2024: Top-Thema 09

Zwischen Bürokratie und Schule – Doppelbelastung von Kindern in migrantischen Familien

Abstract:

Sprachbarrieren und komplizierte bürokratische Prozesse erschweren es Migrantinnen und Migranten häufig, ihre Anliegen selbst zu bearbeiten. In vielen Fällen fungieren die Kinder der Familien als Übersetzer:innen, als Berater:innen oder als Arztbegleitung. Der Druck auf die Kinder ist hoch, oft leiden schulische und außerschulische Aktivitäten unter der hohen Verantwortung für die Familie. Migrationshelfer:innen und Ehrenamtliche bieten inzwischen Hilfeleistungen an, beispielsweise durch die Begleitung zu Terminen, Übersetzungsleistungen oder Hilfe beim Ausfüllen von Formularen. Die Unterstützung erreicht aber nur einen Bruchteil der betroffenen Familien, ein ganzheitlicher Lösungsansatz für das Problem fehlt.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Die deutsche Bürokratie ist eines der großen Leidthemen der Nation und Spielball bei nahezu jeder Bundestagswahl. Steuererklärung, Rentenbescheid, Wohnungsgeldbeantragung, BAföG, Baugenehmigungen – die Liste an Möglichkeiten, inmitten von Papierbergen die Nerven zu verlieren scheint in Deutschland schier endlos. Dabei stehen fast alle Betroffenen vor den gleichen Problemen: unendlich viele Anlaufstellen, verklausulierte Formulierungen und schwer verständliche administrative Anweisungen.

Die Hürden der Bürokratie steigen mit den Ausprägungen der Sprachbarrieren. Betroffene, die der deutschen Sprache gar nicht oder kaum mächtig sind, stehen vor einer schier unüberwindbaren Aufgabe, wenn es darum geht, Gelder zu beantragen oder Anträge bei den Krankenkassen auszufüllen. Muss schon ein/e Muttersprachler:in die Anleitung zum Ausfüllen von Anträgen mehrfach lesen, um sie zu verstehen, scheint die Aufgabe für eine Person mit minimalen Deutschkenntnissen nahezu unmöglich zu schaffen. Zur Hilfe geholt werden in vielen Fällen dann vertraute Personen, die der Herkunftssprache und der deutschen Sprache mächtig sind und beim Ausfüllen der Anträge, beim Nachtelefonieren für Informationen oder als Begleitung bei Terminen helfen. Meistens werden dafür die Kinder der Familien hinzugezogen. Die Kinder übernehmen in vielen Fällen die Aufgaben der Eltern und ersetzen einen professionellen Berater, der die Übernahme bürokratischer Angelegenheiten als Beruf erlernt und für diese Arbeit bezahlt wird. Neben der Hilfe in bürokratischen Prozessen, begleiten Kinder ihre Eltern oft zu Arztterminen oder auch zu Elternsprechtagen in die Schule, um dort als Übersetzungshilfe einen Termin überhaupt möglich zu machen. Serkan Özaltan, Fachreferent für Migrantenselbstorganisation beim Paritätischen Wohlfahrtsverband hat diese Aufgabe selbst jahrelang in seiner Familie übernommen und versucht nun, anderen Familien dabei zu helfen: „Das beobachte ich im Verein ständig, dass Kinder sie zu Behörden begleiten, Formulare ausfüllen müssen und so weiter und sofort. Kinder sind immer noch unentbehrlich bei Behördengängen und Bürokratischem.“.

Die Übernahme dieser Aufgaben für die Familie erfordern viel Zeit, die die Kinder für die schulische Ausbildung aber auch für die Ausübung von Hobbys benötigen. Die persönliche und schulische Leistungsentwicklung wird gehemmt oder erschwert und es kann auch dazu führen, dass sich die Kinder in ihren eigenen schulischen Ambitionen demotiviert fühlen. So kann den Kindern die Chance auf Bildung und späteren Wohlstand erschwert werden. Der Druck der Doppelbelastung, der psychische Druck, der aufkommt, wenn der Erfolg von Anträgen Einfluss auf das Wohlergehen der Familie hat, können ein weiterer Stressfaktor sein und zu einer starken Überforderung der Kinder führen.

Um das Leistungspotential von Kindern mit Migrationshintergrund unterstützen zu können, ist es wichtig, die Bedürfnisse und Herausforderungen der Kinder zu erkennen und den Familien Unterstützungssysteme bereitzustellen, die zu einer Entlastung führen. Ein erster Lösungsansatz ist hierfür die Einführung von Webseiten mit sogenannter leichter Sprache. Außerdem gibt es sogenannte Case Manager, Sprachmittlerinnen oder Dolmetscher, die von Hilfsorganisationen und Verbänden eingesetzt werden, um Abhilfe zu leisten. So übernehmen Ehrenamtler die Funktion der Kinder. Schulkurse, die sich mit den bürokratischen Prozessen in Deutschland auseinandersetzen, könnten darüber hinaus die betroffenen Kinder unterstützen. Diese Hilfen sind aber nicht ausreichend und erreichen noch nicht jede Familie, außerdem fußen sie stark auf dem ehrenamtlichen Engagement einzelner Personen oder Organisationen.

Relevanz:

In Deutschland leben mehr als 22 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. 40 Prozent aller Kinder in Deutschland stammen aus migrantischen Familien. Dazu kommt die Zahl der geflüchteten Familien, deren Kinder oft als Erste oder Einzige die deutsche Sprache sprechen können und die sich besonders vielen bürokratischen Prozessen ausgesetzt sehen. Auch wenn Lösungsansätze zur Unterstützung bei eben solchen Prozessen existieren, reichen diese sowohl qualitativ als auch quantitativ nicht, um die Vielzahl von betroffenen Familien durch den Bürokratie-Dschungel Deutschland zu begleiten. Die psychologischen Auswirkungen einer solchen Belastung auf die Kinder kann Integrationsbemühungen erschweren. Auch die Konsequenzen für die schulischen Leistungen und damit verbunden auf die spätere berufliche Laufbahn müssen betrachtet werden. Auch wenn der Druck und die Übernahme wichtiger Aufgaben für die Familie bei manchen Kindern zu mehr Selbstständigkeit und einem besseren Verständnis für bürokratische Prozesse und Integrationshilfen führen kann, wird eine Vielzahl der Kinder mit dem Druck nicht umgehen können. Organisationen, die diese Aufgaben übernehmen und die Last der Kinder tragen, müssen ausgebaut werden und die Unterstützung von Maßnahmen in der Integrationsarbeit für Erwachsene müssen weiter diskutiert werden. Eine Strategie mit dem Ziel des Abbaus von Sprachbarrieren bei gleichzeitigem Abbau der Bürokratie könnte entzerrend sein.

Vernachlässigung:

Die Forderung nach einem Bürokratieabbau in Deutschland ist allgemein bekannt und ist seit Jahren ein großes Thema in den Parteien. Auch die Integrationsdebatte ist nicht vernachlässigt. Die Auswirkungen beider bekannten Herausforderungen auf Kinder migrantischer Familien sowie die Konsequenzen für die Bildung und die psychische Gesundheit der heranwachsenden Generation werden jedoch vernachlässigt. Von politischer Seite fehlen Lösungsvorschläge zur Entlastung der Kinder.