2011: Top 8

Alternative Geldsysteme

Das bestehende Geldsystem wird unkommentiert hingenommen. Die Presse berichtet kaum über Hintergründe und darüber wie unser Geldsystem funktioniert und gesteuert wird. Über alternative Ideen wird im Verhältnis zur Allgegenwärtigkeit des Geldes nur vereinzelt berichtet – und wenn dann über lokale Währungen wie Regiogeld oder Tauschringe. Die Ideen und systemkritischen Ansätze alternativer Geldtheoretiker bleiben auf Fachmagazine beschränkt. Nutzen und Grenzen der verschiedenen Modelle bekommen auch angesichts der derzeitigen Finanzkrise keine angemessene Aufmerksamkeit in den Massenmedien.

Sachverhalt & Richtigkeit
Schon Silvio Gesell beschäftigte sich Ende des 19. Jahrhunderts als einer der bekanntesten Geldtheoretiker mit dem bestehenden Geldsystem und schlug eine Reform vor. Ihm schwebte ein System vor, in dem Geld wie andere Waren oder Dienstleistungen, „Lagerkosten“ verursacht. Es sollte mit einem negativen Zins beziehungsweise einer Gebühr belegt werden, damit sein Wert abnimmt je länger es gehortet wird. So sollte der Umlauf des Geldes gesichert werden. Davon profitieren sollten nicht Einzelne, sondern alle aktiv am Marktgeschehen Beteiligten, die miteinander handeln. Das Gesellsche, zinslose, umlaufgesicherte Geld wird auch Freigeld, Schwundgeld oder Neutrales Geld genannt, das niemandem einen einseitigen Vorteil verschaffen soll, sondern neutral allen zugute kommt.

Als erfolgreichster Versuch in der Praxis zinsfreies und umlaufgesichertes Geld nach Gesell einzuführen, gilt das österreichische Projekt Wörgl. In dem Dorf wurden 1932 32.000 Freie Schillinge herausgegeben, die durch den gleichen Betrag an normalen Schillingen in der Bank abgedeckt wurden. Die Stadt ließ daraufhin eine Brücke bauen und investierte in Straßen und den öffentlichen Dienst. Material und Löhne wurden mit dem neuen freien Geld beglichen, das auch von allen örtlichen Händlern akzeptiert wurde. Eine monatliche Benutzungsgebühr musste von jedem entrichtet werden, der am Ende eines Monats noch entsprechende Banknoten besaß. Um dies zu vermeiden, seien sogar Steuern im Voraus bezahlt worden. Innerhalb eines Jahres sollen die 32.000 Schilling etwa 463 Mal umgelaufen sein und so Waren und Dienstleistungen im Wert von über 14.000.000 Schilling erschaffen haben. Die eingenommenen Gebühren wurden für öffentliche Zwecke verwendet. Als sich schließlich weitere Gemeinden für das Modell interessierten, schaltete sich jedoch die Österreichische Nationalbank ein, die um ihr Monopol fürchtete und das Drucken des lokalen Geldes verbot.

Alternative Geldsysteme sind also nichts Neues. Doch bekommen die Ideen der alternativen Geldtheoretiker vor dem Hintergrund von Finanz- oder Währungskrisen, Globalisierung, Nachhaltigkeit, Arbeitslosigkeit und Krieg, im 21. Jahrhundert eine neue Berechtigung.

Die Freigeld-Idee ist aber nicht die einzige Alternative zum bestehenden Geldsystem, daneben gibt es einige weitere, ähnliche Ansätze. Die Entwürfe gehen häufig einher mit Kritik am Zinssystem und an der giralen Geldschöpfung der privaten Banken. Ziele sind in der Regel mehr Verteilungsgerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

