Lücke im deutschen Gesundheitssystem: Tausende Menschen nicht krankenversichert
Abstract:
Der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen zufolge, hat jeder Mensch das Recht auf einen Lebensstandard, der Gesundheit und Wohlergehen gewährleistet. Und trotzdem fallen in Deutschland rund 61 000 Menschen durch das soziale Netz unserer Solidargemeinschaft.
Bürokratische Hürden und Gesetzeslagen verhindern oftmals eine Versicherung bestimmter Personengruppen. Als ehemalig selbstständige oder privatversicherte Person, kann es zum Abrutschen in den Unversicherten Status kommen.
Viele Betroffene wissen dabei nicht um ihre Möglichkeiten der medizinischen Versorgung und sogar bei den Leistungserbringern herrscht zum Teil Unkenntnis.
Auch Reformen, wie die Möglichkeit der Versicherung innerhalb des Notlagentarifs beziehen irreguläre Migrant*innen oder weitere Personen, die nicht in Melderegistern verzeichnet sind, nicht ein.
Das Ausmaß dieser Lücke im Versicherungssystem ist vielen Menschen nicht bewusst, auch aufgrund mangelnder Berichterstattung. Diesem wichtigen Thema muss zunehmend Aufmerksamkeit zuteilwerden, sowohl medial als auch gesamtgesellschaftlich.
Sachverhalt und Richtigkeit:
Laut des Mikrozensus vom statistischen Bundesamt, waren 2019 rund 61.000 Menschen in Deutschland nicht krankenversichert. Die Sozialarbeiterin Nele Wilk vom Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“ hat täglich mit diesen Menschen zu tun. Die meisten, die sie um Hilfe bitten, sind Wohnungslose und Menschen ohne Papiere, die nicht in die amtliche Statistik einfließen. „Wenn Sie keine Wohnung haben, werden sie nicht berücksichtigt“, sagt ein Mitarbeiter des statistischen Bundesamtes. Frau Wilk geht von über einer Million Menschen ohne Krankenversicherungsschutz in Deutschland aus, Tendenz steigend.
Ein großer Teil der unversicherten Personen in Deutschland, stellen Wohnungslose dar. So waren der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge, im Jahre 2020 rund 417.000 Menschen in Deutschland wohnungslos. Diese können theoretisch über „Arbeitslosengeld II“ krankenversichert werden. Nur ist die Schwelle für die Anträge meist viel zu hoch, meint Nele Wilk.
Jedoch auch der fehlende Versicherungsschutz irregulärer Migrant*innen, offenbart eine erhebliche Lücke im Gesundheitssystem.
Einer Schätzung der Forscherin Dr. Dita Vogel nach, die sich auf die polizeiliche Kriminalstatistik stützt, leben 180.000 bis 520.000 Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland. Irreguläre Migrant*innen haben Anspruch auf eine reduzierte medizinische Versorgung. Aus Angst vor einer Rückführung, meiden diese jedoch zumeist die Anlaufstellen, denn die Sozialämter sind verpflichtet die Betroffenen an die Ausländerbehörde zu melden, sobald sie nach Hilfe fragen.
Augenmerk muss auch auf Personen gelegt werden, welche zwar versichert sind, jedoch innerhalb ihrer Tarife kaum Leistungen in Anspruch nehmen können. So sind Frau Wilks Aussage nach ebenso Personen, die sich aufgrund von Beitragsschulden bei Krankenversicherungen im Notlagentarif oder „Ruhen der Leistung“ befinden, zu berücksichtigen. Diese Tarife sind nicht wählbar und für Menschen vorgesehen, die über einen bestimmten Zeitraum hinweg, die Versicherungsbeiträge nicht bezahlen können.
Betroffen sind häufig Selbstständige und Freiberufler*innen, welche einerseits zuvor von der gesetzlichen in die private Versicherung gewechselt oder in die private Insolvenz geraten sind. Diese sind durch den Notlagentarif ebenso abgesichert und zahlen einen verminderten Versicherungsbeitrag von 100 bis 125 Euro. Betroffen waren 2018, laut dem PKV-Verband, 102.200 Menschen. Trotz des Status einer versicherten Person, können jene allerdings nicht alle Leistungen in Anspruch nehmen. Lediglich die Notfallversorgung, also die Behandlung von Erkrankungen, die keinen Aufschub dulden oder erhebliche Schmerzen verursachen, wird gewährt.
Stephan Caspary, vom PKV-Verband, bemängelt dabei eine fehlende Übersicht der Leistungen, welche abgedeckt werden.
