2012: Top 5

Hartz IV bei Krankheit – kein Thema

Menschen, die durch eine Behinderung oder chronische Krankheit arbeitsunfähig geworden und auf Sozialleistungen vom Staat angewiesen sind, haben oft Schwierigkeiten, ihre gesundheitliche Versorgung sicherzustellen. Sie können zusätzlich zur bedarfsorientierten Grundsicherung bei Erwerbsminderung einen geringen Betrag für Mehrbedarf bekommen, dieser reicht jedoch oft nicht aus. Wenn sie z.B. nicht-verschreibungspflichtige Medikamente (OTC-Arzneimittel) benötigen, müssen sie diese häufig selbst bezahlen. Auch für die Bewältigung ihres Alltags entstehen zusätzliche Kosten aufgrund ihrer Erkrankung. Das Schlagwort Hartz IV wird in der Medienberichterstattung größtenteils nur auf die arbeitsfähige Bevölkerung bezogen. Schwerpunkt ist deshalb auch meist die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, die jedoch für dauerhaft berufsunfähige Menschen keine Rolle spielt. Die Lebensumstände der vielen berufsunfähigen Sozialleistungsempfänger sind dagegen nur selten ein Thema. Eine Aufklärung darüber könnte dazu beitragen, dass die Betroffenen und ihre Familien ihre Rechte besser kennen und wahrnehmen.

Sachverhalt & Richtigkeit

Menschen, die wegen einer chronischen, psychischen oder physischen Krankheit nicht mehr in der Lage zur Erwerbstätigkeit sind, haben laut Sozialgesetzbuch XII das Recht auf finanzielle Grundsicherung. Ein Recht auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung als eigenständige Sozialleistung haben Menschen zwischen 18 und 65 Jahren. Um diese zu erhalten, müssen sie sich vom Arzt bestätigen lassen, dass sie nicht in der Lage sind, mindestens drei Stunden (voll erwerbsgemindert) oder sechs Stunden am Tag (teilweise erwerbsgemindert) zu arbeiten.

Die bedarfsorientierte Grundsicherung bei Erwerbsminderung regelt, wie viel Geld einer Person zusteht. Die Leistungen orientieren sich an den Regelsätzen der Sozialhilfe. Dazu kommen die Kosten für Unterkunft, Heizung und Krankenversicherung. Der individuelle Mehrbedarf ist je nach Person individuell geregelt. Eine Ausnahme stellen gehbehinderte Menschen mit einem Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen „G“ dar, die einen weiteren Zuschuss von 17 Prozent der maßgebenden Regelbedarfsstufe erhalten.

Der Gesundheitszustand vieler Betroffener führt zu Einschränkungen im Alltag – oft können sie den eigenen Haushalt nicht mehr selbstständig führen und benötigen daher Hilfe von außen. Diese wird jedoch nicht immer vom Staat finanziert. Auch teure Medikamente werden oft nicht von der Krankenkasse übernommen. Dabei handelt es sich um so genannte OTC-Präparate, die apothekenpflichtig und gleichzeitig nicht verschreibungspflichtig sind. Solche Medikamente werden nur in Ausnahmefällen von der Krankenkasse bezahlt  – nämlich dann, wenn sie im Rahmen der OTC-Übersicht liegen. Die Therapieverschreibung ist eine Ermessensentscheidung des Vertragsarztes. Wenn dieser die Therapie nicht für nötig hält (laut Vorschrift sind Sonderfälle etwa Lebensbedrohung), muss der Kranke für das Medikament selbst aufkommen. Die Grundsicherung reicht hierfür in vielen Fällen nicht aus.

Relevanz

Statistiken der letzten Jahre belegen, dass immer mehr Menschen aufgrund einer schweren Krankheit aus dem Berufsleben vorzeitig ausscheiden müssen. Etwa jeder Vierte in Deutschland beendet seine berufliche Laufbahn vor Erreichen des Rentenalters. Erkrankungen des Skelett- und Bewegungsapparats und Nervenerkrankungen sind die häufigsten Ursachen dafür. In der Folge können die Betroffenen ihren finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen und sind auf Sozialleistungen angewiesen. Diese sichern lediglich die Existenzgrundlage, sodass für Viele der finanzielle und soziale Abstieg vorprogrammiert ist. Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen, dass die Zahl der Empfänger von Grundsicherung bei Erwerbsminderung seit 2003 kontinuierlich gestiegen ist. Auf Basis dieser Befunde und Risiken ist es angebracht, auf das Schicksal von Menschen hinzuweisen, die auf Grundsicherung wegen Erwerbsminderung angewiesen sind und aufgrund ihrer Krankheit einen finanziellen Mehrbedarf haben. Denn wer Leistungen in Form von Grundsicherung bezieht, lebt meist auf einem sehr niedrigen Niveau. Dies setzt sich dann im Rentenalter fort. Eine Aufklärung über das Thema könnte dazu beitragen, dass die Betroffenen und ihre Familien ihre Rechte besser kennen und wahrnehmen.

Vernachlässigung

Medien berichten regelmäßig über die Themenbereiche „Hartz IV Behinderung“ oder „Grundsicherung Behinderung“, „Hartz IV Krankheit“ und „Hartz IV Pflegebedürftigkeit“. Dabei behandeln sie vor allem Hartz IV im Allgemeinen, Altersarmut und Grundsicherung im Alter, Kinder mit einer Behinderung oder politische Veränderungen von Hartz IV-Gesetzen. Über die Lebensumstände von dauerhaft erwerbsgeminderten Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, gab es in der Vergangenheit nur wenige Artikel.

