Top Ten der vernachlässigten Nachrichten 2016

Foto: Birgit H./Pixelio
Foto: Birgit H./Pixelio

Die Jury der Initiative Nachrichtenaufklärung e. V. präsentiert jährlich zehn Nachrichten oder Themen, die in der medialen Berichterstattung zu kurz gekommen sind. Es handelt sich um Themen, die für die deutsche Öffentlichkeit relevant sind, über die aber bislang in Presse, Funk, Fernsehen und Internet kaum Debatten geführt werden. Hier können Sie einen eigenen Themen-Vorschlag einreichen. Die Top Ten des Jahres 2016 wurden am 17. Februar im Deutschlandfunk in Köln vorgestellt. Die Präsentation können Sie auch als Multimedia-Reportage auf den Internet-Seiten des Deutschlandfunks ansehen.

Top 1: Finanzierung von Atomwaffen

Deutsche Finanzinstitute stehen in Geschäftsbeziehung zu den größten Konzernen, die Atomwaffen entwickeln, herstellen und warten. Banken und Versicherungen nehmen dadurch in Kauf, dass sie laufende Modernisierungsprogramme für Nuklearwaffen fördern. Eine im Jahr 2015 erschienene internationale Studie zur Finanzierung der atomaren Rüstung nennt zehn deutsche Finanzinstitute, die in Milliardenhöhe in entsprechende Unternehmen investiert haben. Aus Firmen, die auch Streumunition oder Landminen herstellen, haben sich viele Investoren inzwischen zurückgezogen. Für Atomwaffen gilt das bisher oft noch nicht. Über die zitierte Studie und die Fragen, die sich daraus ergeben, wurde in Deutschland kaum berichtet.

Top 2: EU und Euratom: Verpflichtet, die Kernkraft zu fördern

Der Euratom-Vertrag ist ein Fossil: Er wurde 1957 unterzeichnet und hat seitdem keinerlei Reformen erfahren. Recherchen zeigen, dass die Strukturen von Euratom ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden. Deutschland leistet nach wie vor Zahlungen an das Bündnis, dessen erklärtes Ziel ist, die Atomindustrie aufzubauen und zu entwickeln – trotz des beschlossenen Atomausstiegs. Ein klassisches Beispiel für ein langfristig relevantes, aber vernachlässigtes Thema.

Top 3: K.O.-Tropfen: Lieferung frei Haus und legal 

Lieferung K.O.-Tropfen (Foto: INA)
Lieferung K.O.-Tropfen (Foto: INA)

Sogenannte K.O.-Tropfen können kinderleicht und ganz legal auch in erheblichen Mengen übers Internet per Post bestellt werden. K.O.-Tropfen sind auch als „Liquid Ecstasy“ bekannt, gelten als Vergewaltigungsdroge und werden meist in Diskotheken, auf Partys oder in Bars in offene Getränke gemischt. Die Opfer werden so betäubt und anschließend ausgeraubt oder vergewaltigt. Deutsche Medien berichten zwar immer wieder reißerisch über den Einsatz von K.O.-Tropfen, dass sie aber völlig legal in Deutschland erhältlich sind, ist der Öffentlichkeit nicht bekannt. Rechercheure der INA haben den Test gemacht und die Lieferung dokumentiert.

Top 4: Der Xerox-Kopierer: Kopierer tauschen Zahlen

Der deutsche Informatiker David Kriesel entdeckte 2013, dass Xerox-Scankopierer bestimmter Baureihen beim Scannen von Dokumenten Zahlen vertauschen. Xerox hat den Fehler später eingeräumt und stellt inzwischen ein Update bereit, um ihn zu beheben. Der Weltmarktführer hat seine Kunden jedoch nicht direkt kontaktiert, so dass heute niemand wissen kann, wie viele Geräte immer noch fehlerhaft arbeiten – und wie viele falsche Dokumente noch in Archiven liegen. In amerikanischen Medien wurde relativ breit über den Xerox-Bug berichtet, in deutschen dagegen nur wenig. Angesichts des Trends zur Digitalisierung von Datenbeständen aller Art stellen sich hier Fragen, die über den konkreten Fall hinausgehen.

Top 5: Handybetrug: Wer verdient am WAP-Billing?

