2024: Top-Thema 03

Wenn Google Grenzen verschiebt

Abstract:

Zahlreiche Grenzen in der Welt sind umstritten. Das gilt etwa für den Nahen Osten (Israel/Palästina, Golan-Höhen), für Südasien (Kaschmir zwischen Indien und Pakistan), für China (umstrittene Landgrenze mit Indien, Taiwan, Seegrenzen), die von Russland „annektierten“, tatsächlich besetzten Gebiete der Ukraine, die von Marokko annektierte Westsahara oder das „unabhängige“ türkische Nordzypern. Den weltweiten Markt für Online-Karten Maps dominiert Google Maps.. Obwohl die Policy bei Google offiziell lautet, man zeige bestmöglich „die Wahrheit“ an, kommt es in der Realität oft darauf an, aus welchem Landesnetz die Karte aufgerufen wird: In Indien wird den Nutzern angezeigt, dass ganz Kaschmir zu Indien gehört – im Rest der Welt nicht. In der Türkei wird den Nutzern angezeigt, dass die „Türkische Republik Nordzypern“ unabhängig ist vom übrigen Zypern – im Rest der Welt nicht; und so weiter. Diese kommentarlose Übernahme politischer Vorgaben zementiert jeweils die Sicht, wonach die Ansprüche des eigenen Landes die unumstrittene Wahrheit seien, und beeinträchtigt so die Suche nach Kompromissen und Ausgleich. In Deutschland wird über diese Handhabung praktisch nicht berichtet.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Google Maps gehört zu den größten Informationsquellen für Millionen Menschen weltweit. Durch Recherchen von Journalisten der „Neuen Zürcher Zeitung“ zeigt Google Maps je nach geographischem Standort, an dem man sich befindet, unterschiedliche Kartenversionen an. Dies beweist beispielsweise ein Kartenausschnitt welcher Indien und China zeigt. Schaut man sich in der Schweiz diese Karte an, so sieht man klare Unterschiede in der Grenzdarstellung zu der Karte, welche Google Maps in Indien anzeigt. Ein weiterer Grenzunterschied lässt sich beim „Kaschmir-Gebiet“ finden. Dieses wird sowohl von Indien als auch Pakistan seit mehr als 70 Jahren beansprucht. Befindet man sich in Indien, so zeigt einem Google Maps diese Region als Gebiet, welches von Indien beansprucht wird, an. Sobald man sich außerhalb befindet, wird das Gebiet von Google Maps allerdings lediglich mit Schlangenlinien eingegrenzt.

Doch wieso genau sollten Kartendienste wie Google Maps Objektivität in ihrer Kartendarstellung anstreben? Diese Anpassungen, welche Google Maps an seinen Karten vornimmt, um der politischen Situation im jeweiligen Land gerecht zu werden, stellen ein Risiko auf mehreren Ebenen dar. Sie haben nämlich das gefährliche Potenzial Wahrnehmungen der geographischen Realität zu beeinflussen und bereits bestehende Meinungsverschiedenheiten zu vertiefen. Die jeweiligen Weltbilder werden verstärkt, Google bleibt neutraler Anbieter. Insbesondere ein so weitreichender Dienst wie Google Maps könnte hiermit eine Verzerrung des kollektiven Verständnisses von der geopolitischen Realität herbeiführen. Bei einem so sensiblen Thema wie Grenz- und Gebietsbeanspruchung, sollte man als öffentlich zugängliche Informationsquelle so neutral wie möglich bleiben. Denn Meinungsverschiedenheiten und national geprägte subjektive Weltbilder können bei territorialen Konflikten eine bedeutende Rolle spielen. Glaubt eine ganze Nation daran, dass ein Gebiet zum eigenen Land gehört, so steht auch die Meinung eines gesamten Volkes hinter einem ausgetragenen Territorialkonflikt. Diese Konflikte zu lösen, wird weitaus schwieriger, wenn jeder davon überzeugt ist, dass die beanspruchten Gebiete rechtmäßig zu ihrem Land gehören. Das führt zu einer klaren Verzerrung und damit Manipulation der öffentlichen Meinung innerhalb eines Landes. Damit können sich politische Konflikte schneller ausweiten und in ihren Dimensionen dementsprechend ändern. Objektivere Friedenslösungen werden dann immer schwieriger.

Relevanz:

Derzeit ist dieses Thema besonders aktuell. Ein sensibler Umgang mit Gebieten sowie Grenzaufzeichnungen bei öffentlichen Diensten wie Google Maps ist deshalb wichtig. Diese Dienste können die Meinung der Öffentlichkeit nachhaltig beeinflussen. Gerade inmitten einer digitalen Welt ist es von entscheidender Bedeutung, dass Google Maps die maximale Neutralität bewahrt. Die Kartengestaltung sollte so objektiv wie möglich gehalten werden, um nicht bereits bestehende Meinungs- sowie Weltbilder zu beeinflussen. Besonders jetzt sollte Google nicht in Versuchung geraten, den politischen Meinungen einzelner Länder aus Profitgründen nachzugeben, oder aus der Sorge heraus, in manchen Gebieten eingeschränkt zu werden. Die Neutralität eines Dienstes, welcher weltweit in so großem Umfang genutzt wird, sollte im Vordergrund stehen und zu einer verantwortungsbewussten Priorität von Google Maps werden.

Vernachlässigung:

Schaut man sich dieses Thema genauer an so fällt einem auf, dass der Sachverhalt teilweise bekannt ist, sich dennoch viel zu wenige Berichte dazu finden lassen. Zwar wird das Thema speziell mit Google Maps in Videos wie dem der Neuen Zürcher Zeitung „Karten als politisches Werkzeug“ aufgegriffen, doch nie näher untersucht, zumindest nicht im deutschsprachigen Raum. Websites wie „Der Standard“ berichteten im Jahre 2020 in ihrem Artikel „Google Maps zeigt Nutzern unterschiedliche Ländergrenzen an“. Außerhalb von Deutschland wird das Thema näher untersucht. Die „Washington Post“ berichtete am 14.02.2020 exakt über die Problematik, dass Google Maps die Grenzen verzerrt, in dem Artikel „Google redraws the borders on maps depending on who´s looking“. Im Interview der INA mit dem NZZ-Journalisten Roland Shaw gibt dieser an „Meine Kollegen bestätigten gerade, dass sie während der Recherche nur auf drei Videos gestoßen sind, welche in etwa das gleiche Thema hatten.”. Es fällt auf, dass seit mehr als drei Jahren zu dem Thema nichtmehr berichtet wurde. Dabei ist es gerade in Zeiten von massiven territorialen Konflikten, welche zeitgleich auf der Welt geschehen, so relevant darüber zu berichten.