  • Vollgeld soll als vollwertiges, gesetzliches Zahlungsmittel unser bisheriges Geldsystem ersetzen. Bei der Idee des Vollgeldes geht es darum, auf Giralgeld zu verzichten. Giralgeld entsteht beispielsweise, wenn jemand sein Konto überzieht. Es wird auch Buchgeld genannt und kann als Bankguthaben abgehoben, also liquierdiert werden, obwohl es faktisch gar nicht existiert. Giralgeld wird häufig kritisch gesehen, Hintergrund ist die Geldschöpfung der privaten Banken, die nicht in den Händen von Regierungen oder Zentralbanken liegt. Laut der Vollgeldidee sollten Giralgeldbestände in offizielles Geld umgewandelt werden.
  • Als Freigeld, Neutrales Geld oder Schwundgeld bezeichnet man Geld, das als zinsfreies Tauschmittel einer Nutzungsgebühr unterliegt und bei Hortung an Wert verliert. Ein Praxisbeispiel ist das oben beschriebene Projekt im österreichischen Dorf Wörgl.
  • Regionalwährungen oder Regiogeld sind lokal beziehungsweise regional begrenzte Zusatzwährungen nach den Prinzipien des Freigelds. Sie sollen die lokale und regionale Wirtschaft fördern, bekanntestes Beispiel ist der Chiemgauer. Kern des Regiogeldes sind seine Zinsfreiheit und die Umlaufgebühren.
  • Staatliche Komplementärwährungen stellen einen dritten Weg zwischen einer großen Geldreform und Regionalwährungen dar. Sie wären ein zusätzliches Tauschmittel in renditeschwachen Bereichen der Wirtschaft. Vorstellbar wären eine Pflegewährung (wie Fureai Kippu in Japan, wo eine Stunde Arbeit die Währung ist, die man später für sich oder andere einsetzen kann), Bildungswährung oder Umweltwährung.
  • Bei Tauschringen besitzen die Mitglieder Tauschkonten über die (Dienst-)Leistungen ausgetauscht werden. Es soll eine Kultur des Gebens und Nehmens ohne Bereicherung entstehen.
  • Die WIR-Bank ist eine Schweizer Mittelstandbank mit eigener Komplementärwährung für etwa 60.000 Kleinunternehmen. Die Umlaufsicherung wurde mittlerweile aufgehoben, die Währung ist aber noch immer zinsfrei.
  • Auf Alternativen Kreditplattformen, wie Smava, können Menschen Geld unabhängig von Banken leihen oder verleihen. Diese Alternative wird auch p2p-credit genannt.

In der klassischen Ökonomie wird das Geldsystem kaum diskutiert. Die alternativen Geldtheoretiker stammen zumeist nicht aus dem Bereich der Wirtschaftslehre, sondern sind Architekten, Raumplaner, Soziologen oder Ökologen. Ideen und konkrete Projekte zu alternativen Geldsystemen gibt es im Übrigen weltweit. Deutschland scheint in dieser Hinsicht eher konservativ zu sein.

Alle Modelle haben auch Schwächen und sind vor allem nicht ausreichend praktisch erprobt. Doch auch das bestehende System hat besonders in jüngster Vergangenheit Schwachstellen gezeigt.

Relevanz
Die Relevanz des Themas ergibt sich aus der alltäglichen Bedeutung von Geld und aus der Tatsache, dass sich Wissenschaftler und Sympathisanten bereits seit langem ganz konkret mit alternativen Geldsystemen auseinandersetzen, darüber in organisierter Form diskutieren (Foren, Tagungen), veröffentlichen und alternative Ideen zum Teil bereits umgesetzt werden. Nicht zuletzt verweisen Finanzkrisen sowie ökonomische, ökologische und soziale Ungerechtigkeiten auf Probleme des bestehenden Systems, das trotzdem selten grundsätzlich in Frage gestellt wird.

Da Ideen für alternative Geldsysteme meist auf einer Kritik des bestehenden Geld- und Bankensystems basieren und beispielsweise mit den Regioprojekten die regionale Wirtschaft gefördert werden soll, ist das Thema auch hinsichtlich der aktuell relevanten Stichworte Finanzkrise, Globalisierung, Nachhaltigkeit und Arbeitslosigkeit von Bedeutung.

Vernachlässigung
Komplett ignoriert werden alternative Geldsysteme von den Massenmedien nicht – die jüngste Finanzkrise hat alternativen Ideen etwas Raum gegeben. Angesichts der gesellschaftlichen, finanz- und wirtschaftspolitischen Bedeutung des Themas wird jedoch insgesamt nur sehr unregelmäßig und auch sehr oberflächlich berichtet. Über Regiogeld beispielsweise wird vor allem lokal und aktuell berichtet – Tiefgründigkeit und Verweise auf den systemkritischen Hintergrund dieser Initiativen fehlen häufig. Überregional gibt es vereinzelt Interviews mit Vertretern alternativer Ideen, doch reagieren einige Wirtschafts- und Finanzredakteure abweisend auf das Thema. Exemplarisch für diese Sichtweise bezeichnet Frank Stocker, Wirtschafts- und Finanzkorrespondent für Die Welt und Welt am Sonntag, alternative Geldsysteme als relativ bedeutungslos für den Alltag und sieht deshalb keine Vernachlässigung.

Thematisiert werden andere Geldsysteme eher in Special-Interest- oder Fachmagazinen. Ausführlichere Interviews inklusive Verweise auf weiterführende Literatur gab es auch in brand eins (2001 und 2009). Andere Medien, die zwar Interviews oder Artikel veröffentlicht haben, halten sich sehr kurz. Im Internet finden sich Foren und Blogs zu der Thematik. Zudem gibt es einige Experten, die regelmäßig Newsletter oder Veranstaltungen anbieten.