So herrscht, laut Nele Wilk, nicht nur bei den betroffenen Patient*innen, sondern auch bei Ärzt*innen und weiteren Leistungserbringer*innen Verunsicherung darüber, welche Behandlungen von den Patient*innen getragen werden müssen. Denn die Krankenversicherungen können frei darüber entscheiden, welche Leistungen sie übernehmen wollen.
Diese Aspekte führen dazu, dass Betroffene sich häufig nicht behandeln lassen oder sogar annehmen, sie seien nicht krankenversichert.
Ihre finanzielle Not wird durch das Anhäufen von Beitragsschulden, sowie Säumniszuschlägen weiter verstärkt. Auch können Rechnungen von Leistungen, welche im Zeitraum einer fehlenden Krankenversicherung abgerufen wurden, nicht nachgereicht werden.
Leichter als diejenigen im Notlagentarif, haben es Personen deren Leistungsanspruch, der gesetzlichen Krankenkasse, ruht. Sind ehemalig gesetzlich versicherte Personen mit ihren Zahlungen zwei Monate im Rückstand, tritt dieser Status der „ruhenden Leistungen“ ein. Für sie besteht die Möglichkeit ihre Rechnungen nachzureichen. Eine teilweise Ratenzahlung der Beitragsschulden, als auch die Möglichkeit einer Verjährungsfrist der Schulden nach vier Jahren ist ebenfalls gegeben.
Einen dauerhaften Erlass von Beitragsschulden für mittellose Personen, lehnen die gesetzlichen Krankenversicherungen jedoch auch ab, sagt Claudia Widmaier vom GKV-Spitzenverband. Sie kommentiert: „Stattdessen sollte der Gesetzgeber Regelungen schaffen, die sicherstellen, dass die Sozialhilfeträger oder die Träger der Grundsicherung für Mittellose, d.h. für hilfsbedürftige Personen, auch Beitragsschulden übernehmen“.
Wenn man all diese unterschiedlichen Fälle betrachtet, kommt man auf eine erhebliche Anzahl von Menschen ohne oder zumindest einem geringen Krankenversicherungsschutz.
„Man kann nicht von einer homogenen Gruppe sprechen“, sowohl Rentner*innen die von Altersarmut betroffen sind, Student*innen, Selbständige, Geflüchtete und weitere, also „Menschen aus allen sozialen Schichten“, sagt Frau Wilk, können betroffen sein.
„Es kann jeden treffen“.
Das größte Problem sind die bürokratischen Hürden in Deutschland. Die Anträge sind für die meisten Menschen nur schwer verständlich und staatliche Unterstützung ist an Bedingungen geknüpft. Damit Geld von der Krankenkasse erstattet werden kann, müssen Quittungen aufbewahrt werden, was sich besonders für Wohnungslose schwierig gestaltet, da sie all ihr Hab und Gut oft in wenigen Taschen aufbewahren, erklärt Nele Wilk.
Problematisch ist auch die Kombination von Hartz IV und ehemaliger privaten Krankenversicherung. So können Betroffene nicht in den Basistarif wechseln, wobei jedoch nur dieser vom Amt übernommen wird. Folglich müssen sie, sofern sie Medikamente benötigen oder Ärzt*innen aufsuchen wollen, in Vorleistung gehen. Eine daraufhin vorgesehene Einreichung der Quittungen, stellt in Anbetracht des gesundheitlichen Zustandes der Betroffenen und den Kosten für Behandlungen eine große Hürde dar.
Frau Wilk berichtet von einem Mann, der schwer erkrankt ist und Opiate nehmen muss. Opiate sind teuer, eine Hunderterpackung Morphin kostet ungefähr 155 Euro. Mit knapp 450 Euro im Monat ist er nicht in der Lage in Vorleistung zu gehen.
Die Defizite im Gesundheitssystem haben gravierende Folgen: Menschen in Armut sterben früher.
Laut einer Studie des Robert Koch Instituts aus dem Jahr 2019 sterben 13 % der Frauen und 27 % der Männer mit niedrigem Einkommen vor Vollendung des 65. Lebensjahres. In den höchsten Einkommensgruppen sind es nur acht % der Frauen und 14 % der Männer.
Viele Menschen warten zu lange mit dem Arztbesuch und der Einnahme von Medikamenten.
„Es kommt zur Chronifizierung und Verschlechterung und manchmal führt das auch zum Tod“, sagt Nele Wilk.
Der Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“, sowie viele andere Organisationen, welche Patient*innen in Not helfen, müssen durch Spenden von der Bevölkerung getragen werden, staatliche Förderung bleibt häufig aus. Durch sie werden offene Rechnungen übernommen und ehrenamtlich arbeitende Ärzt*innen eingestellt.
