2021: Top 3

Ärztliche Unkenntnis im Umgang mit Gewalt in der Schwangerschaft

Abstract:

Gynäkolog*innen und Hebammen nehmen eine Schlüsselrolle bei der Hilfe gewaltbelasteter Frauen ein. Oft sind sie die ersten Ansprechpersonen für Schwangere, haben jedoch in der Ausbildung das Thema Gewalt in der Schwangerschaft nicht angemessen gelernt, was vielfach zu mangelnder Kompetenz und Unbeholfenheit im Umgang mit traumatischen Belastungen führt.

Wenngleich es laut WHO eine starke Evidenz für einen Zusammenhang zwischen Gewalt in der Partnerschaft und psychischen Störungen bei Frauen sowie schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen für Mutter und Kind gibt, wird das Thema in den Mutterschaftsrichtlinien und in den Medien nicht angemessen aufgegriffen.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Eine schwangere Frau wird mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Ihr Zustand lässt den Ärzten keine andere Wahl, als das Kind per Kaiserschnitt zu holen. Das Baby ist übersäht mit blauen Flecken, doch niemand hatte bis zu diesem Zeitpunkt von den Gewalterfahrungen der Frau gewusst. Laut einer repräsentativen Studie aus dem Jahr 2004 leiden ca. zehn Prozent der Frauen unter Gewalt in der Schwangerschaft. In einer neueren Studie aus 2014 wurden europaweit 42.000 Frauen befragt. 42% Prozent der Frauen, die von Partnergewalt betroffen waren, berichten von Gewalterfahrungen in der Schwangerschaft.

Trotz der erschreckend hohen Prozentzahl ist Gewalt in der Schwangerschaft ein Nischenthema, bestätigt Martina Kruse, Trauma zentrierte Fachberaterin und Mitglied im Netzwerk „Schwanger in schwierigen Umständen“. „Schwangerschaft ist von einem Glorienschein umgeben, und Gewalt passt nicht in dieses Bild,“ so Kruse. Oft beginnt die Gewaltanwendung durch den Partner erst mit der Schwangerschaft und die Gewaltspirale, die bereits existierte, kann durch die Schwangerschaft getriggert werden und sich exponentiell verschlimmern.

Die betroffene Frau leidet meist nicht nur unter ihren Verletzungen, sondern auch unter der Traumatisierung, sodass es zu einer Dissoziation der Gewalterfahrungen kommt, was schwere gesundheitliche Folgen nach sich ziehen kann. Christina Luehn arbeitet in der Leitung des Netzwerkes „Keine Gewalt gegen Schwangere“ bei der Caritas in Frankfurt. Sie berichtet von einer Schwangeren, die zum Zeitpunkt der Beratung bereits Mutter von drei Kindern war. Die Corona-Zeit habe die Gewalt in der Schwangerschaft intensiviert, denn finanzielle Probleme und Jobverlust kompensierte ihr Partner mit physischer Gewalt. Er zog an ihren Haaren und schlug ihr ins Gesicht. Die verursachte Scham führe dazu, dass Frauen ihre Verletzlichkeit missachteten und dazu tendierten, erst recht viel leisten und funktionieren. „Das Erschütternde ist, dass „die vielen Frauen, die Gewalt ertragen und nicht einmal versuchen, sich Hilfe zu holen. So bleiben sie unentdeckt und ungezählt.“

Oft treten gesundheitliche Probleme durch Gewalt erst nach der Geburt auf. Gewaltauswirkungen können zu Plazentaablösungen, Uterusrupturen sowie zu Verletzungen beim Fötus führen. Evident sind außerdem häufigere Frühgeburten, bei denen das Risiko für ein geringeres Geburtsgewicht um bis zu 16 Prozent steigt. Schwangerschaftsabbrüche sind doppelt so häufig und das Risiko an einer Gebärmutterhalserkrankung zu erkranken, Depression zu bekommen steigt durch Gewalt in der Schwangerschaft

Trotz des Engagements vieler Verbände und Netzwerke wie „Frühe Hilfen“ und „S.I.G.N.A.L. e.V“ ist diese Thematik bei den Gesundheitsfachkräften nicht ausreichend etabliert. Gynäkolog:innen und Hebammen fehle aufgrund mangelnder Etablierung in der frauenärztlichen Ausbildung die nötige Kompetenz. Das Thema sei weder in der Schwangerschaftsvorsorge implementiert, noch werde die psychosoziale Belastung abgefragt, so Dr. Luetje, Präsident der DGPFG und Chefarzt der Frauenklinik ev. Amalie-Sieveking-KH.

