2024: Top-Thema 08

Die Crossover-Nierenspende

Abstract:

In Deutschland sind etwa 100.000 Patient:innen auf Nierenersatzverfahren angewiesen, bedingt durch starke Funktionseinschränkungen. Der Mangel an postmortal gespendeten Nieren führt dazu, dass das deutsche Gesundheitssystem auf die Dialyse als Hauptbehandlungsweg setzt, obwohl sie nur als Brückentechnologie gedacht ist. Gleichzeitig wird das Potenzial von Lebendspenden nicht ausgeschöpft, da derzeit nur nahestehende Personen Betroffenen eine Niere spenden dürfen – häufig sind diese aber nicht kompatibel. Die erweiterte Zulassung der Crossover-Nierenspende (CNS) würde Abhilfe schaffen, indem sich neue Transplantationspaare finden können. Bisher erfolgt die CNS jedoch nur in juristische Grauzonen und ein deutschlandweites Register fehlt. Die Ausweitung der CNS birgt neben ethischen Herausforderungen vor allem neue Hoffnungen für Patient:innen, die medial und politisch stärker thematisiert werden müssen.

Sachverhalt und Richtigkeit:

Im April 2023 startete das Bundesgesundheitsministerium auf Grundlage einer öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses im Bundestag einen Vorstoß zur erweiterten Zulassung von Organlebendspenden. Bei der Crossover-Nierenspende (CNS), oder auch Überkreuz-Lebendspende genannt, handelt es sich um ein spezielles Verfahren der Nierenersatztherapie. Bei einer Crossover-Nierenspende wird das Organ der spendenden Person nicht an die dafür vorgesehene Person gespendet, da es aufgrund von Unverträglichkeiten von dessen Körper abgestoßen werden könnte. Stattdessen erhält eine besser passende Person eines weiteren Transplantationspaares – quasi über Kreuz – das Organ. In so einem Fall wäre das Organ der spendenden Person des zweiten Paares ebenfalls nicht kompatibel gewesen. Im Austausch erhält die empfangende Person aus Paar Eins das Organ der spendenden Person des Paares Nummer zwei. Das Konzept der CNS erhält bisher kaum rechtliche Unterstützung.  

Circa zehn Prozent der in Deutschland lebenden Menschen sind von einer chronischen Nierenerkrankung betroffen. Einige dieser Erkrankungen – wie z. B. Entzündungen oder Tumore – führen zu Funktionsstörungen der Nieren. Dann können die „körpereigenen Klärwerke” nicht mehr das Blut des Körpers filtern. So bleiben u.a. Giftstoffe als ungereinigtes „Abwasser” bestehen. In der letzten Stufe der Erkrankung verkümmern die Funktionen restlos – ohne entsprechende Behandlung führt das zum Tod. Um das zu vermeiden, muss das Blut anderweitig gereinigt werden: etwa 100.000 Patient:innen sind in Deutschland fortlaufend auf zwei Nierenersatzverfahren angewiesen – Dialyse und Transplantation. 

Die Niere ist das in Deutschland am häufigsten transplantierte Organ. Im Jahr 2022 wurden knapp 2.000 Nieren gespendet. Davon wurden etwas mehr als 500 Nieren aus Lebendspenden transplantiert, der überwiegende Anteil der Transplantationen erfolgte indessen postmortal, also nach dem Tod der spendenden Person. Die Erlaubnis zur Spende erfolgte selbstbestimmt zu Lebzeiten. Im Gegensatz zur Transplantation erfolgt eine Dialyse deutlich häufiger. Dabei wird das Blut mittels einer Maschine oder über das Bauchfell gefiltert; etwa 90.000 Patient:innen sind auf diese regelmäßige Blutwäsche angewiesen. In der Regel erfolgt die Behandlung mehrmals wöchentlich. 

Dialysen sind nicht nur kostspielig, sie weisen zudem eine schlechte Umwelt-Bilanz auf. Schon die einjährige Dialyse eines Patienten verursacht bis zu zehn Tonnen CO2. Zum Vergleich: Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch beträgt laut Bundesumweltamt 7,98 Tonnen CO2. Darüber hinaus ersetzt die Dialyse die Nierenfunktion nur zum Teil, führt somit nur zu einer bedingten Verbesserung des Gesundheitszustands. Bereits Anfang 2019 betonte das auch das damals noch CDU-geführte Bundesministerium für Bildung und Forschung. Eine erfolgreiche Transplantation hingegen fördert die Lebensqualität. 