Auch die Rezeptgebühr von fünf bis zehn Euro muss oft von dem Verein übernommen werden. Für die Befreiung von der Zuzahlung für verschreibungspflichtige Medikamente, müssen erst einmal viele Anträge gestellt werden, sodass den Menschen häufig fünf Euro fehlen. . Die Datenerhebung der Aposcope Marktforschung befragte im Jahre 2019 Apotheker*innen zu ihren Erfahrungen mit der Einlösung von Rezepten bei anfallenden Zuzahlungen. Die Studie ergab, dass 74,7 % der befragten Apotheker*innen angaben, dass Patient*innen das Einlösen des Rezeptes auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, 58,6 % von ihnen gaben an, dass sogar ganz auf das Medikament verzichtet wurde. „Der Eigenanteil soll nach Intention des Gesetzgebers bewirken, dass die Versicherten im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf eine kostenbewusste und verantwortungsvolle Inanspruchnahme von Leistungen Wert legen“, teilt die Pressereferentin Claudia Widmaier vom GKV-Spitzenverband mit. „Es liegt in der Verantwortung des Gesetzgebers, hier andere Regelungen zu treffen, wenn dies politisch gewollt ist“.
Nicht zu missachten sind auch die psychischen Folgen, die das System und die verschiedenen Regelungen für die Betroffenen haben. „Wir haben hier manchmal Menschen, die sich so von diesem System abgelehnt fühlen, dass sie sich lieber umbringen wollen“, berichtet Nele Wilk. Diese Menschen werden vom Staat allein gelassen, die Krankenkassen und Versicherungen erschweren den Wiedereintritt in das Gesundheitssystem.
Obwohl der Notlagentarif noch einige Schwachstellen aufweist, so leistet er doch einen positiven Beitrag zu den Lebensbedingungen vieler Menschen in Deutschland. So sind Kinder, Jugendliche sowie Schwangere in speziellem Maße begünstigt. Über die Aufwendungserstattung für Leistungen zur Behandlung von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen hinaus, können Vorsorgeuntersuchungen übernommen werden. Diese sind für werdende Mütter fundamental wichtig zur Früherkennung von Krankheiten.
Des Weiteren, wurde im Zuge der pandemischen Lage, eine Erweiterung des Infektionsschutzgesetztes, auf Empfehlung der Ständigen Impfkommission des Robert-Koch-Instituts (§20 Absatz 2) hin, aufgelöst. So hat jede Person innerhalb des Notlagentarifes, das Recht auf Übernahme der Kosten für Schutzimpfungen.
Relevanz:
In einem wohlhabenden Land wie Deutschland, soll es nicht dazu kommen müssen, dass Menschen in medizinischer Notlage keine oder nur unzureichend Hilfe erhalten. Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit, und doch ist die Mortalitätsrate bei sozial schwächeren Bevölkerungsschichten immer noch zu hoch. Der Staat handelt nicht in ausreichendem Maße, um die steigende Anzahl an Unversicherten zu verringern. Letztlich auf Kosten des gesamten Gesundheitssystems. Es fehlt das Bewusstsein, dass es Menschen gibt, die nicht von dem sozialen Netz unserer Solidargemeinschaft aufgefangen werden. Seit der Einführung der allgemeinen Krankenversicherungspflicht im Jahre 2009 besteht der Glaube, dass alle Menschen in Deutschland versichert sind und jeder Mensch ausreichend medizinische Hilfe in Anspruch nehmen kann, was bedauerlicherweise nicht der Fall ist.
Vernachlässigung:
Die Probleme und Folgen, welche mit fehlender oder unzureichender Versicherung einhergehen, wurden bislang eher selten in den Medien thematisiert. Auch die Tatsache, dass ein Abrutschen in den Unversicherten Status leichter ist als allgemein bekannt, wird nicht genug hervorgehoben. Weiterhin wird sich in Berichten häufig auf Statistiken bezogen, die Personen, welche nicht gemeldet sind, nicht einbezieht. Dass es eine viel höhere Dunkelziffer gibt, bleibt im Diskurs oftmals unberücksichtigt. Durch eine vermehrte mediale Aufmerksamkeit für das Thema kann auch die Gesellschaft ein größeres Bewusstsein dafür entwickeln, dass eine Versicherungspflicht noch lange nicht bedeutet, dass wirklich alle Menschen vom Versicherungssystem aufgefangen werden.
Kommentare:
Mitarbeiter des Statistischen Bundesamts:
„Wenn Sie keine Wohnung haben, werden Sie nicht berücksichtigt.“
Nele Wilk, Sozialarbeiterin beim Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“:
„Wir haben das utopische Ziel, dass wir abgeschafft gehören.“