2018: Top 5

Lebensrettende Medikamente in Entwicklungsländern für große Teile unerschwinglich – die Pharmaindustrie ist eine der gewinnträchtigsten Branchen

Nur etwa 12% der Behandlungsbedürftigen in Dritte Welt Ländern erhalten die nötige Versorgung mit Arzneimitteln wie zum Beispiel Impfstoffen. Schuld daran sind unter anderem die hohen Preise der Pharmafirmen. Die Kosten für einen vollständigen Impfschutz für ein Kind haben sich in den Jahren von 2001 bis 2014 auf das 68-fache vervielfacht. Da dadurch ein Drittel der Weltbevölkerung auf lebenswichtige Arzneimittel verzichten muss und gleichzeitig wichtige Pharmafirmen aus Deutschland kommen, ist dieses Thema auch hierzulande sehr relevant. Der Widerstreit zwischen dem Recht auf Gesundheit und den Gewinnmargen der Pharmaindustrie wird nur vereinzelt von Medien aufgegriffen.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Nach Angaben des Kinderhilfswerkes Unicef stirbt in Afrika südlich der Sahara im Durchschnitt eines von zwölf Kindern vor seinem fünften Geburtstag. In Industrieländern ist es eines von 147. Mangelernährung, Geburtskomplikationen oder AIDS sind für viele der Todesfälle verantwortlich. Aber auch Krankheiten, wie Masern, Durchfallerkrankungen und Lungenentzündungen kosten viele Kinder jährlich das Leben. Diese Todesfälle wären vermeidbar, wenn die flächendeckende Versorgung mit Impfstoffen auch in den ärmsten Ländern gewährleistet wäre. Allein eine Impfung gegen Pneumokokken – den häufigsten Verursacher von Lungenentzündungen – könnte die Kindersterblichkeit erheblich senken, da Lungenentzündungen mit 17 Prozent die häufigste Todesursache in der Kindersterblichkeitsstatistik darstellen.

Während ein vollständiger Impfschutz nach Angaben der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ für ein Kind 2001 noch 0.67 US$ gekostet hat, ist der Preis dafür bis 2014 auf 45.59 US$ angestiegen. Das bedeutet eine Preissteigerung um das 68-fache. Dabei sind zwar 2001 nur sechs Impfungen in der Kalkulation enthalten, während es 2014 zwölf Impfungen sind, trotzdem ist eine derartige Preisentwicklung nicht gerechtfertigt. Zudem beziehen sich die Zahlen nur auf den niedrigsten Preis, den ein Land für die vollständige Impfung eines Kindes zu zahlen hat. Diese günstigen Preise sind nur für die aller ärmsten Ländern verfügbar. Das ist vor allem durch die Arbeit der GAVI – global Vaccine Alliance – möglich. Die Impfallianz mit Partnern, wie Regierungen aus Industrie- und Entwicklungsländern, der WHO, Unicef und der Bill und Melinda-Gates Stiftung handelt spezielle Impfstoffpreise für Entwicklungsländer aus, unterstützt die Empfängerländer finanziell und versucht so eine Verbesserung der Impfraten weltweit zu erzeugen. Abgesehen von den so ausgehandelten Preisen ist der Impfstoffmarkt sehr intransparent. Die einzelnen Länder haben keine Möglichkeiten, die Preise zu vergleichen. So kommt es beispielsweise zustande, dass nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen aus dem Jahr 2015 Marokko, Libanon und Tunesien mehr für den Pneumokokken-Impfstoff gezahlt haben, als Frankreich auch wenn ihr Bruttonationaleinkommen geringer ist als das von Frankreich.

Wieso sind Impfstoffe überhaupt so teuer? Dafür gibt es viele verschiedene Gründe und Faktoren die eine Rolle spielen. Einer der Gründe dafür sind Patente. Dadurch dürfen die Arzneimittel nur von der Firma hergestellt werden, die das Patent beantragt hat. Patente auf Arzneimittel müssen von jedem Land, das der Welthandelsorganisation (WTO) beigetreten ist, anerkannt werden. Durch diese Patente werden die Arzneimittel noch einmal teurer. Um Arzneimittel global zugänglich zu machen, ist eine Preissenkung unumgänglich.

