2022: Top-Thema 10

Psychischer Missbrauch im Tanzsport 

Abstract:

Tänzerinnen und Tänzer sind im Gegensatz zu den Teilnehmenden anderer Sportarten weitaus häufiger von Essstörungen, ungesundem Leistungsdruck, Bodyshaming und sexuellen Übergriffen betroffen. Die Bereitschaft im Breiten- und Freizeitbereich des Tanz- und Ballettsports den Missbrauch anzuzeigen und sich psychologische Hilfe zu suchen, ist jedoch in dieser Branche aufgrund des autoritären Unterrichtsstils sehr gering. Dieser vermittelt, dass alles, was von der Perfektion abweicht, Schwächen sind. Es handelt sich hierbei um ein systematisches Problem, das immer noch von vielen Lehrenden gefördert wird. Tanz- und Ballettsport wird von vielen Kindern und Jugendlichen betrieben; in einer, gerade für Mädchen, oftmals schwierigen Lebensphase. Während Missbrauch im Profisport sowie in zahlreichen Amateur-Disziplinen aufgedeckt, diskutiert und zu Teilen vor Gericht gebracht wird, vernachlässigt die Berichterstattung die aktuellen Zustände im Tanz- und Ballettsport und deren Gründe. 

Sachverhalt & Richtigkeit: 

Beine höher, Arme länger, Füße gestreckter! Solche Ansagen sind Alltag einer Tanzausbildung. Bereits für Kinder und Jugendliche besteht das Training aus harter Arbeit und eiserner Disziplin. Tanzen ist ein (Hochleistungs-)Sport, dessen Ziel es ist, so nah wie möglich an eine unerreichbare Perfektion heranzukommen. Dass dabei ein immenser Leistungsdruck in den jungen Köpfen entsteht, ist daher kaum überraschend. Doch anstatt genau aus diesen Gründen ein besonderes Augenmerk auf die psychologische Unterstützung der Tänzerinnen und Tänzer zu legen, wird dieser Part der Betreuung weitestgehend vernachlässigt. 
Bisher bestehen wenige Hilfsangebote für die von Bodyshaming, Essstörungen oder falschen Schmerzumgang betroffenen Tanzschülerinnen und -schüler, doch diese werden kaum genutzt. Woran liegt das? „Es kommt auf die Kultur an, die in der Sportart dominiert“, erklärt Dr. Jeannine Ohlert, Sportpsychologin an der Deutschen Sporthochschule Köln. Je autoritärer der Trainingsstil, desto seltener würden die Kinder und Jugendlichen ein Problem teilen wollen. Die Härte im Unterricht vermittle den Kindern, sie müssten stark sein und ein psychisches Problem gelte als Schwäche. Dr. Ohlert betont, dass vor allem die jüngeren Schülerinnen und Schüler ein Problembewusstsein entwickeln müssten, um zu verstehen, was in Ordnung sei und wo sich gewehrt werden sollte. Denn wenn von klein auf eine dominante Autorität und fehlendes Einfühlungsvermögen präsent sind, wüchsen Kinder mit dem Gedanken auf, das sei die Normalität. Es fängt also in den Unterrichtssälen an, wo eine unrealistische Unantastbarkeit vermittelt werde, die man in so jungen Jahren gar nicht erwarten könne. Dies wirke sich dann wiederum auf die Annahme von Hilfsangeboten aus. Lehrerinnen und Lehrer müssten die Wichtigkeit ihrer Rolle erkennen und annehmen, da sie die Einstellungen ihrer Schülerinnen und Schüler zu psychischer Gesundheit prägen – auch über das Tanztraining hinaus.
Um dieser Rolle gerecht zu werden, fehlt es vielen Lehrenden aber an dem nötigen Know-how. Denn Tanzlehrerin oder -lehrer kann in Deutschland jede und jeder werden: Der Beruf ist offen und ohne Ausbildung zugänglich. Dr. Jaš Otrin, der Geschäftsführer des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik (DBfT), sieht darin ein weiteres Problem. Die fehlenden Kontrollen von Ausbildungsnachweisen und Erfahrungen durch den Staat würden das Risiko immens erhöhen, dass die Werte des Tanzsports nicht umfassend vermittelt werden. Ebenso trage dies zur Problem-Kultur, die sich dann u.a. in Essstörungen äußere, bei.
Im Sinne eines ersten Lösungsansatzes fordert der Verband von seinen Mitgliedern eine abgeschlossene tanzpädagogische Ausbildung. Zusätzlich müssen sie regelmäßig an verschiedenen Weiterbildungen teilnehmen. Der Verband und seine Mitglieder distanzieren sich ebenfalls von den weit verbreiteten, streng autoritären Unterrichtsmethoden. Für sie ist „positive Sprache, gewaltfreie Sprache, Konfliktmanagement und Reflexion grundlegend“.
Einen weiteren lösungsorientierten Ansatz bietet der Royal-Academy-of-Dance-Kodex. Die Royal Academy of Dance ist eine Organisation, die Leitlinien für das Unterrichten von Ballett herausgibt. Wer in seiner Ballettschule also unter diesem Namen und nach dem entsprechenden Lehrplan unterrichten möchte, muss sich ihrem Kodex verpflichten. In diesem liegt der Fokus ebenfalls auf einem respektvollen Umgang mit den jungen Schülerinnen und Schülern durch „Integrität, Kompetenz und Professionalität“. „Es geht über Druck oder Zusammenarbeit – mit beidem kann Spitzenleistung erbracht werden“, meint auch Harald Krytinar, der 15 Jahre lang als professioneller Balletttänzer tätig war. Druck, der von Lehrenden ausgeübt wird, wirkt seiner Meinung nach kontraproduktiv, da sich die Schülerinnen und Schüler diesen schon selbst machen würden.
Empathie, Einfühlungsvermögen und umfangreiche anatomische Kenntnisse können langfristig dazu führen, dass Kinder und Jugendliche weiterhin Spaß am Tanzen haben. Sie würden das Gefühl bekommen, dass Tanz nicht heißt, zu jeder Zeit wie Maschinen funktionieren zu müssen, sondern sie auch berechtigt sind, mit jemandem über ihre Ängste und Zweifel zu reden und Hilfe anzunehmen. Der moderne Tanzsport ist auf eine kooperative Unterrichtskultur angewiesen, um den heranwachsenden Tänzerinnen und Tänzern eine unbeschwerte Ausbildung zu ermöglichen. Zusätzlich zur Ausweitung der psychologischen Unterstützung in diesem Sport, benötigt es also auch einen Wechsel in den Denkmustern der Lehrenden. 

