2011: Top 9

Der Nocebo-Effekt

Schon das Wissen über Nebenwirkungen von Medikamenten und über Krankheitsverläufe kann Symptome auslösen. Diese so genannten Nocebo-Effekte können tödlich verlaufen – selbst, wenn der Patient die Worte des Arztes nur falsch verstanden hat und deshalb glaubt, schwer krank zu sein. Die wenigsten Ärzte sind sich allerdings der Macht ihrer Worte bewusst. Anders als der Placebo-Effekt ist die Nocebo-Problematik unter Medizinern wenig bekannt, was auch an der geringen Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit liegt.

Sachverhalt & Richtigkeit
Beim Nocebo-Effekt (von lat. nocebo – „ich werde schaden“) erwartet der Betroffene eine Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustandes, welche dann auch eintritt. Er ist das Gegenstück des Placebo-Effekts, bei dem eine Besserung erwartet wird und eintritt. Beispiel für einen Placebo: Ich nehme eine Kopfschmerztablette und schon nach zehn Minuten bin ich schmerzfrei, obwohl der Wirkstoff erst nach einer halben Stunden tatsächlich wirksam wird.

Der Nocebo ist ein fast schon alltägliches Phänomen: Wer die Packungsbeilage liest, ein Gespräch mit Arzt oder Apotheker über Nebenwirkungen führt oder in den Medien über eine neue Erkältungswelle hört, kann schnell betroffen sein. Auch im Bereich der Vorsorge wiegt der Nocebo-Effekt schwer. So kann allein die Aussage „Sie haben ein erhöhtes Alzheimerrisiko“ Stress auslösen und krank machen. Hirnforscher meinen den Grund dafür zu kennen: Negative Erwartungen („Von der Chemo wird mir übel“, „Im Packungszettel steht, ich könne Kopfschmerzen bekommen“, „Die Grippewelle erreicht jetzt auch meine Heimatstadt“) dämpften die Ausschüttung des Glückshormons Dopamin im Gehirn. Ein anderes Beispiel aus der Medizin sind Berichte von Krebspatienten, die bereits vor Beginn der Chemotherapie Symptome wie Übelkeit und Schwindel erfahren.

Relevanz
Nachweislich bricht die Wirkung eines Medikaments ein, wenn der Patient nicht an sie glaubt. Gleichzeitig häufen sich die Nebenwirkungen, wenn Patienten fest mit dem Eintreten derselben rechnen. Einige Nocebo-Forscher gehen gar davon aus, dass der Effekt zum Tod führen könne. Bekannt geworden ist der Fall von Sam Shoeman, bei dem Leberkrebs im Endstadium diagnostiziert wurde. Er glaubte, dass er nur noch wenige Monate zu leben hatte. Wenig später verstarb er. Als man den Leichnam untersuchte, waren die Ärzte erstaunt: Der Tumor war relativ klein geblieben, hatte weder andere Organe infiltriert noch Metastasen gebildet. Shoeman war nicht an Krebs gestorben, sondern an der Erwartung desselben, sagen Nocebo-Forscher wie Clifton Meador von der Vanderbilt-Universität.

Falsch gewählte Worte können die Wirkung einer Behandlung sabotieren und den Heilungserfolg boykottieren. Doch dieses Zusammenspiel von Suggestion und Auswirkung wird bisher weitgehend vernachlässigt. Viele Ärzte sehen den Menschen nach wie vor als reine Hardware; die Software bleibe oft unberücksichtigt. Dabei müssten Ärzte in jedem Einzelfall genau abwägen, wie viel sie ihren Patienten von Nebenwirkungen erzählen. Es ist ein Dilemma für Ärzte auf der ganzen Welt, da sie auf diese Weise kaum verbindliche Aussagen über die tatsächlichen Risiken von Medikamenten treffen können, gerade bei Krebspatienten müssen Ärzte sorgfältig abwägen. Lässt man Patienten beispielsweise zu lange auf Untersuchungsergebnisse warten, die für sie fatal sein könnten, kann schon die Angst vor dem Ergebnis krank machen.