Mangelnde Konkurrenz ist ein weiterer Grund dafür, dass Pharmakonzerne ihre Preise frei nach Belieben gestalten können. Oft werden Impfstoffe nur von einzelnen Firmen hergestellt, wodurch quasi ein Monopol entsteht, auch wenn diese Impfstoffe nicht mehr patentgeschützt sind. Auch wenn die Anfangsinvestition in Impfstoffe hoch ist, ist die Produktion der einzelnen Einheiten nachher relativ günstig. Das liegt daran, dass die Entwicklung von Impfstoffen kompliziert und aufwendig ist und man nie mit Sicherheit sagen kann, ob überhaupt ein wirksamer Impfstoff im Laufe der Forschung entwickelt werden kann. Hat man jedoch einen Impfstoff gefunden, ist die Produktion dann vergleichsweise kostengünstig.

Gerade in ärmeren Ländern muss ein Großteil der Kosten für Medikamente (72,9%) von den Bürgern selbst getragen werden. Arzneimittel sind oft der Grund für Verschuldung ganzer Familien. Funktionierende Solidarsysteme in Form von Krankenkassen sorgen in Industrieländern dafür, dass die Bürger nur 26,6% der Medikamente selbst bezahlen müssen. Was heißt das? Diejenigen, die es sich am wenigsten leisten können, müssen am meisten zahlen.

Von Pharmakonzernen werden die hohen Forschungskosten als Grund für die hohen Preise angegeben. 2,6 Milliarden Dollar soll die Herstellung eines neuen Medikaments nach einer Hochrechnung der amerikanischen Tufts University (DiMasi et al) kosten. Allerdings wurde die Studie von der Pharmaindustrie mitfinanziert und es fehlen weitere unabhängige Erhebungen, die diese enorm hohen Entwicklungskosten bestätigen könnten. Auch wurde in dieser Studie nicht angegeben, welche Firmen und um welche Produkte untersucht wurden. Auf Nachfrage beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. antwortete der Pressesprecher Andreas Aumann: „Forschungskosten sind auch schwer zu beziffern, da gibt es keine Faustregel […] Niederlagen und Unwägbarkeiten sind vorprogrammiert, aber am Ende muss sich die Investition auch amortisieren.“

Im Jahr 2015 hat der US-amerikanische Konzern „Pfizer“ mit dem Pneumokokken-Impfstoff einen Umsatz von 6,2 Milliarden Dollar gemacht. Da Pfizer ein börsennotiertes Unternehmen ist, sind sie an steigenden Aktienkursen interessiert. Seit Jahrzehnten wird diskutiert, ob Pharmakonzerne wie Pfizer an der Marktwirtschaft beteiligt sein sollten, oder verpflichtet sind, potenziell lebensrettende Mittel in Entwicklungsländern so günstig anzubieten, dass sie sich jeder, der sie braucht, leisten kann. Die Diskussionsfrage bleibt bis heute bestehen: Ist es fair, dass lebensnotwendige Mittel nur dann gewährleistet werden, wenn Sie mit einem Gewinn für das Unternehmen verbunden sind?

Erst einmal wird ein großer Teil der Forschungsgelder für Medikamente ausgegeben, für die kein großer medizinischer Bedarf besteht, die aber viel Umsatz bringen. Jörg Schaaber, ein Mitgründer von Health Action International (HAI) und Mitarbeiter der BUKO Pharma-Kampagne, beschreibt einen neuen Trend als „Perversion des Marktes“. Dabei handelt es sich um sogenannte Waisenmedikamente: Medikamente für sehr seltene Krankheiten in Industrieländern. Für diese Medikamente bekommen die Hersteller besonders günstige Rahmenbedingungen, weswegen sich die Firmen lieber darauf konzentrieren als auf weit verbreitete Krankheiten in Entwicklungsländern. Schaaber beschreibt es als „.Im Grunde genommen die völlige Umkehr, statt dass für die meisten Kranken geforscht wird, wird jetzt für die wenigsten Kranken geforscht.“

Ein weiterer wichtiger Faktor sind die sogenannten „opportunity costs“. Das bedeutet die Pharmaunternehmen erstellen eine fiktive Berechnung, wie viel sie mit dem in die Forschung investierten Geld hätten verdienen können, wenn sie es am Aktienmarkt angelegt hätten. Das, was die Unternehmen tatsächlich ausgegeben haben, ist nur etwa die Hälfte der berechneten Kosten. Das wird besonders deutlich, wenn man sich einmal anschaut, wie nicht-kommerzielle Einrichtungen ihre Arzneimittel herstellen. Dort arbeiten die Pharmafirmen den Einrichtungen nur zu, wobei am Ende Kostenangaben von 100 Mio. $ bis 200 Mio. $ pro erfolgreichem Medikament entstehen.

