2012: Top 3

Die Antibabypille – gefährliches Lifestyle-Medikament

Die Antibabypille ist für viele Frauen in Deutschland zu einem „Lifestyle-Medikament“ geworden – und das, obwohl die Informationslage für Nutzerinnen schwer durchschaubar ist. Pharmakonzerne werben im Netz und bei Frauenärzten für Pillen der „dritten und vierten Generation“. Diese Hormonpräparate mit neuartigen Gestagenen (weiblichen Geschlechtshormonen) werden vermehrt verschrieben – trotz höherer Thromboserisiken und einem ungünstigen Risiko-Nutzen-Verhältnis. Auf Internetseiten, welche die Pharmaindustrie als Informationsportale betreibt, werden die „Beauty- und Wellness-Effekte“ der Pille beworben: schönere Haut und aufschiebbare Menstruation. Der hormonelle Eingriff in den weiblichen Zyklus und seine Risiken treten in den Hintergrund. 70 Prozent der 19-jährigen weiblichen Versicherten in Deutschland bekamen 2010 die Antibabypille verordnet. Die problematischen Werbestrategien und ihre Folgen werden in den Medien vernachlässigt.

Sachverhalt & Richtigkeit

70 Prozent der 19-jährigen Versicherten in Deutschland bekamen 2010 die Antibabypille verordnet. Nach welchen Kriterien das passende Präparat ausgesucht wurde, weiß der Frauenarzt. Da es kein Mindestalter für die Verordnung der Hormonpräparate gibt, richtet sich die Erstverordnung nach der biologischen und psychischen Reife, die der Frauenarzt im Gespräch mit der Patientin überprüft.

Von den 20 absatzstärksten Präparaten enthält jedes zweite neuartige Gestagene, bei denen das gesundheitliche Risiko ungleich höher ist als der Nutzen. Darunter waren auch die Pillen „Yasmin“/„Yasminelle“, „YAY“ und „Petibelle“ der dritten Generation mit nachweislich erhöhtem Risiko für Venenthrombose. Die neuartigen Pillen enthalten das künstliche Gestagen Drospirenon, bei dem das Thrombose-Risiko noch höher ist als das des Vorgänger-Präparats Levonorgestrel.

Für Nutzerinnen ist es sehr schwer, sich mithilfe unabhängiger und verbindlicher Quellen über Wirkungen und Nebenwirkungen der Verhütungsmittel zu informieren. Im Internet ist das Angebot groß und unübersichtlich. Dort kursieren viele falsche oder verzerrte Informationen; teils wird Verhütung mit zweifelhafter Fokussierung beworben. Einen Großteil der Informationsportale betreiben Pharmaunternehmen selbst. Zwar stehen die Namen im Impressum der Internetportale, doch der Hintergrund der Betreiber ist meist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Der Grund für das „Versteckspiel“ ist, dass Internetseiten von Pharmakonzernen mit gezielter Werbung für ihr Hormonpräparat durch das Heilmittelwerbegesetz verboten sind, neutral informierende Portale hingegen nicht.

Die Informationsportale der Pharmaindustrie bewerben neuen Antibabypillen als Lifestyle-Medikament, das „viel mehr kann als verhüten“. Das Gestagen Drospirenon wirke sich positiv auf Haut und Haare aus und könne die Monatsblutung verzögern, wenn es in den Urlaub geht oder ein Sportwettbewerb ansteht.

Die Vermarktung der neuen Pillen hat für die Pharmaindustrie enorme finanzielle Vorteile: Die Patente der „alten“ Pillen sind nämlich bereits abgelaufen, die Pharmafirmen verdienen an ihnen potentiell weniger als an Präparaten, die neu auf den Markt kommen. Frauenärzte sind für eine kompetente Beratung auf Informationen über Neuerungen auf dem Markt angewiesen. Dabei wird ihr Meinungsbildung häufig von Pharmareferenten beeinflusst, die die Produkte in den Praxen präsentieren.

Relevanz

Seit der Markteinführung der Pille im Jahr 1961 hat sich das Produkt etabliert und gehört mittlerweile zum Alltag vieler Frauen. Laut einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus 2011 nutzen 53 Prozent der befragten Frauen die Pille als Verhütungsmittel. Ganz unumstritten bleiben die Kontrazeptiva als Medikament aber nicht und es tauchen immer wieder Berichte über Nebenwirkungen auf. Verschiedene Interessensgruppen propagieren unterschiedliche Einstellungen zur Pille. Gerade im Internet sind Informationsquellen häufig schwierig zu durchschauen: Rosarote Internetseiten von Pharmakonzernen liefern Informationen zu den Kontrazeptiva und verkaufen diese als harmloses Lifestyle-Medikament.

