Vorgestellt: Top-Themen 2012

Nach Ansicht der INA wurden auch in diesem Jahr wieder wichtige Themen von den deutschen Medien nicht oder zu selten aufgegriffen. Heute hat unsere Jury in Siegen getagt und die Rangliste der wichtigsten von den Medien vernachlässigten Themen und Nachrichten aus 2012 gewählt.

In die Top 10 haben es geschafft:

1: Keine Rente für arbeitende Gefangene

Strafgefangene in Deutschland sind verpflichtet zu arbeiten, sie erwerben dafür aber keine Rentenansprüche. Dies liegt daran, dass die Rentenversicherung nur bei freiwilliger Arbeit greift. Ein Gesetz zur Einbeziehung der Häftlinge wurde 1976 außer Kraft gesetzt. Seitdem ist jedoch nichts geschehen, obwohl die Bundesregierung im Jahr 2008 Handlungsbedarf eingeräumt hat. Ehemalige Gefangene stehen deshalb im Alter vor finanziellen Problemen, da ihre im Gefängnis geleistete Arbeit nicht angerechnet wird. Diese Entlassung in die Altersarmut widerspricht dem Gebot der Resozialisierung. Über das Problem wurde in den Medien bisher kaum berichtet. Rechte von verurteilten Straftätern sind in der Öffentlichkeit vermutlich wenig populär. Menschenrechtler weisen jedoch darauf hin, dass eine gelungene Resozialisierung auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt.

2. HIV-positiv auf dem Arbeitsmarkt: Kein Rechtsschutz gegen Diskriminierung

HIV-positive Menschen klagen darüber, dass sie in der Arbeitswelt auch in Bereichen benachteiligt werden, in denen ihre Infektion keinerlei Risiko darstellt. Momentan sind sie dagegen auch nicht durch den gesetzlichen Gleichbehandlungsgrundsatz geschützt. Unter das Schutzziel „Behinderung“, das im deutschen Antidiskriminierungsgesetz und der einschlägigen EU-Richtlinie genannt sind, fallen HIV-Positive (aus gutem Grunde) nicht. Die Politik sieht offensichtlich keinen Anlass, eine allgemeingültige Rechtsgrundlage zu schaffen, sondern überlässt die Frage der Rechtsprechung. Auch 30 Jahre nach dem Bekanntwerden von AIDS sind Betroffene deshalb im Bereich des Arbeitsrechts den existierenden Vorurteilen schutzlos ausgeliefert.

3. Die Antibabypille – gefährliches Lifestyle-Medikament

Die Antibabypille ist für viele Frauen in Deutschland zu einem „Lifestyle-Medikament“ geworden – und das, obwohl die Informationslage für Nutzerinnen schwer durchschaubar ist. Pharmakonzerne werben im Netz und bei Frauenärzten für Pillen der „dritten und vierten Generation“. Diese Hormonpräparate mit neuartigen Gestagenen (weiblichen Geschlechtshormonen) werden vermehrt verschrieben – trotz höherer Thromboserisiken und einem ungünstigen Risiko-Nutzen-Verhältnis. Auf Internetseiten, welche die Pharmaindustrie als Informationsportale betreibt, werden die „Beauty- und Wellness-Effekte“ der Pille beworben: schönere Haut und aufschiebbare Menstruation. Der hormonelle Eingriff in den weiblichen Zyklus und seine Risiken treten in den Hintergrund. 70 Prozent der 19-jährigen weiblichen Versicherten in Deutschland bekamen 2010 die Antibabypille verordnet. Die problematischen Werbestrategien und ihre Folgen werden in den Medien vernachlässigt.