Bei einer Studie der Ernst & Young GmbH wurden die wichtigsten Finanzkennzahlen der größten Pharmafirmen weltweit in den Jahren 2014-2016 analysiert. Darunter befanden sich auch einige deutsche Firmen. Bei dieser Studie kam heraus, dass diese 21 größten Pharmaunternehmen im Schnitt einen Gewinn von 27% erzielt haben. „Davon träumen andere Branchen nur. Auch das sollte man bei dem Gejammer um hohe Forschungskosten wirklich nicht vergessen“, äußert sich Schaaber dazu.

Andreas Aumann beruft sich darauf, dass Pharmafirmen, NGOs (Nicht-kommerzielle Einrichtungen) und Regierungen zusammenarbeiten müssen, um die Situation langfristig verbessern zu können. Er sagt „die Probleme müssen gemeinsam gelöst werden und die Industrie leistet einen von vielen anderen notwendigen Beiträgen.“ Dabei verweist er darauf, dass Impfstoffhersteller ab und zu Initiativen wie GAVI oder UNICEF ihre Impfstoffe zu niedrigsten Preisen verkaufen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Doch zurzeit wird an einem Modell gearbeitet, das noch besser funktionieren könnte:

Ein globaler Forschungsfonds, in den möglichst alle Länder Geld einzahlen. Mit diesem Geld können dann vielversprechende Forschungsprojekte angekurbelt werden. Neu hergestellte Medikamente erhalten keine Patente, und können somit ohne das exklusive Nutzungsrecht preiswert hergestellt werden können. Dieses Verfahren würde sehr viel Menschen Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln gewähren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat einen Versuch gewagt, und das GARD-Projekt (Global Antibiotic Research and Development Partnership) ins Leben gerufen.

GARD funktioniert folgendermaßen: Zunächst werden Prioritäten festgelegt. Dabei wird entschieden für welche Krankheitserreger der Forschungsbedarf am dringendsten ist, welche Projekte am schnellsten zum Erfolg führen usw. Anschließend wird die Forschung von möglichst vielen Staaten gemeinsam finanziert. In der Produktion stehen Forschungskosten und Preis nicht miteinander in Verbindung, da die Kosten für die Forschung und Entwicklung bereits vorab aus öffentlichen Geldern finanziert werden, und nicht von der Herstellerfirma. Dadurch kann das Produkt zum möglichst günstigen Preis verkauft werden. Dieses Modell hat Vorteile für alle: Die Kranken werden mit Medikamenten versorgt, die Pharmafirmen machen immer noch einen Gewinn, da sie keine Forschungs- und Herstellungskosten bezahlen müssen, und die Regierungen sorgen für ein gesünderes Volk. GARD sorgt aktuell nur für Antibiotika, jedoch soll das nur der erste Schritt sein. Die WHO hat bereits 2016 ein Konzept veröffentlicht, wie man ein globales Abkommen für Forschung und Entwicklung schaffen könnte. In Zukunft wird dies hoffentlich zu einer fairen Verteilung von Arzneimitteln in allen Ländern sorgen.

Relevanz:

Ein Drittel der gesamten Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu lebenswichtigen Arzneimitteln. Der restliche Teil der Welt sollte es als seine Pflicht ansehen, etwas dagegen zu unternehmen. Die Aufklärung über die Problematik ist ein wichtiger Schritt, um mehr Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Viele Menschen sind sich des Problems gar nicht bewusst.

Vernachlässigung:

Berichtet wird immer mal wieder von z.B. der Süddeutschen Zeitung, die z.B. den Artikel „Kostenlos ist nicht besser als billig“ schrieb. Jedoch wird das Thema, so auch in diesem Artikel, meist nur dann aufgegriffen, wenn gerade etwas Außergewöhnliches in diesem Bereich passiert. Kein Artikel geht genau auf die Hintergründe und Lösungsvorschläge ein. Über die generelle Problematik an sich wird nur auf Internetseiten von Initiativen wie z.B. Ärzte ohne Grenzen berichtet. Diese Artikel lesen dann aber nur die Menschen, die sich sowieso für solche Themen interessieren. Daher wird das Thema nicht an die breite Masse herangetragen.