Trotzdem wird in Deutschland wegen des Mangels an Organspenden weiterhin auf die Hauptbehandlung mittels Dialyse gesetzt. Nachdem im Jahr 2017 der niedrigste Stand an nach dem Tod gespendeten Nieren seit 20 Jahren erreicht worden war, befand sich die Organspendezahl (postmortal) im Jahr 2023 laut Deutscher Stiftung Organtransplantation auf einem leichten Erholungskurs. Dabei handelt es sich im Vorjahresvergleich nur um einen Zuwachs von knapp 100 Organspender:innen. Bundesweit warten währenddessen mehr als 6.500 Patient:innen aussichtslos auf eine Niere (Stand Dezember 2023). Mit der Wartezeit auf ein Organ steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Patientinnen und Patienten nicht mehr für die angedachte Transplantation eignen. Neben der Grunderkrankung treten nämlich im Krankheitsverlauf häufig zusätzliche Erkrankungen auf.

Andere angestoßene Diskussionen rund um das Transplantationsgesetzes behandeln größtenteils postmortale Spenden. Bis die Veränderungen Wirkungen zeigen, vergeht weiterhin Zeit. Dabei benötigt es zusätzliche Veränderungen, die akut dazu beitragen, Leben zu retten. Die vom Bundesgesundheitsministerium angestoßene Ausweitung von Lebendspenden mittels CNS würde genau da Abhilfe schaffen – jedoch fehlt bislang die Umsetzung und weitreichende Informationen darüber. 

Ein großer Vorteil von Lebendspenden: Im Gegensatz zu postmortal transplantierten Organen, erfüllen entnommene Organe aus Lebendspenden ihre Funktion i.d.R. länger. Laut ersten Untersuchungen der Barmer Krankenkasse arbeiten fünf Jahren nach erfolgreicher Transplantation bei einer Lebendspende durchschnittlich noch 86 von 100 Nieren, während es bei postmortalen Spenden 75 von 100 Nieren sind. Darüber hinaus besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass die Organe überhaupt von den Körpern angenommen werden. Als weitere Vorteile einer Lebendspende gelten u.a. die verkürzte Wartezeit zur Spende und eine wahrscheinlichere Durchführung. Patient:innen leiden obendrein kürzer und  erhalten einen Teil ihrer Selbstbestimmung zurück.  

2022 stammte aber bloß jedes sechste gespendete Organ aus einer Lebend-Transplantation. Denn bisher schränkt die gesetzliche Reglementierung die Durchführung ein. Nach derzeitigem Stand ist sie zwar erlaubt, aber nur unter Bedingung, dass Transplantationspaare eine geforderte „besondere persönliche Verbundenheit“ teilen. Das bedeutet, dass Spender-Empfänger-Paar verlobt bzw. verheiratet, verwandt (im ersten oder zweiten Grad), eingetragene Lebenspartner oder sich „besonders nahestehende Menschen“ sein müssen. Diese Verbundenheit führt aber nicht automatisch zu einer Kompatibilität zwischen Spender:in und Empfänger:in. Gelingen kann eine Transplantation nur, sofern die HLA-Merkmale eines Spender-Empfänger-Paares übereinstimmen. Bei einem sich nahestehenden Paar tritt das schätzungsweise in nur 30 bis 40 Prozent der Fälle ein. Eine fehlende Übereinstimmung führt wegen der gesetzlichen Bedingungen dazu, dass aktuell keine Transplantation erfolgt – obwohl die Absicht zur Spende vorhanden gewesen wäre. Das eigentliche Potenzial der Lebendspenden bleibt derzeit also ungenutzt – eine weitere Eingliederung in das System wurde bislang nicht gewollt. Nur weil sich die gesunde Person nicht als Spender:in für die vorgesehene empfangende Person eignet, ist die Niere in der Folge nicht gleich unbrauchbar. Dringender besteht bei der Patient:in weiterhin die Notwendigkeit einer neuen Niere.

Die fachliche Bewertung der Crossover-Nierenspende ist abgeschlossen. Gesundheits- und auch Rechtsexperten sind der gesicherten Ansicht, die legale Durchführung der CNS erhöhe die Zahl der verfügbaren Spenderorgane. So befürworten u.a. die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie als Zusammenschluss der Nieren-Fachärzte und die Bundesärztekammer die erweiterte Zulassung von Crossover-Nierenspenden. Der Gesundheitsausschuss im Bundestag besprach in einer öffentlichen Anhörung im April letzten Jahres erstmalig die Vorteile und Risiken einer gesetzlichen Ausweitung der CNS. Das führte dazu, dass einige Medien vereinzelt über die Möglichkeiten der Crossover-Nierenspende berichteten. Im Anschluss wurde es wieder ruhiger – sowohl medial als auch politisch. Das Bundesgesundheitsministerium bereitet seitdem die gesetzlichen Erleichterungen für die Organlebendspenden vor. Es ließ verlauten, die zuständige Fachabteilung arbeite an einem „Arbeits- bzw. Diskussionsentwurf zur rechtlichen Ermöglichung von Überkreuznierenlebendspenden“. Weitere Ausführungen, ein konkreter Zeitplan und Handlungsräume fehlen aber weiterhin.