4: Weiterbildung zum Hungerlohn

Alle reden von der „Wissensgesellschaft“. Aber wer als Dozent Weiterbildungskurse im Auftrag des Arbeitsamtes gibt, verdient oft so wenig Geld, dass er selbst auf zusätzliche Unterstützung angewiesen ist. Betroffene und Gewerkschaften berichten von geringer Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen. Dabei haben die Arbeitsbedingungen der Ausbilder große Auswirkungen auf die Qualität der Weiterbildung vieler Arbeitsloser. Am 4. Juli hat zwar die deutsche Bundesregierung einen Mindestlohn im Bildungssektor von 12,60 Euro (Osten: 11,25 Euro) beschlossen. Da aber jede Unterrichtsstunde mindestens eine Vorbereitungsstunde bedingt, liegt dieser Lohn mit 6,30 Euro noch unter dem Mindestlohn im Reinigungsgewerbe.

5: Hartz IV bei Krankheit – kein Thema

Menschen, die durch eine Behinderung oder chronische Krankheit arbeitsunfähig geworden und auf Sozialleistungen vom Staat angewiesen sind, haben oft Schwierigkeiten, ihre gesundheitliche Versorgung sicherzustellen. Sie können zusätzlich zur bedarfsorientierten Grundsicherung bei Erwerbsminderung einen geringen Betrag für Mehrbedarf bekommen, dieser reicht jedoch oft nicht aus. Wenn sie z.B. nicht-verschreibungspflichtige Medikamente (OTC-Arzneimittel) benötigen, müssen sie diese häufig selbst bezahlen. Auch für die Bewältigung ihres Alltags entstehen zusätzliche Kosten aufgrund ihrer Erkrankung. Das Schlagwort Hartz IV wird in der Medienberichterstattung größtenteils nur auf die arbeitsfähige Bevölkerung bezogen. Schwerpunkt ist deshalb auch meist die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, die jedoch für dauerhaft berufsunfähige Menschen keine Rolle spielt. Die Lebensumstände der vielen berufsunfähigen Sozialleistungsempfänger sind dagegen nur selten ein Thema. Eine Aufklärung darüber könnte dazu beitragen, dass die Betroffenen und ihre Familien ihre Rechte besser kennen und wahrnehmen.

6: Vergessene Arbeits-, Sozial- und Zivilprozesse

In Deutschland finden jährlich etwa doppelt so viele Arbeits-, Sozial- und Zivilprozesse wie Strafprozesse statt – dennoch wird in den Medien überwiegend über die skandalträchtigeren Strafprozesse berichtet. Dabei kommen häufig die Verfahren an den anderen Gerichten zu kurz. Dort werden Fälle verhandelt, deren Inhalte und Urteile für viele Bürger relevant sind – so zum Beispiel eine langjährige Auseinandersetzung um eine Erwerbsminderungsrente mit umstrittenem Ergebnis.

7. Gekaufte Kundenbewertungen im Internet

Viele Menschen kaufen heute Waren in Online-Shops – doch die Kundenbewertungen, auf die sie sich dabei häufig verlassen, werden systematisch und auf illegale Weise gefälscht und manipuliert. In den vergangenen Jahren ist eine Schattenbranche von Dienstleistern entstanden, die sich im Auftrag von Herstellern als Kunden ausgeben und bezahlte Wertungen im Netz abgeben: Dabei werden eigene Produkte gelobt, die Konkurrenz schlechtgemacht, obwohl eine solche Praxis gegen geltendes Recht verstößt. Recherchen haben ergeben, dass dieses Falschvoten nur selten erkannt und von den Betreibern der Verkaufsportale entfernt werden. Branchenkenner schätzen, dass rund ein Drittel der Online-Kundenbewertungen gefälscht sind. Doch vielen Konsumenten ist das nicht bewusst.