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Quellen:

Gespräch mit Jörg Schaaber: Dipl.-Soziologe, Mitgründer von Health Action International, Mitarbeiter der BUKO Pharma-Kampagne, 07.07.2017

The Right Shot: Bringing Down Barriers to Affordable and Adapted Vaccines, Ärzte ohne Grenzen e.V., Januar 2015:

  1. “Der Bericht zeigt auf, dass sich der Preis für die vollständige Immunisierung eines Kindes seit 2001 um das 68-fache in den ärmsten Ländern erhöht hat. Viele ärmere Länder können sich die hohen Preise für Impfstoffe nicht leisten, gerade die neueren gegen Pneumokokken und Rotaviren, die Lungenentzündung und Durchfallerkrankungen auslösen.

Darüber hinaus versucht der Bericht ein wenig Licht in den intransparenten Impfstoffmarkt zu bringen. Regierungen können bislang die Preise nicht vergleichen. Dadurch wird eine effektive Verhandlung mit den Herstellern deutlich erschwert.“ (https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/right-shot-report)

  1. https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/sites/germany/files/attachments/msf_the_right_shot_report_2nded_2015.pdf

Jörg Schaaber: „Keine Medikamente für die Armen?“, 2005

Kommentar:

„Das Interesse daran [an Impfstoffen für Krankheiten in Entwicklungsländern] zu arbeiten ist natürlich sehr selektiv, eigentlich haben die Firmen grundsätzlich erst mal gar kein Interesse daran, also kommerzielle Firmen, weil Impfstoffe die in armen Ländern benötigt werden natürlich erst mal kein lukrativer Markt sind.“ -Jörg Schaaber, Mitgründer von Health Action International und Mitarbeiter der BUKO Pharma-Kampagne

 

„Und es gibt, gerade was Durchfallerkrankungen angeht, wirklich absolut naheliegende, einfach umzusetzende Lösungen die sehr viele Erkrankungen verhindern können, das ist nämlich sauberes Wasser, bessere Hygiene, Latrinen usw. Und daneben spielt natürlich auch die Unterernährung eine Rolle, weil ein Kind das Durchfall kriegt was ohnehin schon unterernährt ist, viel leichter stirbt als ein Kind das proper ist.“

-Jörg Schaaber

 

[In Bezug auf die DiMasi Studie] „Das heißt die haben bestimmte Firmen befragt, die haben Daten gegeben, aber welche Firmen das waren, welche Produkte das waren, wie die Kosten sich zusammensetzen, darüber weiß man nichts. Und die geben die auch nicht raus diese Informationen, das macht diese Zahl nicht besonders glaubwürdig.“

-Jörg Schaaber

 

„Das schafft so günstige Rahmenbedingungen, dass inzwischen 1/3 aller Neuentwicklungen sogenannte Waisenmedikamente sind. Im Grunde genommen die völlige Umkehr, statt dass für die meisten Kranken geforscht wird, wird jetzt für die wenigsten Kranken geforscht.“

-Jörg Schaaber

 

„Die Industrie ist sich ihrer Verantwortung bewusst und trägt schon lange dazu bei, die Situation zu verbessern.“

-Andreas Aumann, stellvertretender Pressesprecher des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie e.V.

 

„Nur durch gemeinsame Anstrengungen kann es gelingen, die Impfquoten in Dritte-Welt-Ländern zu verbessern. Entwicklungshilfe, Spendengelder und das Engagement der Pharmaindustrie sind unerlässlich.“

-Andreas Aumann

 

„Forschungskosten sind auch schwer zu beziffern, da gibt es keine Faustregel. Besonders hoch sind die Entwicklungs- und Produktionskosten auf jeden Fall bei Impfstoffen, weil es komplexe Arzneimittel sind, die aufwändig und zeitintensiv hergestellt werden müssen.“

-Andreas Aumann

 

„Niederlagen und Unwägbarkeiten sind vorprogrammiert, aber am Ende muss sich die Investition auch amortisieren.“

-Andreas Aumann