2012: Top 6

Vergessene  Zivilprozesse

In Deutschland finden jährlich etwa doppelt so viele Zivilprozesse wie Strafprozesse statt – dennoch wird in den Medien überwiegend über die skandalträchtigeren Strafprozesse berichtet. Dabei kommen häufig die Verfahren an den anderen Gerichten (wie auch Arbeits- oder Sozialgerichten) zu kurz. Dort werden Fälle verhandelt, deren Inhalte und Urteile für viele Bürger relevant sind – so zum Beispiel eine langjährige Auseinandersetzung um eine Erwerbsminderungsrente mit umstrittenem Ergebnis.

Sachverhalt & Richtigkeit

Eine zwischen 2004 und 2006 am Institut für Journalistik (IfJ) der TU Dortmund durchgeführte Untersuchung der Justizberichterstattung in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) und der Süddeutschen Zeitung (SZ) zeigt, dass knapp die Hälfte der in diesem Zeitraum erschienenen Gerichtsberichte Strafprozesse behandelte. Nur ein Viertel der Artikel setzte sich mit Zivilprozessen auseinander. Der Rest beschäftigte sich unter anderem mit Arbeits- und Sozialgerichten oder lieferte Hintergrundinformationen zur Justiz. Diese Verteilung deckt sich mit den Alltagserfahrungen befragter Journalisten. Gleichzeitig steht sie in einem starken Kontrast zur tatsächlichen Anzahl der Verfahren an den jeweiligen Gerichten.

Durch die hohe Anzahl täglicher Verfahren gehen spannende und für die Öffentlichkeit relevante Fälle in der Berichterstattung oft unter. Über den folgenden Einzelfall hätten lokale und regionale Medien zum Beispiel berichten müssen: Seit fast einem Jahrzehnt versucht Frau R., die am Fibromyalgie-Syndrom leidet, Erwerbsminderungsrente zu bekommen. In ihrem Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Oldenburg und dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ging es um die Anerkennung der Krankheit im Allgemeinen und in diesem Zusammenhang auch um den Nachweis von Rehabilitationsmaßnahmen sowie die Wertung von Gutachten. Da die Gerichte Frau R.s Forderungen ablehnten, zahlt ihr die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) keine Erwerbsminderungsrente – aus Sicht der Betroffenen zu Unrecht. Das ärztliche Gutachten, das ihr eine verminderte Erwerbsfähigkeit bescheinigt, wurde vom Landessozialgericht nicht anerkannt, weil kein Folgegutachten von einem Facharzt erstellt worden war. Andere Gutachten, die der Betroffenen eine größere Arbeitsfähigkeit bescheinigen, werden von dem Gericht höher bewertet. Aus Sicht des Gerichts waren insbesondere Bemühungen zur Rehabilitation nicht nachweisbar. Laut Frau R. und ihrem Mann gab es diese Nachweise aus der Zeit von 1998 bis 2002; sie seien jedoch von der Versicherung vernichtet worden. Die Deutsche Rentenversicherung Bund hat dies zugegeben und sich auf Löschungsfristen berufen, die eingehalten worden seien. Das bestätigte der Bundesbeauftragte für Datenschutz in einem Schreiben, das der INA vorliegt. 2004 wurde schließlich festgelegt, dass „zahlungsbegründende Unterlagen“ – wie die der Klägerin – 30 Jahre lang aufbewahrt werden müssen. Für Frau R. kommt diese Regelung jedoch zu spät. Inzwischen fehlt dem Ehepaar nach eigenen Angaben das Geld, um weiter zu klagen.­­

Relevanz

Die Zahl der jährlichen Gerichtsprozesse an deutschen Zivilgerichten übersteigt die Zahl der Strafprozesse deutlich: Allein 2010 zählten die Zivilgerichte nach Angaben des Statistischen Bundesamtes knapp 1,6 Millionen beendete Verfahren. Davon verhandelten die Sozialgerichte rund 390.000 und die Landessozialgerichte (zweite Instanz) über 25.000 Fälle. Dem stehen nur rund 800.000 Strafgerichtsprozesse gegenüber.