Vernachlässigung

Die Antibabypille und deren Wahrnehmung durch die Gesellschaft sind zwar Thema in den Medien, allerdings meist nur mit Fokus auf die Geschichte und Entwicklung der Pille seit ihrer Markteinführung. Insbesondere zum 50-jährigen Jubiläum wurde berichtet (u.a. Frau TV, WDR). Auch Risiken und Nebenwirkungen der dritten und vierten Pillen-Generation wurden in den Medien thematisiert – so etwa als Bayer verpflichtet wurde, den Beipackzettel der Pillen „Yasmin“/„Yasminelle“ hinsichtlich der Angaben zum Thromboserisiko zu ändern, weil in Deutschland und der Schweiz zahlreiche Todesfälle aufgetreten waren. Darüber berichteten sowohl überregionale Medien (Stern, Die Welt, Süddeutsche Zeitung, taz) als auch regionale (Kölner Stadtanzeiger, Berliner Morgenpost, Stuttgarter Zeitung) – teilweise anhand der Einzelschicksale von Frauen, bei denen schwere Nebenwirkungen aufgetreten waren.

Den Weg der Antibabypille zum Lifestyle-Medikament griffen hingegen nur wenige Medien (z.B. die Bayerische Rundschau) auf  – obwohl  die Werbung der Konzerne insbesondere bei den neuen Produkten greift und diese mittlerweile die meistverkauften Antibabypillen sind.

Quellen

Staislava Dicheva, Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik, Autorin des Kapitels „Antibaby-Pille“ im Barmer BEK Arzneimittelreport, Gespräch am 8.2.2012

dapd: „Forscher warnt: Neuere Antibabypillen bergen höheres Risiko“, 27.6.2011, Berliner Morgenpost

Arznei-Telegramm 2011: „Thromboembolierisiko unter Drospirenon-Pillen“ (Yasmin u.a.), Jg. 42, Nr.12

Gerd Glaeske, Christel Schicktanz: „Barmer GEK-Arzneimittelreport 2011“, http://www.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/Subportal/Presseinformationen/Archiv/2011/110615-Arzneimittelreport-2011/PDF-Arzneimittelreport-2011,property=Data.pdf, abgerufen am 25.6.2012

(Thema sind die Verordnungstendenzen)

Frauenärzte im Netz: Antwort auf die Frage, ab welchem Alter man die Pille nehmen sollte, http://www.frauenaerzte-im-netz.de/de_pille-ab-welchem-alter-_679.html, abgerufen am 25.6.2012

Hedwig Diekwisch, BUKO-Pharmakampagne, Gespräch am 22.3.12

WDR Frau-TV: „Die Anti-Baby-Pille im Jahr 2010 – ein Life-Style-Produkt“, Redaktion Cornelia Elsholz, Susanne Garsoffky, Dagmar Kieselbach und Kathrin Schamoni, 15.6.2010, http://www.wdr.de/unternehmen/presselounge/programmhinweise/fernsehen/2010/06/20100617_frautv.phtml, abgerufen am 25.6.2012

Wolfgang Becker-Brüser, Arzt und Apotheker, Chefredakteur des Arznei-Telegramms, Gespräch am 24.1.2012

Prof. Dr. Gerd Anthes, Direktor des Deutschen Cochrane-Zentrums, Gespräch am 30.4.2012

Dr. Fabienne Hübener: „Sind Ärzte auf dem aktuellen Stand der Medizin? Interview mit Prof. Dr. Gerd Anthes“, Fabtext.de, http://www.fabtext.de/magazin_detail.php?ID=26&rubrik=&PHPSESSID=q94p0tn09pvk7hpnohjqkqmv05, abgerufen am 25.6.2012

Volker Nickel, Sprecher des Deutschen Werberats, Gespräch am 3.5.2012

Female Affairs, Portal des Pharmaherstellers MSD SHARP & DOHME GMBH, www.femaleaffairs.de, abgerufen am 25.6.2012

Pille mit Herz, betrieben von Jenapharm, www.pille-mit-herz.de/mehr_als_verhueten/index.php, abgerufen am 25.6.2012

Kommentare

Wolfgang Becker-Brüser, Arzt und Apotheker, Chefredakteur des Arznei-Telegramms:

„Die Medien berichten nicht so richtig falsch, aber das Thema wird nur in Wellen aufgegriffen, wenn wieder eine Frau gestorben ist. Das große Ganze, dass es keine unbedenkliche Pille gibt und sehr wenig Infos wirklich unabhängig sind, bleibt außen vor.“

Stanislava Dicheva, Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik, Autorin des Kapitels „Antibaby-Pille“ im Barmer BEK Arzneimittelreport:

„Es ist für junge Frauen nicht einfach, sich unabhängig zu informieren. Hier ist die Ärzteschaft gefragt, die die Neuentwicklungen der Pharmaindustrie etwas kritischer beäugen sollte.“

Cornelia Elsholz, Redaktion Frau-TV:

„Das Thema ist sicherlich relevant. Die Risiken der Pille hat Frau-TV in Beiträgen aufgegriffen. Für unsere Zuschauergruppe ist es schon ein überraschender Aspekt und interessant mitzukriegen, dass die Pille zu einem Lifestyle-Medikament mutiert. Die haben die Pille noch als Befreiung erlebt, nicht schwanger zu werden.“