Aus Zahlen, Tabellen und Datenbanken Nachrichten machen – Computer Assisted Reporting (CAR) und Datenjournalismus ermöglichen nicht nur exklusive Geschichten sondern auch unabhängigeres Recherchieren. In Deutschland ist die CAR-Recherche trotz ihres Potentials bisher kaum verbreitet. Dabei ist sie gar nicht schwer.Anfang 2010 führte die gerade ins Amt gewählte schwarz-gelbe Bundesregierung die so genannte Hotelsteuer ein. Besonders auf Betreiben der CSU wurde die Mehrwertsteuer auf Hotelübernachtungen bundesweit von 19 auf 7 Prozent gesenkt. Die Konsequenz: mehr finanzielle Freiheiten für deutsche Hoteliers und der Vorwurf der Opposition an Union und FDP, sie betrieben Klientelpolitik. Ein begründeter Vorwurf?
Ein Blick in Datenbanken und Statistiken bringt Interessantes zu Tage, wie das Team von „RegioData“ der Deutschen Presse-Agentur (dpa) recherchiert hat: tatsächlich profitiert in keinem Bundesland die Hotel-Branche so sehr von dem verminderten Mehrwertsteuersatz wie im CSU-Land Bayern. Jede fünfte Gästeübernachtung in Deutschland entfällt auf ein Hotel oder eine Pension im Freistaat. Und mit über 75 Millionen Übernachtungen im Jahr 2008 steht Bayern im Ländervergleich unangefochten auf Platz eins.
Kein Beweis für Klientelpolitik, aber die Zahlen erlauben den Schluss, dass vor allem CSU-Wählerklientel von der „Hotelsteuer“ profitiert – und das ist definitiv eine Nachricht wert. „Die Daten zu den Hotelübernachtungen stammen vom statistischen Bundesamt und waren sehr einfach auszuwerten“, berichtet Christina Elmer, Datenjournalistin bei der dpa. Aus Datenbanken, Tabellen und Zahlen Nachrichten zu machen, gehört zu ihrem Tagesgeschäft.
Datenjournalismus ist eine Form der computergestützten Recherche (Computer Assisted Reporting – CAR). „Bei CAR geht es darum, mithilfe von Computern im Netz nach bestimmten Daten zu suchen“, erklärt Elmer. „Das geht von der einfachen Google-Suche bis zu aufwändig programmierter Hacker- und Robotersoftware, die auch Daten alter Internetseiten aufspüren kann.“ Doch auch ohne komplizierte Software ist erfolgreiche Datenrecherche möglich. Das Internet wimmelt nur so von Datenbanken und Dokumenten, die sich mit einfachen Programmen leicht auswerten lassen. Wie das Beispiel der Hotelübernachtungen zeigt, stecken in ihnen oftmals interessante Nachrichten.
Die journalistische Auswertung dieser Daten nennt sich Datenjournalismus. „Wer eigenständig in Datenbanken recherchiert, hat gute Chancen auf exklusive Geschichten“, erklärt die Journalistin. „Besonders im tagesaktuellen Journalismus wird diese Exklusivität immer wichtiger, um sich von der Konkurrenz abzuheben.“ Zwar habe man nach einer Datenbankrecherche keine fertige Geschichte, „aber einen guten Ansatz, von dem aus man weiter recherchieren kann.“
Und noch einen Vorteil bringt das eigenständige Recherchieren in Datenbanken mit sich, wie Christina Elmer erklärt: „Wenn man die Rohdaten selber hat, ist man unabhängig von denen, die die Daten auswerten.“ Eigene Datenanalyse ermöglicht dem Journalisten eigene Schlüsse, mit denen er die Auswerter konfrontieren kann. „Das verbessert die Stellung des Journalisten im Recherchegespräch.“
Wie wichtig Datenjournalismus im Computerzeitalter für den Berufstand des Journalisten ist, hat der amerikanische CAR-Journalist Brant Houston in seinem Buch „Computer-Assisted Reporting. A Practical Guide“ zusammengefasst: „Kein Journalistik-Student oder angehender Journalist sollte heute ohne Kenntnisse in computergestützter Recherche in den Beruf starten“, fordert er darin. Computergestützte Recherche ist für Houston mehr als das Beschaffen und Analysieren von Daten. Es fordere und fördere kritisches Denken und ermögliche dafür eine breitere Sicht auf Themen und ein tieferes Verständnis von Zusammenhängen.
„Ein Journalist, der eine Geschichte mit der Kenntnis aus Daten über 150.000 Gerichtsfälle beginnt, ist einem Journalisten, der nur ein paar Gerichtsfälle pro Woche sieht, weit voraus.“ Mehr inhaltliche Tiefe, mehr Fakten. Mehrmals bereits gingen Pulitzer-Preise an die Washington Post und Newsday für investigative Berichterstattung, für die die Preisträger CAR-Methoden eingesetzt hatten.
Trotz ihres Potentials sind CAR und Datenjournalismus bei deutschen Journalisten kaum verbreitet, sagt Christina Elmer von der dpa. „Die Datenkultur in Deutschland ist im Vergleich zu den USA noch nicht so weit“, glaubt sie. Auch wenn viele Daten auf Internetseiten statistischer Bundes- und Landesämter frei verfügbar seien, müssten andere Daten oftmals bei Behörden angefragt werden. „Die Behörden sind das aber überhaupt nicht gewöhnt.“ Häufig müsse man mit dem Verweis auf das Informationsfreiheitsgesetz die Herausgabe von Daten erzwingen. Je nach Bundesland und Behörde gelten andere Gesetze, was die Hürde bei der Datenbeschaffung erschwert.
Und auch ein kulturelles Problem vermutet Christina Elmer als Grund für den mangelnden Einsatz computergestützter Recherche in deutschen Redaktionen: „Viele Journalisten schreckt die Analyse von Daten ab, weil sie etwas mit Mathe zu tun hat.“ Hinzu kämen Probleme mit Computern und Tabellenkalkulationsprogrammen. Dabei reichen solche wie etwa „Excel“ von Microsoft oder das Gratis-Programm „Calc“ von OpenOffice bereits aus, um Daten erfolgreich und einfach zu analysieren. „Aufwändige und teure Programme sind nicht notwendig“, sagt Elmer. „Der allergrößte Teil lässt sich tatsächlich mit Tabellenkalkulationsprogrammen bewältigen.“ Und auch eine umfangreiche Ausbildung zum CAR-Journalisten sei nicht von Nöten. „Ein paar Tage Workshop reichen vollkommen aus.“
Trotzdem: CAR-Kenntnisse ersetzen keine journalistischen Grundfertigkeiten, wie der CAR-Pionier und Pulitzer-Preis-Gewinner Elliot Jaspin betont: „Computer verwandeln einen schlechten Journalisten nicht in einen guten. Sie machen einen guten Journalisten besser.“
Message-Werkstatt „CAR-Recherche“ (3/2006)
(http://www.message-online.com/werk.html)
Brant Houston: Computer-Assisted Reporting. A Practical Guide
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