In rechtlichen Grauzonen werden Crossover-Nierenspenden deswegen bereits durchgeführt. Im Kampf für die Gesundheit, erschaffen nahestehende, füreinander ungeeignete Spende-Paare künstliche Näheverhältnisse mit anderen Spender-Paaren. Für die Vermittlung greifen sie auf Online-Datenbanken zurück. Diese werden von Privatpersonen und Initiativen betrieben; eine Organisatorin stellt z. B. ein Programm der Stanford Universität zur Verfügung. Viele der Datenbanken müssen aber keine genormten Ansprüche erfüllen. Die gleichzeitige Verfügbarkeit unterschiedlicher Datensätze erschwert zudem eine Vereinheitlichung und Nutzer:innen erhalten nur bedingt Einblick in die Verwendung ihrer vertraulichen (Gesundheits-)Daten. 

Daran wird deutlich: Eine tatsächliche Legalisierung von CNS würde den Handel mit Organen reglementieren. Häufig wird ein vermeintlicher Organhandel als Gegenargument herangezogen. Dabei ist die ethische Bewertung des Sachverhaltes nicht zu vernachlässigen. Wichtig ist aber, dass sich potenzielle CNS-Spender:innen bereits intensiv mit dem ethischem Dilemma von Lebendspenden auseinandergesetzt haben würden, da sie auch vorher bereit gewesen wären zu spenden. Darüber hinaus würde das Transplantationsgesetz weiterhin die CNS reglementieren. Bedingungen für eine Lebendspende bilden aufgrund dessen Volljährigkeit, generelle Einwilligungsfähigkeit, das Geben adäquater Informationen und das faktische Vorliegen der Einwilligung des potenziellen Spenders. Das Maß der Einflussnahme wird jedoch bereits jetzt kritisch hinterfragt, weswegen jede Lebendspende die Zustimmung einer Ethikkommission benötigt. Diese besteht aus ärztlichen, psychologischen und juristischen Gutachter:innen.  

In vielen europäischen Ländern findet die CNS bereits jetzt Anwendung. Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit ermöglicht bspw. mit der nationalen Zuteilungsstelle Swisstransplant viermal pro Jahr neue Transplantationspärchen, die nach eingehender, positiver Prüfung die legale und vom Staat geförderte Möglichkeit der Crossover-Nierenspende nutzen dürfen. Das macht sich bemerkbar: Bereits 40 Prozent aller in der Schweiz durchgeführten Nierentransplantationen lassen sich auf Lebendspenden zurückführen. 

Relevanz:

Rund 100.000 Menschen sind in Deutschland auf Nierenersatzverfahren angewiesen, 90.000 Patient:innen davon auf eine regelmäßige Dialysebehandlung. Die Kosten für Dialysebehandlungen in Deutschland sind enorm, mit jährlichen Ausgaben von etwa 5,5 Milliarden Euro. Das entspricht fast zwei Prozent der Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung. Im Vergleich dazu kostet eine Nierentransplantation einmalig zwischen 50.000 und 65.000 Euro. Sie hat damit nicht nur eine bloße Einsparung von Kosten zur Folge. Wichtiger ist: Die Lebensqualität der Patient:innen verbessert sich.

Vernachlässigung:

Im Zuge der öffentlichen Anhörung im Bundesgesundheitsausschuss fand das Thema punktuell medial Beachtung – so etwa im NDR-Magazin Visite, der Welt oder der Frankfurter Rundschau. Eine Folgeberichterstattung blieb aber größtenteils aus. Medial wurde das Thema nicht in Gänze durchdrungen und somit vernachlässigt. 

Während die Organspende im Generellen in den letzten Jahren medial an Aufmerksamkeit gewonnen hat, ist die Lebendspende eher weniger thematisiert worden. Abgebildet wurde in den Medien vor allem der seit Jahren bedrohliche Mangel an Spenderorganen und die Debatte rund um die Widerspruchslösung bei postmortalen Transplantationen. Andere Möglichkeiten der Spende wurden medial kaum thematisiert und fielen deshalb gesellschaftlich hintenüber.