2025: Top-Thema 04

Obdachlos trotz Job

Abstract:

Mehr als eine halbe Million Menschen leben in Deutschland ohne Wohnung – einige, obwohl sie Vollzeit erwerbstätig sind. Die Zahl urbaner, arbeitender Nomaden hat sich in den letzten Jahren verdoppelt, denn nicht einmal in Randlagen der Städte können sie sich ein Zimmer leisten. Das Problem der Obdachlosigkeit hat längst die Mitte der Gesellschaft erreicht, wird von den Medien aber weitestgehend vernachlässigt.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Obdachlos trotz Erwerbstätigkeit. Davon kann die Bewohnerin einer Notunterkunft in Berlin Steglitz ein Lied singen. Täglich arbeitet sie für einen Transportdienst von Schüler:innen und körperlich eingeschränkten Menschen. Trotz eines monatlichen Nettogehalts von 1.500 Euro kann sie sich keine eigene Wohnung leisten und lebt bereits seit einem halben Jahr ohne festen Wohnsitz. Dies ist kein Einzelfall.

„Der Weg nach unten geht rasend schnell“, berichten Betroffene. Mit Unterstützung schaffen es einige wieder in einen Alltag zu kommen und einer Arbeit nachzugehen. An der letzten Hürde Wohnungsmarkt scheitern sie dann doch.

Ein Bericht der Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe aus dem Jahr 2021 zeigt, dass knapp zwölf Prozent der Klienten ihren Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit bestreiten und dennoch obdachlos sind. Diese Zahl hat sich im Vergleich zu 2009 verdoppelt. Damals hatten nur sechs Prozent Arbeit und keine Wohnung.

„Wir erleben immer wieder Menschen, die Vollzeit arbeiten, aber trotzdem in der Obdachlosigkeit sind“, bestätigt auch Dennis Bucek von der Organisation Straßenwächter, die sich für Obdachlose auf den Straßen Kölns einsetzt. Die Gründe seien unter anderem steigenden Mietpreise, die es selbst mit einem Vollzeiteinkommen schwer machten, sich eine Wohnung leisten zu können. Damit werde das Problem der der Obdachlosigkeit trotz Job drängender: „Menschen landen in Obdachlosenpensionen, weil sie mit der Hoffnung auf eine gute Anstellung umgezogen sind und in der neuen Stadt keine Beschäftigung finden.“

„Menschen, die straßenobdachlos sind, stehen ganz am Ende der Schlange der Wohnungsinteressenten“, bestätigt auch der Vringstreff. 

Die genaue Anzahl der Menschen, die trotz Erwerbstätigkeit obdachlos sind, ist nicht bekannt und basiert häufig auf Schätzungen. Sybille Arendt von der Organisation Hinz und Kunzt erklärt: „Früher gingen wir von einem ‚Drittelmix‘ aus: Ein Drittel obdachlos, ein Drittel wohnungslos und ein Drittel in einer Wohnung.“ Die massiven Vorurteile gegenüber Obdachlosen erschwere deren Alltag erheblich, berichtet Arendt. Obdachlose hätten mit einer Vielzahl an Problemen zu kämpfen, darunter die tägliche Suche nach einem Schlafplatz, das Transportieren ihres Gepäcks sowie die Organisation von Essen und Körperpflege. Diese alltäglichen Herausforderungen ließen ihnen kaum Zeit für die Wohnungssuche. Ein weiteres großes Hindernis sei die digitale Teilhabe: Viele Obdachlose haben kein Handy, und wenn doch, haben sie keine Möglichkeit, es aufzuladen oder ein Guthaben aufzuladen, bzw. einen Vertrag abzuschließen. Da die Wohnungssuche heutzutage fast ausschließlich digital erfolge, stelle dies ein zusätzliches großes Problem dar, so Arendt.

Nach Angaben der Geschäftsstelle der Bonner Offensive zur Überwindung der Wohnungslosigkeit beim Caritasverband Bonn sind besonders Menschen aus osteuropäischen Ländern von Obdachlosigkeit trotz Erwerbstätigkeit betroffen. Diese Personen kommen nach Deutschland, um einer Beschäftigung auf dem Bau nachzugehen und werden oft prekär in Containern untergebracht. Ist ein Bauprojekt abgeschlossen, verlieren sie Ihren Containerplatz und verdingen sich als Tagelöhner ohne Wohnraum. In vielen Fällen haben sie keinen oder nur unzureichenden Anspruch auf Sozialleistungen, was sie besonders anfällig für Wohnungslosigkeit macht. Selbst ein sicherer Arbeitsplatz garantiert nicht ein gesichertes Zuhause.