Statt über die Probleme der betroffenen Gruppe zu berichten, wird oft über Möglichkeiten der Eingliederung behinderten Menschen ins Arbeitsleben informiert, kritisiert der Sozialverband Deutschland (SoVD). Viele Menschen seien jedoch nicht in der Lage zu arbeiten und benötigten zunächst einmal staatliche Unterstützung, um ihren Lebensalltag bewältigen zu können.

Quellen

Isabell Noé: Risiko Berufsunfähigkeit. Mini-Renten bringen nichts, 22.09.2011, n-tv, http://www.n-tv.de/ratgeber/Mini-Renten-bringen-nichts-article4359286.html,  abgerufen am 03.07.2012

Anke Dworek: Unter der Armutsgrenze. Alleinstehender Fürstenberger kann von seiner Erwerbsminderungsrente nicht leben, 12.06.2012, Märkische Allgemeine Zeitung, http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/12342777/61129/Alleinstehender-Fuerstenberger-kann-von-seiner-Erwerbsminderungsrente-nicht-leben.html, abgerufen am 03.07.2012

Ute Hartling-Lieblang: Grundsicherung. Aufgestockte Rente, 26.06.2012, Mitteldeutsche Zeitung (Lokales Köthen und Bitterfeld), http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1338485315494, abgerufen am 03.07.2012

Tacheles e.V.:Bedarfsorientierte Grundsicherung“, http://www.tacheles-sozialhilfe.de/info/grundsicherung.html, abgerufen am 27.6.2012

Bundesministerium für Justiz; Sozialgesetzbuch (SGB) Zwölftes Buch (XII) – Sozialhilfe, http://www.gesetze-im-internet.de/sgb_12/index.html, abgerufen am 27.6.2012

Gemeinsamer Bundesausschuss: „OTC-Verordnung“, http://www.g-ba.de/institution/sys/faq/8/

und „Gesetzliche Verordnungsausschlüsse in der Arzneimittelversorgung und zugelassene Ausnahmen“, http://www.g-ba.de/downloads/83-691-257/AM-RL-I-OTC-2011-06-09.pdf , beide abgerufen am 27.6.2012

Information Intakt: „Bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“, http://www.intakt.info/148-0-grundsicherung.html, abgerufen am 27.6.2012

Barbara Dribbusch, Redakteurin für Sozialpolitik bei der taz, E-Mail-Wechsel am 14.6.2012

Michaela Gehms, Landespressesprecherin des SoVD, Gespräch am 15.6.2012

Mathias Richter, Leiter der Wirtschaftsredaktion der Märkischen Allgemeinen Zeitung, E-Mail-Wechsel am 15.6.2012

Kommentare

Mathias Richter, Leiter der Wirtschaftsredaktion der Märkischen Allgemeinen Zeitung:

„Wir berichten recht viel über das Thema Hartz IV, das in Ostdeutschland nun mal das Schicksal von vergleichsweise vielen Menschen beherrscht. Auch über die Lebensumstände von einzelnen Personen haben wir häufiger etwas gemacht. Dabei liegt allerdings der Fokus in der Regel dann auf Personen, die gerade nicht noch ein zusätzliches Handicap wie etwa eine Behinderung haben. Das liegt vermutlich daran, dass wir in der Regel zeigen wollen, wie das Thema Hartz IV ganz ‚normale’ Menschen, also Leute, die sich nicht vom Durchschnitt unterscheiden, betrifft. Insofern dürfte eine Doppelbenachteiligung im gesellschaftlichen Leben wie etwa Hartz IV und Behinderung in der Berichterstattung eher eine Ausnahme sein und eher im Zuge eines Artikels zum Thema Behinderung vorkommen, wo der/die Betroffene dann zudem noch auf Grundsicherung angewiesen ist – Hartz IV wird dann zu einem nicht unbedingt von vorneherein angepeilten Zusatzaspekt.“

Michaela Gehms, Landespressesprecherin des Sozialverbands Deutschland (SoVD):

„Bei den älteren Menschen und Rentnern heutzutage ist es so, dass viele sehr rech sind und wiederum genauso viele sehr arm. Die Altersarmut wird aber erst in 20 bis 30 Jahren wirklich zum Thema werden, da die Politik sich erst vor ein paar Jahren geändert hat, sodass sich die Folgen erst viel später bemerkbar machen werden. […] Journalisten berichten nicht, solange sie kein Gesicht haben, welches sie zeigen können. Ältere Menschen haben aber keine Lust darauf, ihr Gesicht zu zeigen – aus Scham. Des Weitern gibt es das Problem, dass viele bedürftige ältere Menschen sich nicht trauen, Geld in Anspruch zu nehmen, aus Angst, dass man an das Geld der Kinder geht. […] Es handelt sich quasi um einen Teufelskreis: Die bedürftigen Menschen schämen sich […] und sind dementsprechend nicht dazu bereit, ihr Gesicht zu zeigen. Solange dies nicht der Fall ist, sind die Journalisten nicht dazu bereit, über das Thema in den Zeitungen zu schreiben.“