Foto: Trampert/Pixelio
Foto: Trampert/Pixelio

Jeder Smartphone-Besitzer kann auf seiner Telefonrechnung plötzlich zehn oder 20 Euro zusätzlich entdecken: Nur durch unabsichtliches Anklicken eines manipulierten Werbebanners. Wer das mobile Bezahlen mit dem Handy nicht extra durch eine sogenannte Drittanbietersperre einschränken lässt, ist dieser Gefahr ausgesetzt. Alle großen Mobilfunkanbieter wissen von diesem Problem – und verdienen auch daran mit. Die Masche läuft schon seit acht bis zehn Jahren. Medien haben auch schon häufiger darüber berichtet, aber bisher wurde kaum der Frage nachgegangen, wer die Kriminellen sind, die diesen Betrug über ein großes Netz an Scheinfirmen aufziehen. Die INA hat recherchiert – und ruft Journalisten auf, den Hinweisen nachzugehen.

Top 6: Simulierte Videoüberwachung : Wenn der Betriebsrat nichts zu melden hat

Foto: Hauk/Pixelio
Foto: Hauk/Pixelio

Niemand fühlt sich gerne überwacht – auch nicht am Arbeitsplatz. Der Beobachtung von Mitarbeitern mit Überwachungskameras sind deshalb enge Grenzen gesetzt. Diese gelten aber nicht, wenn es sich nur um Kamera-Attrappen handelt. Laut einer Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern ist für den Einsatz von Attrappen keine Zustimmung des Betriebsrats erforderlich. Diese Gerichtsentscheidung vom November 2014 wirft die Frage auf, inwieweit Rechte des Betriebsrats und der Mitarbeiter berührt werden, auch wenn sie die Überwachung nur vermuten oder befürchten müssen. Die Datenschutzgesetze der einzelnen Bundesländer sind in dieser Hinsicht sehr unterschiedlich. Über das Urteil und seine Folgen wurde nur unzureichend berichtet.

Top 7: Arbeitsbedingungen zu selten ein Thema

Die Wirtschaftsteile deutscher Zeitungen – langweilige Satzschachteln für Experten oder verbraucherorientierte Aufklärung? Während Unternehmensporträts, die Fieberkurven der weltweiten Börsenplätze und die bunte Konsumwelt breiten Niederschlag im Wirtschaftsjournalismus zu finden scheinen, sind Berichte aus der Arbeitswelt deutlich seltener. Außerhalb der großen Tarifauseinandersetzungen werden die Arbeitsbedingungen journalistisch kaum thematisiert. Rechercheure der INA haben diese These mit einer Inhaltsanalyse geprüft.

Top 8: „Betonspritzen“ in der Psychiatrie

Ehemalige Mitarbeiter und Patienten aus psychiatrischen Kliniken berichten von einer medikamentösen Ruhigstellung mit der so genannten “Betonspritze”. Diese werde auch gegen den Willen der Patienten verabreicht und könne schwere und langandauernde Nebenwirkungen haben. Die Betroffenen berichten von ihren konkreten Einzelfällen und vermuten dahinter zugleich ein strukturelles Problem. Abgeschlossene Bereiche wie die Psychiatrie sind generell nur schwer für Recherchen zugänglich. Die INA hat mit Betroffenen gesprochen und fordert Journalisten auf, diesen Berichten nachzugehen.

Top 9:  Mangelernährung bei Krebs: Krankenhäuser könnten mehr tun

Über 50.000 Krebspatienten sterben jedes Jahr an Mangelernährung, dennoch verfügen in Deutschland nur vier Prozent aller Krankenhäuser über ein Ernährungsteam. In anderen Ländern, zum Beispiel in Großbritannien, gehört ein Screening auf Mangelernährung bei der Aufnahme ins Krankenhaus zur Pflichtuntersuchung. Deutschland hinkt in diesem Bereich hinterher. Die Bedeutsamkeit der Ernährung für den Erfolg der Behandlung ist vielen nicht bewusst. In den Medien wird immer wieder über Einzelfälle berichtet. Über Möglichkeiten, dieses Risiko zu senken, gibt es bisher jedoch keine Debatte.