8. Miserable Zustände in europäischen Haftanstalten

Trotz allgemein geltender Menschenrechte, wie die der Vereinten Nationen und der Europäischen Union, sind die Haftanstalten in vielen Ländern Europas geprägt von menschenunwürdigen Bedingungen: Zellen sind völlig überbelegt, es mangelt an Hygiene und sanitären Einrichtungen, und Gefangene sind Gewalt seitens des Gefängnispersonals ausgesetzt. Das Problem der Überbelegungen haben fast alle Staaten Europas, denn in den letzten Jahren hat sich die Tendenz entwickelt, Menschen sofort – auch bei geringen Straftaten oder bloßem Verdacht – zu inhaftieren. Das stellen Experten des „Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ des Europarates (kurz: CPT) fest. Oft werden Verdächtige viel zu lange in Untersuchungshaft festgehalten, weil sich viele Gerichtsverfahren über Monate hinziehen. Obwohl es hier in erster Linie um die Bedingungen in Haftanstalten anderer europäischer Staaten geht, ist das Thema auch für Deutschland relevant. Denn viele der Länder, in deren Haftanstalten menschenunwürdige Bedingungen herrschen, sind Mitglied der Europäischen Union oder haben ein Abkommen mit der EU und pflegen einen engen politischen Kontakt zu Deutschland. Über die miserablen Bedingungen in europäischen Haftanstalten haben deutsche Medien in den vergangenen Jahren nur wenig berichtet.

9. Die undurchsichtige Industrie humanitärer Hilfe

Eine Industrie ohne Rechenschaftsbericht: Jeder kann eine humanitäre Hilfsorganisation gründen. Doch ob sie sinnvoll arbeitet und ihre Gelder an der richtigen Stelle einsetzt, ist von außen schwer nachvollziehbar. Die Medien berichten zwar ausführlich über humanitäre Hilfseinsätze bei Krisen und Naturkatastrophen. Transparenz darüber, wie sich die Hilfsgelder etwa über das Jahr verteilen, schaffen sie aber nur selten. Gleiches gilt für Diskussionen über Reformen der Finanzstruktur humanitärer Hilfe.

10. Betrugsanfälligkeit von Drogentests

Mehr als 25.000 Autofahrern wurde 2011 nach Angaben des Kraftfahrtbundesamt der Führerschein wegen „charakterlicher Mängel aufgrund Neigung zu Trunk-, Arzneimittel oder Rauschgiftsucht“ entzogen. Wer seine Fahrerlaubnis wiederhaben will, muss oft Urinproben für einen Drogentest einreichen. Doch diese sind anfällig für Betrug: Offenbar ist es möglich, unerkannt Kunsturin einzureichen (der bei Internethändlern wie Amazon frei verkauft wird ebenso wie Boxershorts oder gar Kunstpenisse mit einem kleinen Beutel „Clean Urin“). Die Behörden gestehen ein, dass es Manipulationsversuche gibt. Aber offensichtlich wird das Problem unterschätzt, weil zum Beispiel bei Drogentests nicht einmal stichprobenartig überprüft wird, ob es sich um Kunsturin handelt.

In der Rubrik Top-Themen sind in Kürze auch für die Themen aus 2012 die genauen Begründungen zum Sachverhalt, zur Relevanz und zur Vernachlässigung zu finden.

Über die Initiative Nachrichtenaufklärung:

Die INA wurde im Mai 1997 gegründet und ist ein Gemeinschaftsprojekt folgender Hochschulen: TU Dortmund, Universität Siegen und MHMK Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation. Vorbild der Initiative ist das US-amerikanische “Project Censored”.

Ziel der INA ist es, wichtige Nachrichten und Themen, die in den Medien nicht genügend berücksichtigt wurden, stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen.

Medienschaffende, gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Institutionen, aber auch alle Bürger können bei der INA ihrer Meinung nach vernachlässigte Themen einreichen. Die Themenvorschläge werden von Studierenden in Recherche-Seminaren der beteiligten Hochschulen auf Richtigkeit und Vernachlässigung geprüft. Alle Themen, die dieser Prüfung standgehalten haben (meist rund 20), werden der Jury der INA vorgelegt. Diese entscheidet dann über die gesellschaftliche Bedeutung der Themen, indem sie jeweils im Juli die Rangliste der vernachlässigten Top-Themen des vergangenen Jahres kürt.

Die Jury:

Die Jury der INA setzt sich aus Journalisten und Wissenschaftlern zusammen, u.a. Prof. Dr. Rainer Geißler, Christina Kiesewetter, Prof. Dr. Dr. Peter Ludes, Leif Kramp, Prof. Dr. Horst Pöttker und Rita Vock (DLF).