Der Fokus auf Strafverfahren könnte zu einer verzerrten Wahrnehmung des deutschen Rechtssystems in der Öffentlichkeit führen. Da viele zivil-, arbeits- und sozialgerichtliche Streitigkeiten alltagsnah sind, kann eine journalistische Aufbereitung für die Rezipienten interessant und nützlich sein. Fälle wie der von Frau R. werden jedoch als Einzelfälle wahrgenommen und finden im Redaktionsalltag keine Aufmerksamkeit. Dabei zeigen die Zahlen der Deutschen Rentenversicherung Bund, dass Prozesse um Erwerbsminderungsrenten viele Menschen betreffen: 2010 wurden bei der DRV 63.200 Renten dieser Art bewilligt, 38.000 Anträge hingegen wurden abgelehnt. Gegen die DRV wurde 2010 insgesamt 21.204 mal geklagt (nicht ausschließlich wegen Erwerbsminderungsrenten). 21 Prozent der Verfahren wurden zu ihren Gunsten entschieden, in drei Prozent der Fälle zugunsten des Versicherten; 13 Prozent der Fälle erledigten sich durch Anerkennung, 14 Prozent durch Vergleich – knapp die Hälfte der Klagen wurde zurückgewiesen oder zurückgenommen.

Allein die Information darüber, wie mit den Daten von Frau R. umgegangen wurde, wäre für viele Leser relevant, da sie auch ihren Erfolg vor Gericht entscheidend beeinflussen könnte.

Vernachlässigung

Über den oben beschriebenen Einzelfall berichtete im Juni 2012 erstmals die Nordwest-Zeitung. Obwohl sich Frau R. im Laufe der Jahre an verschiedene Medien gewandt hatte, wurden die vielen Gerichtsverfahren nicht begleitet. Die vom Ehemann der Betroffenen angeschriebene taz verwies auf die Berichterstattung über eine Fibromyalgie-Betroffene und deren Schwierigkeiten mit der Anerkennung der Krankheit im Jahr 2008. Als Vertreterin einer Selbsthilfegruppe sei diese in der Lage gewesen, für viele Betroffene zu sprechen.

Auch Journalisten schätzen die Berichterstattung über Prozesse jenseits von Strafverfahren als deutlich vernachlässigt ein. Für Medienschaffende ist es oftmals schwierig, interessante Fälle außerhalb der Strafgerichte zu entdecken. Während bei Strafverfahren die zuständigen Gerichte die Presse regelmäßig über anstehende Prozesse und Termine informieren, gibt es einen derartigen Service für Arbeits-, Sozial- und Zivilverfahren selten. Journalisten sind daher auf Tipps von Richtern, Anwälten oder Beteiligten angewiesen – die Berichterstattung hängt somit von der Qualität der Quellen und vom Zufall ab. Gerichtspressesprecher  berichten, dass sie selbst auf Hinweise der Gerichtsmitarbeiter angewiesen seien. Bei der Masse an Fällen einen repräsentativen Überblick zu schaffen, scheint fast unmöglich. Die Gerichte selbst werden so in einem gewissen Maße zu „Gatekeepern“ für die (journalistische) Information der Öffentlichkeit. Diese Tatsache sollte unter (Gerichts-) Journalisten breiter diskutiert werden.

Quellen

Julia Siekmann: „Nur Mord und Totschlag?“, 23.10.2007, Medien-Monitor,

http://www.medien-monitor.com/Nur-Mord-und-Totschlag.679.0.html, abgerufen am 25.6.2012

Justizministerium NRW: „Richtlinien für die Zusammenarbeit mit Medien“, 12.11.2007, http://www.datenbanken.justiz.nrw.de/pls/jmi/jvv_proc_bestand?v_bes_id=1495, abgerufen am 25.6.2012

Statistisches Bundesamt: „Gerichtsverfahren. Zahlen & Daten zur Rechtspflege“,

https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Rechtspflege/Gerichtsverfahren/Tabellen/Gerichtsverfahren.html

und „Ausgewählte Zahlen zur Rechtspflege. Tabelle 1.4.6. Sozialgerichte“, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/GerichtePersonal/Sozialgerichte2100270107004.pdf?__blob=publicationFile, beide abgerufen am 25.6.2012

Prof. Dr. jur. Udo Branahl, ehemaliger Professor für Medienrecht und Justizberichterstattung am Institut für Journalistik (IfJ) der TU Dortmund, Gespräch am 19.6.2012