So vielfältig wie die Ursachen für Obdachlosigkeit trotz Erwerbstätigkeit sind, so unterschiedlich sind auch die Maßnahmen, die ergriffen werden können, um das Problem zu bekämpfen. „Es muss mehr gebaut werden, um den Mangel an Wohnraum zu beseitigen“, fordert Helena Marx, Projektleitung bei der Geschäftsstelle der Bonner Offensive zur Überwindung der Wohnungslosigkeit. 

Primäre Prävention sei das beste Mittel, um Wohnungslosigkeit zu vermeiden, bevor sie entsteht. Es sei deutlich schwieriger, die Lebenslage der Wohnungslosigkeit zu überwinden, als ein in Schieflage geratenes Mietverhältnis zu retten und zu sichern. Daher sei eine gute Vernetzung von Verwaltung und sozialen Trägern entscheidend, um eine frühzeitige Intervention zu ermöglichen. 

Dennis Bucek von Straßenwächter e. V. äußert ebenfalls Kritik: „Die Politik hat vor einigen Jahren fast aufgehört, geförderten sozialen Wohnraum zu schaffen.“ Die deutsche Bundesregierung hat kürzlich den „Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit“ vorgestellt, der darauf abzielt, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Dieser beinhaltet unter anderem das Konzept „Housing First“, welches darauf abzielt, obdachlosen Menschen vorrangig Wohnraum zu stellen, als stabile Basis, um ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu bieten. Aber auch diese Option ist umstritten. Laut Dennis Bucek wird durch dieses Modell nicht ausreichend auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen eingegangen, da es beispielsweise auch Obdachlose gibt, die gar keinen festen Wohnraum bevorzugen.

Die Förderung gesellschaftlicher Teilhabe anstelle von Ausgrenzung, die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum sowie die bessere Vernetzung sozialer Dienste, insbesondere im Bereich der Präventionsmaßnahmen, bieten einen Hoffnungsschimmer am Ende des Straßentunnels. Ob diese Maßnahmen jedoch erfolgreich umgesetzt werden, bleibt abzuwarten.

Relevanz:

Das Thema Obdachlosigkeit trotz Erwerbstätigkeit ist in vielerlei Hinsicht wichtig. Die Tatsache, dass Vollzeitbeschäftigte obdachlos sind, deutet auf grundlegende Ungleichheiten im Wirtschaftssystem hin. Seit Investoren deutsches Betongold als sichere Wertanlage für sich entdeckt haben steigen Mieten so stark, dass in Städten schon mal 50% bis 70% des Einkommens fürs Wohnen benötigt werden. Die Gruppe der sog. „working poor“, die in den USA in ihren Autos leben, weil Wohnungen nicht mehr zu finanzieren sind hat sich auch in Deutschland vergrößert. Obdachlosigkeit schwächt das soziale Gefüge und fördert Ausgrenzung und Stigmatisierung, was in der Folge einen negativen Einfluss auf die physische und psychische Gesundheit der Menschen hat. Stabile Wohnverhältnisse bieten die Grundvoraussetzung für ein gesundes Leben. Eine gerechtere Wohnraumpolitik würde den sozialen Zusammenhalt und das Vertrauen in die Gesellschaft stärken. 

Vernachlässigung:

In Radio und Zeitung wird das Thema Obdachlosigkeit trotz Erwerbstätigkeit kaum behandelt. Zwar gibt es einige Beiträge und Diskussionen zur Obdachlosigkeit im Allgemeinen, doch der spezifische Zusammenhang mit Erwerbstätigkeit wird selten beleuchtet. Im Fernsehen finden sich zwar vereinzelt Berichte zu diesem Thema, diese sind jedoch meist schon einige Jahre alt. Die Medienberichterstattung fokussiert sich eher auf sichtbare Obdachlosigkeit. Die Nische der Obdachlosigkeit trotz Job wird meist übersehen. Die neusten Online-Artikel sind beispielsweise von FOCUS online: „Obdachlos in München“ (19.07.2023) oder vom Bayrischen Rundfunk: „Arbeitskräfte: Fester Job, trotzdem keine Wohnung“ (14.09.2022). Im Vergleich zur Problematik wir das Thema stark vernachlässigt.