Nachfragen:

Ansprechpartner für Nachfragen zu den einzelnen Themen oder zur INA im Allgemeinen sind Miriam Bunjes (mib@miriam-bunjes.de, 0178 21 03 969), Johanna Fritz (johanna.fritz@tu-dortmund.de, 0176 70 62 60 14), Toralf Staud (post@toralfstaud.de, 0177 47 98 176) und Leif Kramp (kramp@uni-bremen.de, 0172 427 46 44).

Kontakt:

www.nachrichtenaufklaerung.de

Prof. Dr. Horst Pöttker
Geschäftsführer der INA,
Journalistik-Wissenschaftler

TU Dortmund
Institut für Journalistik
44221 Dortmund

Tel.: 0231/755 28 27
Fax: 0231/755 55 83

info@nachrichtenaufklaerung.de

19 Kommentare zu Vorgestellt: Top-Themen 2012

  1. Die Initiative Nachrichtenaufklärung hat unseren Fall auf der Liste der Top 10 von 2012 veröffentlicht. Das hat uns seinerzeit sehr gefreut und uns das Gefühl gegeben, jedenfalls nicht ganz allein auf weiter Flur zu stehen…
    Wir hatten dies in einem relativ umfangreichen Beitrag kommentiert und dabei auch weitere Hintergrundinfos gegeben, mein Kommentar wurde auch geprüft und veröffentlicht, er war auch hier einige Jahre zu lesen. Aber jetzt hat „der blinde Fleck“ meinen Kommentar ersatzlos entfernt – warum? Glücklicherweise ist mein Kommentar auf unserer homepag noch erhalten, auch wenn das Thema ohnehin keinen Menschen mehr interessiert: aber es geht ums Prinzip…! Schade!

  2. Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der häufig übersehen wird. Journalisten orientieren sich nicht nur an externen Informationsquellen, sondern auch in hohem Maße an sich selbst. Innerhalb des Journalismus sind journalistische Meinungsführerschaften ausgeprägt, was gemäß der regelmäßig durchgeführten empirischen Untersuchungen darauf hinausläuft, dass Medien wie Der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und seit einigen Jahren auch BILD Themen und Meinungsbilder vorgeben, die im Rest der etablierten Massenmedien aufgegriffen und dupliziert werden. Zwar schließt die Orientierung an innerjournalistischen Meinungsführern Eigenpositionierungen nicht aus, die etwa aus der weltanschaulichen Differenzierung der Medien und einem entsprechenden Profilierungsbedarf im Rechts-Links-Spektrum der Gesellschaft resultieren können, aber thematische Impulse dürften sich stark durchsetzen: Themen, die Der Spiegel groß aufgreift, am besten als Titelgeschichte, lösen vielfach öffentliche Debatten aus; Themen, die ignoriert werden, sterben schnell ab. In jüngeren Jahren bediente etwa der Spiegel-Titel Mekka Deutschland – Die stille Islamisierung das Bild einer islamischen Unterwanderung Deutschlands. Das Beispiel ist umso bedeutsamer, als mehrere Studien nachgewiesen haben, dass gerade Der Spiegel den Islam mit Vorliebe in Verbindung mit den klassischen Negativthemen der Gewalt, des Terrors, der Unterdrückung und der religiösen Prägung islamischer Gesellschaften bringt.

  3. Zum Trost oder Erschrecken, kann man auch feststellen, dass selbst Peter Masuch, Präsident des Bundessozialgerichts Problem zu haben scheint, eine Benachteiligung der sog. Erwerbsunfähigen zu sehen oder aber Probleme sich klar auszudrücken http://www.boeckler.de/20756_20766.htm

    So antwortete er auf die Frage

    „Sozialverbände verlangen dagegen mehr Öffnungsklauseln, z.?B. für den spezifischen Lebensmittelbedarf eines Kranken.“

    so

    „Die Annahme war, dass die Grundsicherung nur vorübergehend gezahlt werden muss. Da können solche Fragen restriktiver behandelt werden als etwa im Fall der dauernden Erwerbsminderung.“

    Zuächst finden wir hier wieder die unscharfe Bezeichnung „Grundsicherung“, womit hier anscheinend nur Leistung zum Lebensunterhalt nach dem SGB II gemeint ist (vulgo Hartz IV) wo doch auch das SGB XII Grundsicherung beinhaltet. Dann wird auf Erwerbsminderung abgestellt ohne dass klar gesagt würde, ob es sich teilweise oder vollständige handeln soll.