Relevanz:

Tanzen ist ein Kulturgut – kein Volksfest, keine Schulabschlussfeier und keine Hochzeit ohne Tanz. Auch ist Tanz keine verstaubte Angelegenheit in einer Nische, im Gegenteil: Break Dance, Jazz und Modern/Contemporary sind ebenso aktuell wie Orientalischer Tanz. Tanzen wird nicht nur als Turniersport veranstaltet, es dient der Geselligkeit und der Integration (so bieten viele Vereine auch Rollstuhltanz an). Tanzen ist im Breiten-, Freizeit- und Gesundheitssport (gerade für Senioren) ein wichtiger Faktor. Im Deutschen Tanzverband sind rund 210.000 Mitglieder in über 2.000 Vereinen organisiert. Laut der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse aus dem Jahr 2021 tanzen 3,88 Millionen über 14-jährigen in Deutschland in ihrer Freizeit häufig.
Darüber hinaus ist Tanzen ein zentraler Bestandteil des Kulturlebens. Neben den zahlreichen Tanzfestivals und Tanztheatern präsentieren die meisten Theater und Opern Ballettaufführungen. Allein im Jahr 2019 besuchten ca. 1,6 Millionen Menschen in Deutschland ein Ballett. Ebenfalls bildet das Ballett einen wichtigen Wirtschaftsbereich, der im Jahr 2018 227 Millionen Euro eingebracht hat. 
Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Bedeutung von Ballett und Tanz im Allgemeinen sind Aufklärung und Prävention notwendig, gerade im Amateursport. 

Vernachlässigung:

Missbrauch im Breiten- und Freizeitbereich im Tanz- und Ballettsport wird in den Medien kaum thematisiert. Im Zuge der „me too“-Debatte gab es auch an deutschen Theatern und Opernhäusern eine Benennung sowie teilweise Aufarbeitung des (sexuellen) Missbrauchs und der männlichen Machtstrukturen. So haben 2020 verschiedene Medien über den physischen und psychischen Missbrauch an der Staatlichen Ballettschule Berlin und der Wiener Staatsoper berichtet, nachdem sich Opfer an die Öffentlichkeit getraut haben. Das Problem dabei ist, dass sich hauptsächlich mit den strukturellen Problemen an diesen beiden Institutionen beschäftigt wurde und nicht mit den allgemeinen systematischen Problemen des Tanzsports. Die Städte Berlin und Wien wurden als Einzelfälle dargestellt, welche mit ihrem Unterrichtsstil wortwörtlich aus der Reihe tanzten. Dies war jedoch nicht der Fall. 
Es herrscht ein grundlegend verzerrtes Erwartungsbild von Lehrenden und Gesellschaft darüber, was Tänzerinnen und Tänzer zu leisten haben. Die für den Zuschauer vermeintliche Perfektion erwarten die Lehrenden genauso im Unterricht und allen anderen Lebenslagen. Den Erwartungen kann ein Mensch im Kindes- oder Jugendalter jedoch nicht gerecht werden – unabhängig davon, wo der Tanz- und Ballettunterricht stattfindet und ob er einen professionellen oder geselligen Zweck dient. 
Während es an vielen Tanzschulen im Breiten- und Freizeitbereich oft an dem notwendigen Know-how und der Sensibilität von Seiten der Lehrenden fehlt, werden die wenigen psychologischen Unterstützungen, die selbst in professionellen Ausbildungsstätten für (Ballett-)Tänzerinnen und (Ballett-)Tänzer vorhanden sind, kaum in Anspruch genommen. Das Thema ist stigmatisiert und wird von den Schülerinnen und Schülern, wenn überhaupt, nur mit Scham und Angst thematisiert. 

Kommentare:

Marie (Name geändert), Schülerin in der Staatlichen Ballettschule Berlin:
„Generell wird sehr wenig Rücksicht auf die psychische Gesundheit genommen und Ängste vor dem Unterricht werden schon als normal abgestempelt. Dazu sollten Ballettschulen professionelle Fachleute engagieren, anstatt die Kinder irgendwie kaputt zu machen.“ 

Dr. Jeannine Ohlert, Sportpsychologin an der „Deutschen Sporthochschule Köln“:
„Je autoritärer der Trainingsstil, desto schwerer fällt es Kindern und Jugendlichen ein Problem zu erkennen und sich Hilfe zu suchen.“ 

Dr. Jaš Otrin, Geschäftsführer des „Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik:
„In einer Kunstform, die auf Hochleistung setzt, ist es grundlegend, dass die Tanzpädagogen und Tanzpädagoginnen gut ausgebildet sind, nicht zuletzt, da sie vorrangig mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Hier bedarf es positiver Sprache, gewaltfreier Sprache, Konfliktmanagement und Reflexion.“