Das Modellprojekt „Medizinische Intervention gegen Gewalt“ (MIGG) zeigte 2010 bei der Erstbefragung von 67 Ärzten aus Düsseldorf, Kiel und München, dass „die Befragten die Bedeutung der Betreuung von Gewaltopfern als sehr hoch schilderten, aber mannigfaltige Barrieren im Praxisalltag und gezielten Schulungsbedarf sahen“, so die Projektkoordinatorin Dr. Lydia Berendes. Von den teilnehmenden Ärzten gaben 47,1% an, dass ihnen ein festes Handlungskonzept für die Situation bezüglich der Weiterverweisung der Schwangeren fehle. Weitere 29,4 % gaben an, dass sie kein Handlungskonzept für die Gesprächsführung mit der Betroffenen haben. Im Kontext bedeutet dies, dass viele Ärzte nicht wissen, wie sie Gewalt in der Schwangerschaft begegnen sollen. Außerdem vertreten viele die Einstellung, dass diese Aufgabe nicht in ihren eigenen Handlungsbereich falle. Die Ursachen für diese fehlenden Kompetenzen sind zu 50% strukturelle Gründe wie fehlende Zeit, Wissenslücken sowie Art der Vorsorge, die rein physisch sei.

Claudia Schumann betont, dass insbesondere die Kooperation mit anderen Netzwerken essenziell sei, da Gynäkolog:innen als Gatekeeper fungieren. Im Rahmen des Bundesförderprogramms „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“ wird seit 2019 ein Online Kurs angeboten, der medizinisches Fachpersonal im Themenbereich „Häusliche Gewalt“ schulen soll.
Sowohl Kruse als auch Bacchetta vertreten aber die Auffassung, dass diese Angebote in feste Strukturen eingebunden sein müssten und das E-Learning keinen richtigen Rollenwechsel ermögliche. Neben der Schulung brauche es auch Beratungsstrukturen, um eine Vorsorge zu gewährleisten, so Bacchetta. Im MIGG-Projekt wurde eine Fallevaluation angeboten, welche eine fortlaufende Dokumentation von gewaltbelasteten Patientinnen in der Praxis ermöglichen könnte, was jedoch von vielen Praxen mit der Begründung ausgeschlagen wurde, nur wenige Patientinnen seien davon betroffen.

Viele Gynäkolog:innen, die vor zehn oder mehr Jahren ihren Facharzt gemacht haben, sind in dem Umgang mit Gewalt nicht richtig geschult und ca. 60% hätten keine spezielle Fortbildung so Luetje. Da das Thema weiterhin tabuisiert werde, wagten sich viele nicht an eine Auseinandersetzung heran. Dr. Luetje erzählt, dass bei einem gynäkologischen Workshop zum Bereich häusliche Gewalt keine Anmeldung erfolgte. Das mangelnde Interesse ist nicht zu übersehen.

 

Meist kann Gewalt nur durch aktives Fragen erkannt werden. Studien zeigen, dass das Erkennen von Gewalt durch routinemäßiges Fragen viermal höher ausfiel. Weitere Studien weisen darauf hin, dass Frauen ein Abfragen von Gewalterfahrungen sogar befürworten.

Obwohl die Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation zum „Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und sexueller Gewalt gegen Frauen“ eine Grundlage für die Etablierung von Standards in der Gesundheitsvorsorge sowie einer systematischen Verankerung bestehender Maßnahmen bieten, wurden bisher keine der Leitlinien umgesetzt.

Wenn eine Frau für die Geburt ins Krankenhaus kommt und auf fremde Hebammen trifft, werden mögliche Gewalterfahrungen nicht angesprochen, obwohl es sinnvoll wäre, da die Gewalt-Auswirkungen den Verlauf der Geburt beeinflussen können, bemerkt Jule Friedrich. Ohne das Wissen kann auch die Geburtshilfe nicht Trauma sensibel gestaltet werden. Dr. Luetje erzählt von einem Fall, bei dem er sich der Schwangeren nur von vorne nähern durfte. Diese Herangehensweise erfordert eine gewisse Handlungskompetenz. Das Problem ist, dass all diese Mindestvoraussetzungen insbesondere eins fordern: Zeit und Geld.