Top 10: Polizeigewalt: Ein Fall aus Köln

Übertriebene Härte bei Polizeieinsätzen, auch bei kleineren Delikten, ist immer wieder ein Thema. Betroffene werfen den Polizisten auch Formen von Selbstjustiz vor. Eine juristische Verfolgung ist aus strukturellen Gründen schwierig. Auch in den Fällen, die öffentlich werden, folgt nur selten eine Verurteilung. Die INA ist einem drastischen Fall aus Köln nachgegangen, in dem ein Opfer von Polizeigewalt sich juristisch gewehrt hat. Über die Geschehnisse haben lokale Medien berichtet, überregional könnten sie jedoch stärker beachtet werden.

8 Kommentare zu Top Ten der vernachlässigten Nachrichten 2016

  1. In der Plattform gegen Atomgefahren Salzburg (PLAGE) sind wir ausgesprochen erbaut, dass Sie mit der Top Ten Liste die fast gänzlich fehlende EURATOM-Berichterstattung problematisieren! (Immerhin ein Lichtblick, dass der Deutschlandfunk diese Top Ten Liste aufgreift.)
    Dass in Österreich einige Gruppen seit langem ziemlich intensive Arbeit zu EURATOM betreiben, ist manchen Ihrer Leser/innen vielleicht bekannt. Die PLAGE konzentriert sich dabei seit Fukushima auf einen EURATOM-kritischen Schulterschluß zwischen Ö und D. Wir haben inzwischen mit nicht wenigen deutschen Organisationen und Akteur/inn/en der „Szene“ Verbindung hergestellt, v.a. über ein EURATOM-MANIFEST, das wir unter Begutachtung von Lutz MEZ (FU Berlin) und dem Ko-Autor des EEG im Bundestag, Hans-Josef FELL, formuliert haben. Dieses erfüllt mehrere Zwecke zugleich:
    -Verbreitung einer gemeinsamen Mindest-Basis an Wissen über EURATOM (die dichtestmögliche Information auf 2 Seiten);
    -Schaffung eines breiteren Problembewußtseins und der Motivation, dieses Problem aktiv anzugehen: EURATOM unterläuft auf vielfache Weise sowohl den deutschen Atomausstieg als auch Österreichs „Atomfrei“-Status!
    -Das Manifest ist ein erstes poitisches Instrument „von unten“, um die EURATOM-Kritik in Deutschland breiter voranzubringen: Um das Manifest herum erfolgt ein gewisser Zusammenschluß der interessierten Gruppen und Organisationen; sobald ein Großteil der Antiatomszene und der bewegenden Personen hinter dem Manifest stehen, kann es in eine breitere Öffentlichkeit getragen werden: Medien, Parteien usw.);
    -andere Instrumente lassen sich darauf aufbauen: regionale und/oder bundesweite Konferenzen zu vertiefter Information über EURATOM und zur Entwicklung politischer Initiativen, Kampagnen; Herstellung gemeinsamer Info- und Aktionsmaterialien…

    Ein solches weiteres Instrument gibt es übrigens demnächst: Anfang März bringt die PLAGE unter dem Titel EURATOM WATCH die erste Ausgabe eines ständigen Newsletters heraus. Wer ihn erhalten möchte, kann ihn per Mail bei julia.bohnert@plage.cc bestellen. Siehe auch die Hompage http://www.plage.cc.

    EURATOM, die Privilegienfestung der europäischen Atomindustrie, gehört endlich nachhaltig angegangen!

    Heinz Stockinger,
    Plattform gegen Atomgefahren (PLAGE), Salzburg

    • Lieber Herr Stockinger,
      vielen Dank für Ihre Zuschrift. Ja, wir haben mitbekommen, dass in Österreich die Diskussion deutlich intensiver geführt wird als in Deutschland. Wollen wir hoffen, dass die deutschen Medien dieses Thema jetzt auch aufgreifen.
      Mit freundlichen Grüßen,
      Hektor Haarkötter (INA-Vorstand)

  2. Ich, zwar eifriger Hörer, habe erst heute vom DFunk von dieser Initiative gehört. Schade. Ein paar Tage eher hätte ich den Link, den ich jetzt rundum sende, wirkungsvoller an Sie gerichtet. Vom eineinhalbstündigen Film gibt es die 7-minütige drastische Übersicht über die Auswüchse (leider wörtlich) der Anwendung der hier auch genannten Kernkraft. Einen Weg – der menschenverachtendste! -, den Uranabfall zu entsorgen, zeigt die Dokumentation von Frieder Wagner und (über) Prof. Günther
    deadly dust – tödlicher Staub: weg mit depleted uranium.