Prof. Dr. jur. Udo Branahl: „Die Justizberichterstattung der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) und der Süddeutschen Zeitung (SZ) im Vergleich“, unveröffentlichte Studie des Instituts für Journalistik (IfJ) der TU Dortmund

und „Justizberichterstattung – Eine Einführung“, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2005

Holger Weimann, Norbert Leppert, Frauke Höbermann: „Gerichtsreporter – Praxis der Berichterstattung“, ZV Zeitungs-Verlag, 2005

Wilhelm Schneider, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München und Pressereferent für Zivilsachen, Gespräch am 17.6.2012

Ulrich Schorn, Pressesprecher und Richter am Sozialgericht Dortmund, Gespräch am 21.6.2012

Kathrin Melliwa, Gerichtsreporterin der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) und der Westfälischen Rundschau (WR), Gespräch am 18.6.2012

Jörn Hartwich, Gerichtsreporter des Journalistenbüros „Artikel 5“, Gespräch am 18.6.2012

Joachim F. Tornau, Gerichtsreporter des Journalistenbüros Kassel, Gespräch am 18.6.2012

E.R., Ehemann der betroffenen Fibromyalgie-Patientin E.R., E-Mail-Wechsel u.a. am 14. und 19.6.2012

E.R.: „Zwergdavid gegen Riesegoliath. Schwerbehindert und chronisch krank gegen die Deutsche Rentenversicherung Bund“ (Internetseite der Betroffenen E.R.)

http://zwergdavid-riesegoliath.jimdo.com/, abgerufen am 25.6.2012

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, „Urteil, Az.: L 10 R 538/07“, 7.12.2009

 

Manuela Budewell, Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV), E-Mail-Wechsel am 22.6.2012

Friedrich-Karl Matten, Bundesbeauftragter für Datenschutz: Schreiben an die betroffene Fibromyalgie-Patientin und ihren Ehemann auf deren Beschwerde und E-Mail hin, 9.11.2011 und 29.11.2011

Kommentare

Prof. Dr. jur. Udo Branahl, ehemaliger Professor für Medienrecht und Justizberichterstattung am Institut für Journalistik (IfJ) der TU Dortmund:

„Das Problem bei der Justizberichterstattung sehe ich darin, dass die Strafjustizberichterstattung wegen ihres Unterhaltungswertes und ihrer relativ leichten Zugänglichkeit bevorzugt wird und dadurch wichtige Themen aus anderen Bereichen, zum Beispiel Entscheidungen zum Verbraucherschutz, zum Sozialrecht, zum Arbeitsrecht, eher vernachlässigt werden.“

Jörn Hartwich, Gerichtsreporter des Journalistenbüros „Artikel 5“:

„Ich denke, viele Gerichtsreporter würden gerne viel mehr über Zivilthemen berichten. Diese Themen sind einfach näher am Menschen und am Leser. Die wenigsten haben einen Mörder in der Familie, aber einen Nachbarn, über den sie sich ärgern, Schneeschipp-Probleme im Winter oder Angst vor vermeintlich gefährlichen Hunden. Hier böten sich sicherlich viele Fälle als Unterhaltungs- oder Servicethema an. Aus der Masse an Verfahren, die keinem Nachrichtenfaktor entsprächen, ist es schwierig, die interessanten Fälle herauszuholen.“

Joachim F. Tornau, Gerichtsreporter des Journalistenbüros Kassel:

„Das Problem ist, dass man von den Gerichten über sozial- oder zivilrechtliche Verfahren in der Regel nicht informiert wird. Interessante Termine selbst zu recherchieren, wäre zwar möglich. Es ist aber so aufwendig, dass dafür unter dem Zeitdruck des Arbeitsalltags faktisch kein Raum bleibt. Auch deshalb wird vorherrschend über Strafprozesse berichtet. Die Wahrnehmung der Leser/innen kann das durchaus verzerren, weil möglicherweise der Eindruck entsteht, dass man vor lauter Kriminalität seines Lebens nicht mehr sicher sein kann. Und dass man kaum die Haustür verlassen kann, ohne einen Knüppel auf den Kopf zu bekommen – was natürlich Unsinn ist.“

 

Update vom 28.7.2012