dokumentation sowie die mehrteilige Spielfilmreihe im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, garniert mit der ein oder anderen Talkshow, so dass es auch dem historisch stark interessierten Zuschauer irgendwann Zuviel wird. Ein anderes Mal wird ein welthistorisches Ereignis bzw. die Erinnerung daran aber auch einfach übergangen.
Ein solcher Erinnerungstermin war in dieser Woche: Zum immerhin 100. Mal jährte sich der Jahrestag der russischen Oktoberrevolution, die wegen des in Russland geltenden Julianischen Kalenders nach unserer Zeitrechnung am 7. November 1917 in St. Petersburg stattfand. In der deutschen Presse kam dieses Ereignis — gemessen an anderen historischen Jubiläen wie dem Beginn des ersten Weltkriegs, 25 Jahre Wiedervereinigung oder 50 Jahre deutsches Farbfernsehen — kaum vor. Immerhin ließ die bürgerlich-konservative F.A.Z. den renommierten Ost-Europa-Historiker Manfred Hildermeier über „Lenins Verachtung für das Spießergerede“ schreiben. Die alternative taz hatte zum Jubiläum ein schönes Stück Pressegeschichte über die kommunistische Parteizeitung Prawda, die seit der Oktoberrevolution 1917 bis heute durchgehend erscheint (mit denselben „Produktionmitteln“, wie man ironisch anmerkt). Und die Süddeutsche Zeitung ließ in einem ausführlichen Gastbeitrag Gerd Koenen, einen versierten Kenner der Geschichte der linken Bewegungen im 20. Jahrhundert, zu Wort kommen.
Ansonsten sind aber vor allem die Leerstellen interessant. Am perfidesten ist hier wohl das WDR-Zeitzeichen vorgegangen. Mit einem Akt von Kommunikationsguerilla hat man am Jahrestag selbst nicht der Oktoberrevolution, sondern dem Todestag der amerikanischen Präsidentengattin Eleanor Roosevelt gedacht (vor 55 Jahren!). Garniert wurde der Gedenktag am 6.11. von einem Stück über Gustav Adolf von Schweden (Todestag vor 385 Jahren!) und am 8.11. einem Beitrag über die Gründung des Deutschen Werberats (vor 45 Jahren!). Der 100. Jahrestag der kommunistischen Revolution wird vom Erzfeind USA überstrahlt, flankiert vom europäischen Hochadel und dem konsumistischen Ausbund des Kapitalismus: Noch feiner kann man historische Ironie nicht mit Tagesberichterstattung verweben!
Dass die kommunistische Oktoberrevolution den Gang des 20. Jahrhunderts auf massive Weise beeinflusst hat, steht außer Frage. Aber die Niederringung des Ostblock-Systems muss offenbar am historischen Jahrestag durch Ignoranz und journalistische Vernachlässigung noch einmal nachexerziert werden. Dabei könnte es durchaus sinnvoll und historisch gewinnbringend sein, an die Hoffnungen und massiven Enttäuschungen, an die Illusionen und die Desillusionierten des Weltkommunismus noch einmal zu erinnern.
Hektor Haarkötter
(geschäftsführender Vorstand der INA)
Zu obiger Kritik liessen sich zumindest zwei Dinge ergänzen. Zum einen hat die „Junge Welt“ recht ausführlich über das Jubiläum „100 Jahre Oktoberrevolution“ berichtet. Zum anderen steht in der „Subheadline“ eines Artikels der „Jungen Welt“, dass es selbst in Russland keine offiziellen Veranstaltungen zu diesem Jubiläum gegeben hat. Nur einige zehntausende Bürger gedachten bei einer Demonstration diesem Jubiläum. Da ist es nicht verwunderlich, wenn deutsche Medien dieses Ereignis nicht übermässig interessierte.