    Schließlich suggeriert die Antwort insgesamt, dass der „spezifische[n] Lebensmittelbedarf eines Kranken“ im SGB XII (oder bei Erwerbsgemindert, wenn wir es wörtlich nehmen) irgendwie großzügiger gedeckt wird, als im SGB II. Da wüsste man schon gerne, worauf sich dies bezieht.

    Im strategischen Weglassen und der euphemistischen Wortwahl scheint der Herr Präsident überhaupt sonderbaren Regeln zu folgen, so sagt er zu den sogenannten Ein-Euro-Jobs

    „Die Diskussion um das von Ihnen angesprochene Urteil zur Arbeitszeit zeigt übrigens nicht nur die gesellschaftlichen Spannungen bei dem Thema der Ein-Euro-Jobs auf, hier erfahren wir auch wie verbreitet Missverständnisse gepflegt werden, etwa wenn verirrte Geister die Wiedereingliederungsangebote öffentlich als «Zwangsarbeit» verunglimpfen.“

    http://www.net-tribune.de/article/271208-40.php

    Was müssen das für verirrte Geister sein, die tatsächlich meinen, ein Angebot wäre in Wirḱlichkeit Zwang, nur weil einem bei Nichtannahme des Angebots die Lebensgrundlage entzogen wird? (Sanktion für die erste Verweigerung 30% oder 100% je nach Lebensalter, bei 100% Sanktion sind auf Antrag noch Lebensmittelgutscheine möglich)

    Es scheint nicht wenig derart Verirrte zu geben
    http://www.tacheles-sozialhilfe.de/forum/thread.asp?FacId=1093770

    Wie gut, dass das wenigstens das oberste Bundesgericht in diesen Fragen den Durchblick hat.

  4. eine wirklich gute Idee, auf einige der vielen blinden Flecke hinzuweisen, derer es sicher noch viele mehr gibt.
    Z.B. dass nur höchst selten darauf aufmerksam gemacht wird, dass der Bundeszuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung gar kein Zuschuss ist (und Klagen dazu vor den Sozialgerichten regelmäßig scheitern).

    Sicher absichtliche Irreführung, dass ständig in sämtlichen Medien behauptet wird, dass der Steuerzahler zur GRV etwa 80 Milliarden zuschießen muss. Umgekehrt ist es, der Staat bedient sich und zahlt nur ungenügend zurück, was zuvor aus der GRV für gesamtgesellschaftliche Aufgaben entnommen wird. Aber es macht sich ja besser, gegen angeblich überversorgte Rentner (nicht Pensionäre) zu polemisieren, die angeblich den jungen Leuten die Haare vom Kopf futtern, ansonsten könnte den jungen Leuten auffallen, dass sie es sind, die bewusst in die Irre geführt werden.
    Denn, die seit 1957 ungenügende erfolgte Erstattung durch den Bund, der aus der GRV entnommenen versicherungsfremden Leistungen, ist ein Hauptgrund, für immer geringere Renten und Zerstörung der GRV.
    So fehlen den GR-Versicherten bis heute rund 700 Milliarden Euro.
    Hier wird das ausgeführt:
    http://www.adg-ev.de/Dokumente/Infos/vfL10Januar.pdf
    und hier mit Grafik:
    http://www.rentenreform-alternative.de/versichfremd.htm

    Das aber darf offensichtlich in den Medien kein Thema sein, denn es handelt sich um die Enteigung der gesetzlich Rentenversicherten, die im großen Stil von staatswegen betrieben wird.