Die Landesärztekammer ist für alle Angelegenheiten der ärztlichen Weiterblindung zuständig. Am Deutschen Ärztetag in 2018 wurde von verschiedenen Ärzten ein Beschlussantrag eingereicht. Dieser Antrag (Ic- 121) forderte eine Verabschiedung bundesweiter Standards für den ärztlichen Umgang mit häuslicher und sexueller Gewalt sowie die Entwicklung eines Maßnahmenkatalogs für eine systematische Umsetzung. Der Antrag wurde an den Vorstand überwiesen und ist seit zwei Jahren weder angenommen noch abgelehnt worden. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Thematik zeugt von einer offensichtlichen Vernachlässigung. Um Standards in der Beratung zu implementieren, müssten auch die Mutterschafts-Richtlinien überarbeitet werden. In diesen wird von der frühen Erkennung möglicher gesundheitlicher Gefahren für Mutter und Kind gesprochen, so zum Beispiel Frühgeburten.
Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass eine flächendeckende Umsetzung von Interventionsmaßnahmen durch eine Änderung der Mutterschafts-Richtlinien oder einer Erprobung von Screening-Tools erreicht werden könnte.

Relevanz:

Viele Frauen leiden unter physischer, aber auch psychischer Gewalt im eigenen Haushalt. Insbesondere die Phase der Schwangerschaft und des Wochenbetts sind Zeiten, in denen Gewalt schneller eskalieren kann, so der Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte. Diese bittere Erfahrung verdrängt nicht nur die Betroffene selbst, sondern auch ihr Umfeld. Laut einer bundesweiten repräsentativen Studie trat bei ca. zehn Prozent der Frauen die Gewalt durch den die Partner erstmals während der Schwangerschaft auf. Um sie früher zu erkennen, brauche es qualifizierte Fachkräfte, die häusliche Gewalt erkennen und ihr sensibel und kompetent begegnen können.

Vernachlässigung:

Eine Berichterstattung zur mangelnden Versorgung von gewaltbelasteten Frauen findet nicht statt. In den Medien mehren sich Meldungen über Kindesmisshandlungen und häusliche Gewalt, aber Gewalt in der Schwangerschaft wird immer noch tabuisiert. Fehlende Schulungen und fehlendes Wissen bilden Barrieren für die Implementierung von Interventionsmaßnahmen. Das Hauptproblem: Gewalt in der Schwangerschaft wird nicht als Thema angesehen, da es bereits ein Hilfe Telefon und Initiativen gibt. Daraus resultiert eine gewisse Behäbigkeit, die die eigene Verantwortung in Frage stellt und zu einer Vernachlässigung führt. Einen Artikel zu dem Thema hatte zuletzt Dr. Susanna Kramarz bei der Internetseite „Baby-Care“ publiziert. In den Fachzeitschriften wird diese Thematik teils nebensächlich angesprochen.

Quellen:

Netzwerk „Schwanger in schwierigen Umständen“, Informationen für Betroffene, https://www.schwanger-und-gewalt.de/infos.html,

https://www.gesine-intervention.de/gesundheitliche-auswirkungen-von-gewalt-auf-schwangerschaft-und-geburt/

Gesine Intervention, Zentrum für Prävention, Information, Schutz und Unterstützung bei Gewalt gegen Frauen, https://www.gesine-intervention.de/gesundheitliche-auswirkungen-von-gewalt-auf-schwangerschaft-und-geburt/

Bundesärztekammer, Dokumentation der Beschlüsse, https://121daet.baek.de

S.I.G.N.A.L. e.V www.signal-intervention.de

https://www.signal-intervention.de/dokumentation-interdisziplinaere-fachtage-des-signal-ev

Kommentare:

„Gewalt ist ein Unthema“. (Claudia Schumann)

„Wenn Frauen zur Geburt ins Krankenhaus kommen und auf fremde Hebammen trifft, wird nicht über mögliche Gewalterfahrungen gesprochen, obwohl es sinnvoll wäre, da dies Auswirkungen auf den Verlauf der Geburt haben könnte.“ (Jule Friedrich)

„Die Ansprache von Gewalt ist schwierig, da diese oftmals einen Rattenschwanz nach sich zieht“ (Britta Bacchetta)

„Wie die Weltgesundheitsorganisation betont, ist Gewalt kein Schicksal, sondern kann verhindert werden,- dazu ist erforderlich, dass Frauen mehr Hilfe und Unterstützung im Gesundheitsbereich erhalten“ (Hilde Hellbernd)