Relevant ist das Phänomen auch, weil sich viele Menschen mittlerweile selbst im Internet über Krankheiten, Symptome und Nebenwirkungen informieren – der Nocebo-Effekt kann ungehindert eintreten.

Vernachlässigung
Vernachlässigt ist insbesondere die Berichterstattung über den bislang mangelhaften Umgang mit dem Nocebo-Effekt und die Unkenntnis seitens der Ärzte. Vor allem (körperliche) Fachärzte wissen selten Bescheid. Eine ausführliche Recherche mit Hilfe der Datenbank Genios ergab einige Treffer, die den Begriff „Nocebo“ im Rahmen der Placebo-Berichterstattung definieren und beschreiben sowie einen Artikel zum Nocebo-Effekt, der beim Lesen der Packungsbeilage auftritt. Gedanken zum Umgang der Ärzte mit dem Thema wurden in den vergangenen zwei Jahren lediglich in drei Artikeln der deutschsprachigen Tagespresse verschriftlicht.
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Quellen
Jürg Kesselring: „Placebo ist nicht ohne“, 3. Mai 2009, „NZZ am Sonntag“, http://www.multiplesklerose.ch/fileadmin/user_upload/MS_Gesellschaft/Dokumente/PDF-Pool/MS_in_den_Medien/placebo.pdf

Werner Bartens: „Die Macht der schlechten Gedanken“, 4. Juli 2009, Süddeutsche Zeitung, http://www.sueddeutsche.de/wissen/suggestionen-die-macht-der-schlechten-gedanken-1.123302

Harald Czycholl: „Der eingebildete Kranke“, 24. Oktober 2009, Die Welt, http://www.welt.de/die-welt/wissen/article4957591/Der-eingebildete-Kranke.html

Matthias Breidert; Karl Hofbauer: „Placebo: Missverständnisse und Vorurteile“, Deutsches Ärzteblatt, 13. November 2009, http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=66733

Harald Czycholl, freier Journalist „Die Welt“, Gespräch am 5. Mai 2010

Jutta Schulze, Unternehmenskommunikation Bayer Vital GmbH, Gespräch am 5. Mai 2010

Jürg Kesselring, Präsident der Schweizer Multiple Sklerose Gesellschaft, Gespräch am 6. Mai 2010

Klaus Lieb, Psychiater, Mezis-Gesellschaft, Gespräch am 6. Mai 2010

Dietmar Österreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer, Gespräch am 25. Mai 2010

Bert Ehgartner, Wissenschaftsjournalist, Gespräch am 4. Juni 2010

Kommentare
Jürg Kesselring, Präsident der Schweizer Multiple Sklerose Gesellschaft:
„Schlechte Information, fehlende Empathie und Angstmacherei lösen Nocebos aus. Ärzte können so zur Verschlechterung beitragen. Der Begriff ist ganz wenig bekannt, auch unter Medizinern nicht. Von 100 Ärzten wissen vielleicht drei davon. Von den Medien wird der Begriff kaum aufgegriffen, er ist nicht spektakulär genug.“

Dietmar Oesterreich, Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer:
„Der Begriff Nocebo als solcher wird weder von uns noch in der wissenschaftlichen Literatur breit diskutiert. Auch in der Ausbildung der Zahnärzte sollte dieser Bereich eine höhere Bedeutung erfahren.“

Bert Ehgartner, Wissenschaftsjournalist:
„In den Medien ist der Effekt nicht wirklich präsent. Als Arzt muss ich die Karten offen auf den Tisch legen und den Patienten informieren: Wollen sie wirklich eine Diagnose, auch wenn diese falsch sein könnte? Viele sehen den Menschen als Hardware. Die Software, der Glaube wird vernachlässigt. Dabei bricht die Wirkung eines Medikaments nachweislich um 50 bis 80 Prozent ein, wenn der Patient nicht an die Wirkung glaubt.“