  5. Sehr geehrter Herr Fischler,
    Vielen Dank für den Hinweis zu Punkt 10. Die Labore, die wir angefragt haben, kannten die Problematik überhaupt nicht – eins von ihnen war sogar im Ruhrgebiet. Wir werden dem aber nochmal nachgehen.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Johanna Fritz.

  6. Danke für die Klarstellung. Das Thema SGB XII ist nicht nur in sich unterbewertet, sondern bringt auch interessante Einsichten ins SGB II.

    – Ist der SGB II Regelbedarf deswegen so niedrig, weil er ja nur eine kurze Überbrückung zur nächsten Arbeit sein muss? Nein, denn im SGB XII ist die Höhe dieselbe, obwohl dort eine Arbeitsaufnahme nahezu ausscheidet und der Leistungsempfänger somit keine realistische Aussicht auf Besserung, geschweige denn baldige Besserung hat.

    – Ist der SGB II Regelbedarf deswegen so niedrig, weil ein Anreiz zur Arbeitsaufnahme bestehen muss? Nein, selbes Argument wie oben.

    Grundsätzlich ist der Regelbedarf im SGB XII zwar an individuellen Mehrbedarf anpassbar, in der Praxis kommt das aber kaum vor. Aufgrund der bekannten Entscheidung des BVerfG und entsprechender Nachbesseerung des Gesetzgebers ist der Regelbedarf im SGB II mittlerweile auch anpassbar (aber doch wieder nicht in gleicher Weise, was aber jetzt zu weit führen würde).

    Bei Krankheit, von der erwartungsgemäß SGB XII Grundsicherungsempfänger typisch mehr betroffen sind als solche nach dem SGB II, da typisch Krankheit und Erwerbsunfähigkeit stark korrellieren, legt http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_12/__52.html fest, dass die Leistungen der Grundsicherung nicht von denen der gesetzlichen Krankenkasse (GKV nach SGB V) abweichen dürfen. Für den Sonderbedarf im SGB II gibt es keine solche Deckelung.

    Nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG ist der Gesetzgeber berechtigt, die Leistung der Krankenkasse auf einen vorgegebenen Katalog zu beschränken. Lediglich für lebensbedrohende oder wertungsmäßig vergleichbare Erkrankungen muss Leistung erbracht werden, wenn eine Besserung nicht ganz fernliegend ist http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20051206_1bvr034798.html Da wie oben dargelegt die Grundsicherung hier auch nichts ergänzen darf, sind Leistungslücken praktisch garantiert, wann immer es Einschränkungen bei der GKV unter das Maß des Notwendigen gibt, vgl. etwa http://www.tacheles-sozialhilfe.de/forum/thread.asp?FacId=1720289 oder die von Ihnen bereits genannte OTC-Problematik.

    Zum Abschluss eine sprachliche Anmerkung: Wie man sieht unterscheidet sich, ob jemand unter das SGB II oder das SGB XII fällt nach der Erwerbsfähigkeit. Erwerbsfähige ins SGB II, Erwerbsunfähige ins SGB XII, richtig? Nein. Denn warum benötigt der Hilfebedürftige im SGB II überhaupt Hilfe, wenn er doch zum Erwerb fähig ist? Warum deckt er dann nicht seinen Bedarf durch selbstverdientes Geld aus Erwerbsarbeit? Nun, z.B. deswegen, weil ihn niemand einstellt, ihm also niemand Geld für Arbeit gibt, er also deswegen nicht fähig zur Erwerbsarbeit ist. Und das ist zwangsläufig so, denn wäre da ein Arbeitsangebot, dann müsste er dieses ja annehmen, sonst tritt eine Sanktion nach dem SGB II ein.