    Ein „Hoch!“ auf youtube – aber alle anderen Medien verschweigen es – besonders den Sardinien-Touristen. Ich stand wie angewurzelt abends an der Ostküste als in Richtung Salto die Quirrha die Schüsse losgingen und der Himmel rosa wurde. Man sagte „Gewitter“. Ich wusste, dass die Miete für eine Stunde Schießen auf dem NATO-Scießplatz 50 000 Euro beträgt. Ich kann nicht ausdrücken, was jeder in dem kleinen Film sehen kann und worüber im großen Stil berichtet werden müsste.

    Es grüßt eine Mutter, die ihren Sohn als Soldaten verlor

    „Hinterlasse“ ohne e, denn „lasse das“ klingt eher nach Goethes Zeiten

    • Liebe Frau Galle,
      danke für Ihre Zuschrift. DU war vor einigen Jahren ja mal großes Thema in den Medien. Aber Sie haben recht, darum ist es ziemlich ruhig geworden. Ich kann das Thema ja mal an unsere Rechercheteams geben.
      Mit freundlichem ruß,
      Hektor Haarkötter (INA-Vorstand)

  3. zu Top 9:
    Der Artikel ist mir offen gesagt zu reißerisch. Es ist allgemein bekannt, dass Krebspatienten stark abnehmen (vermutlich haben deshalb die weniger drahtigen Patienten höhere Überlebenschancen). Formulierungen wie „der unaufgeklärte Patient ist den Ärzten ausgeliefert“ unterstellen den Patienten Blödheit (wer eine Krebsdiagnose bekommen hat, wird ja wohl motiviert sein, ein wenig zu recherchieren) und den Ärzten Nachlässigkeit oder sogar bösen Willen.
    Das passt aber gut zum Zeitgeist: Egal ob beim Rauchen, bei Bankberatern oder im Krankenhaus: Der einzelne ist offensichtlich zu blöd, um für sich selbst Verantwortung zu tragen. Für eine Schadenersatzklage reicht es aber dann doch.

    • Lieber Herr Niebergall,
      vielen Dank für ihre Zuschrift. Nein, wir unterstellen niemandem „Blödheit“. Uns geht es darum, relevante Themen zu benennen, über die zu wenig berichtet wird. Und das scheint uns bei der „Mangelernährung“ der Fall zu sein. Übrigens haben wir Informationen, dass auch Menschen mit Adipositas im Krebsfall an Mangelernährung versterben. Insofern ist Ihre Bemerkung mit den „höheren Überlebenschancen“ nicht ganz richtig. Außerdem weisen wir darauf hin, dass es in Deutschland anders als in Nachbarländern keine systematische Ernährungsberatung in Kliniken gibt. Das scheint uns nach wie vor ein Missstand.
      Bleiben Sie uns trotzdem gewogen.
      Mit freundlichen Grüßen,
      Hektor Haarkötter (INA-Vorstand)

  4. Liebe Redaktion,
    euer Beitrag ist eine Erhellung des tristen Medieneinerleis. Hut ab. Rechtschreibfehler unter Punkt 4 (Authentizität) bitte korrigieren.
    Gruß
    Jens Speckenbach

    • Danke für die warmen Worte. Und auch für den Hinweis — so etwas kommt in der Eile eben mal vor.
      Mit freundlichem Gruß, Hektor Haarkötter (INA Vorstand)

7 Trackbacks & Pingbacks

  1. Jonet Das Journalistennetz. Seit 1994. » Medienlog 19. Februar 2016
  2. atomstopp: In dieser Presseaussendung geht es nicht um EURATOM!  | Mütter gegen Atomgefahr
  3. Top Ten der vernachlässigten Nachrichten 2016 | VAB – Virtuelle Allgemeinbibliothek
  4. Masters of the Cyberspace
  5. Warum den Medien nicht zu trauen ist | NachDenkSeiten – Die kritische Website
  6. atomstopp: EURATOM laut Medienkritiker eines der bestverdrängten Themen | Mütter gegen Atomgefahr
  7. Warum den Medien nicht zu trauen ist | Duisburger Netzwerk gegen Rechts

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*