    Der wirkliche Unterschied ist also nicht die Fähigkeit, seinen Bedarf durch Erwerbsarbeit zu decken, dann im Ergebnis sind die Leistungsempfänger nach dem SGB II ebenso unfähig, wie die nach dem SGB XII. Der wirkliche Unterschied ist die Ursache dieser Unfähigkeit. Beim Leistungsempfänger nach dem SGB XII ist diese Ursache Krankeit, Behinderung oder Alter, beim Leistungsempfänger nach dem SGB II das fehlende, passende Arbeitsangebot. Dennoch fällt niemand geringerer als das BVerfG auf diese Neusprechverschleierung herein
    http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20071107_1bvr184007.html
    siehe dort Abs. 20

  7. Was den Punkt 5 betrifft, so sind allerdings Klarstellungen nötig. Menschen, die unbefristet Rente wg. Erwerbsminderung erhalten, beziehen Grundsicherung ebenso wie Rentner, deren Rente unterhalb des Sozialhilfesatzes liegt. So gut ich es fände, wenn über die Lebensrealität von EM-Rentnern und Grundsicherungsbeziehern mehr berichtet würde, so wenig leuchtet mir ein, dass dies hier in Gegensatz zu Beziehern von Hartz4 gestellt wird.

  8. @ Eintrag 12 zum vernachlässigten Thema 5

    Lieber ThorstenV,
    vielen Dank für deine kritischen Anmerkungen.

    In der Tat ist der Titel unseres Themas 5 etwas verwirrend. Das ist im Eifer des Gefechts beim Schreiben der Pressemitteilung etwas untergegangen. Vielleicht hätte es besser heißen müssen: „Unzureichende Grundsicherung bei Erwerbsminderung kein Thema“. In unserem ausführlichen Jurybericht, der bald auf dieser Website erscheinen wird, wird das etwas klarer. Es geht uns um teilweise und dauerhaft volle Erwerbsminderung nach dem SGB XII.

    Wir kritisieren, dass es in der Berichterstattung meist um HartzIV-Empfänger und die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt geht, die Lebensrealität von erwerbsgeminderten Personen hingegen kaum beachtet wird.

  9. @10 Tilman Auch eine Minirente macht bereits einen Unterschied. Beispiel Versicherung: Angemessene Aufwenden hierfür (ein meistens unproblematisches Beispiel ist etwa eine Haftpflichtversicherung) können vom Einkommen abgezogen werden, bevor dieses auf die Grundsicherung (hier im Sinne von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII) angerechnet wird. Entsprechend ist dann der Zahlbetrag der Grundsicherung höher, da diese bis zum Regelbedarf aufgestockt wird. Im Endeffekt zahlt also hier das Sozialamt die Haftpflichtversicherung. Dieses Abziehen und dann wieder Draufschlagen funktioniert aber nicht, wenn es kein Einkommen gibt, von dem abgezogen werden könnte.

    Im Falle der Haftpflicht ist außerdem der durch die Versicherung Geschützte letztlich der vom Grundsicherungsempfänger Geschädigte, dann aufgrund des Pfändungsschutzes ist es unmöglich ansonsten als Geschädigter sonst Ersatz zu erhalten. Im SGB II ist das (man möcht schreiben natürlich) nochmal alles ganz anders: Hier funktioniert dies zwar auch nur über Aufrechnung mit Einkommen, aber in Form einer Pauschale, so dass es auf das tatsächliche Bestehen einer Versicherung nicht ankommt.

  10. Zu 5. Es gibt im Sozialrecht die Begriffe Arbeitsunfähigkeit, Berufsunfähigkeit und Erwerberbsunfähigkeit, die Unterschiedliches bedeuten. Außerdem gibt es eine (teilweise) Erwerbsminderung. Die Grundsicherung teilt sich ein in Grundsicherung für Erwerbsfähige nach dem SGB II (vulgo Harz IV) und Grundsicherung für Erwerbsunfähige nach dem SGB XII (was man früher Sozialhilfe und etwas später dann Sozialhilfe beziehungsweise Grundsicherung nannte und so noch in der Kapiteleinteilung des SGB XII fortlebt).

    Zwischen den Systemen den SGB II und des SGB XII gibt es in der Tat einige merkwürdige und wenig beachtete, für die Betroffenen aber schwerwiegende Unterschiede http://www.tacheles-sozialhilfe.de/forum/thread.asp?FacId=1584727 http://www.tacheles-sozialhilfe.de/forum/thread.asp?FacId=1805942 http://www.tacheles-sozialhilfe.de/forum/thread.asp?FacId=1406326

    Es ist mir leider nicht so ganz klar, wovon die Nr. 5 spricht, oder zu sprechen versucht. Von Berufsunfähigkeitsrentnern?

  11. @ Tilman: Danke für Ihr Feedback. Was die gefälschten Bewertungen angeht, so finden Sie unter der folgenden Adresse weitere Informationen:

    http://www.derblindefleck.de/index.php/top-themen/top-themen-2011-und-2012/2012-top-7/

    Wir haben auch mit dem Journalisten der AVF-Bild gesprochen (Auszüge am Ende des Berichts). Seine Recherche ist ein guter Anfang, allerdings auch ziemlich alleinstehend. In vielen Redaktionen scheint der Blick für das Thema zu fehlen, weitere Probleme sind natürlich immer Rechercherisiken und -aufwand. Denn solche Recherchen sind nichts für zwischendurch und bergen das Risiko, dass der Informationsertrag überschaubar bleibt.

  12. Was bitte ist denn so tragisch an Punkt 10? Kunsturin ist ein wirksames Mittel um sich vor der reaktionären Drogenpolitik dieses Landes und Kriminalisierung zu schützen. Es benötigt nicht viel Nachforschungen, um herauszufinden, dass der Urintest völlig schwachsinnig ist, da die Abbauprodukte vieler Drogen im Urin wesentlich länger nachweisbar sind, als die Droge selbst überhaupt wirksam ist.

    Schade. Hätte diesen Artikel fast geshared, aber auf Grund dieses reaktionären Unfugs, lass ich das mal lieber.

    • @bert: würde mehr über die drogentests berichtet, wäre die drogenpolitik in all ihren facetten sicher auch medienthema – die themen auf der liste sollen ein anstoß für journalisten sein in alle richtungen weiter zu recherchieren.

  13. Frau Fritz, zu Punkt zehn:
    In vielen Behörden, vorwiegend in Ballungsräumen wie Berlin oder dem Ruhrgebiet, wird der Testperson vor dem Urinieren ein gesundheitlich unbedenklicher Markierungsstoff verabreicht, der im Nachhinein im Urin nachweisbar ist. Somit ist der Betrug mit Mitteln wie „CleanUrin“ oftmals garnicht möglich.

  14. Es macht mich ein Stück weit betroffen, welche Themen hier als diskussionswürdig vorgestellt werden. Wenn dann noch offensichtliche Unrichtigkeiten enthalten sind (ein Rentenstreit vor einem Zivilgericht???) entsteht der Eindruck (zumindest bei mir), dass hier Bedeutungslose versuchen, in die öffentliche Diskussion zu kommen, mit was für hanebüchenen Themen auch immer. Trauriges Beispiel deutschen Hochschulkultur.

    • Lieber Herr Lembke, Zivilgericht wird in dem Bericht als Oberbegriff benutzt – auch für Sozial- und Arbeitsgerichte.

  15. herr macke,
    hilfsweise: die initiatibe hat wohl keinen besonderen newsletter, bietet aber einen rss-feed oben rechts auf dieser seite.
    alle veröffentlichungen auf der website können Sie damit in jedem browser verfolgen (ähnliches gilt für die meisten anderen websites, die dazu das orange symbol mit den viertelkreisen zeigen.)

  16. Sehr geehrte Damen und Herren,
    Liebe Kolleginnen und Kollegen, von Ihrer Intiative habe ich heute zum ersten Mal gehört ( meine Schande…).Dass es da eine Stelle gibt, die in einem Heuhaufen von Informationen nach kleinen, vergessenen Nadeln sucht, ist großartig. Existiert eigentlich ein ‚Newsletter‘, damit man immer up to date mit Ihren Forschungen ist?

    Alles Gute aus München,
    Carl Wilhelm Macke
    ( Koordinator von ‚Journalisten helfen Journalisten e.V. )

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