Alternative Geldsysteme sind ein komplexes Thema und meist sehr theoretisch, doch sollten Journalisten – gerade in den Finanz-, Geld- oder Wirtschaftsressorts – die Herausforderung annehmen, auch komplexe Sachverhalte für die Rezipienten aufzubereiten. Das Für und Wider der alternativen Geldsysteme sollte in der Berichterstattung erläutert und diskutiert werden.
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Quellen

Karsten Seibel und Frank Stocker: Eine neue Galaxie für Ihr Geld, Welt am Sonntag, 8. März 2009

Simone Boehringer: „Die Finanzwelt muss der Wirtschaft dienen, nicht umgekehrt“, Süddeutsche Zeitung, 9. Februar 2010

brand eins: „Eine Welt, eine Währung und mehr Wert“, Interview mit Bernard Lietaer, brand eins online, 7/2001, http://www.brandeins.de/archiv/magazin/geld-das-ueberschaetzte-werkzeug/artikel/eine-welt-eine-waehrung-und-mehr-wert.html, abgerufen am 27. Juni2011

n-tv: Vollgeld statt Giralgeld – Das Ende der monetären Fata Morgana, Interview mit Joseph Huber, http://www.n-tv.de/politik/dossier/Das-Ende-der-monetaeren-Fata-Morgana-article917399.html, abgerufen am 27. Juni 2011

Marianne van Putten: Ein neuer Umgang mit Geld, http://www.orwell-staat.de/cms/files/alternative-geldsysteme.pdf, abgerufen am 27. Juni2011

Hans Christop Binswanger: Die Wachstumsspirale, Geld Energie und Imagination in der Dynamik des Markprozesses, Marburg, 2006

Margrit Kennedy: Geld ohne Zinsen und Inflation – Ein Tauschmittel, das jedem dient, München, 1994, Auszug, Kapitel 2, http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/kennedy/english/chap2.htm, abgerufen am 22. Juni 2011

Johann Walter: „Staatliche Komplementärwährungen: „dritter Weg“ zwischen Geldreform und dezentralen Regionalwährungen?“, Zeitschrift für Ökonomie, 158-159/2008, S. 26-37

www.regiogeld.de, der Verband Regiogeld e.V. informiert über regionale Komplementärwährungen, Sabgerufen am 22. Juni 2011

Ludwig Schuster, Fachbeirat im Regiogeld-Verband, E-Mails zwischen 4. April.2011 und 10. Juni 2011, Gespräch am 21. April 2011

Prof. Dr. Hans Christoph Binswanger, Volkswirtschaftler und Buch-Autor, E-Mails zwischen 4. April 2011 und 10. Juni 2011, Gespräch am 10. Juni 2011

Prof. Dr. Joseph Huber, Wirtschafts- und Umweltsoziologe, E-Mails am 2. Mai und 6. Mai 2011

Frank Stocker, Korrespondent Wirtschaft/Finanzen für Welt/Welt am Sonntag, E-Mail am 6. Juni 2011

Christian von Hiller, Wirtschaftsredakteur FAZ, E-Mail am 6. Juni 2011

Gabriele Fischer, Chefredakteurin brand eins, E-Mails am 29. und 30. Mai 2011

Kommentare

Ludwig Schuster, Projektentwickler und Berater, Mitglied im Fachbeirat des Regiogeld-Verbands:
„Sehr dünn wird die Berichterstattung dann, wenn es nicht mehr (nur) um die spielerisch-bunte Praxis geht, sondern einerseits um eine systematische De-Konstruktion des gegenwärtigen Geldsystems, die Analyse seiner eingebauten Sollbruchstellen, die sozial destruktive Eigenlogik und andererseits um die theoretischen Grundlagen aller erdenklichen Ansätze für ‚alternative Geldsysteme‘. Besonders verwunderlich finde ich das allerdings nicht, denn die Materie der Finanzwelt ist hoch komplex. Die meisten Menschen (Ökonomen inklusive) sind Analphabeten im Hinblick auf die Konstruktion des Geldes. […] Die meisten Innovationen finden daher nicht nur außerhalb der klassischen Wirtschaftswissenschaften und der Banken- und Finanzwelt statt, sondern bleiben auch von der Öffentlichkeit unbemerkt.“

Gerald Eimer, Journalist/Redakteur, Aachener Nachrichten:
„In den Lokal- und Regionalzeitungen wird das Thema allenfalls vor dem Hintergrund von Regiogeld aufgegriffen, in den großen und überregionalen Medien werden alternative Geldsysteme meist nur am Rand abgehandelt und oft sogar in die Feuilletons abgeschoben. In den Wirtschaftsressorts scheint es hingegen kein Interesse zu geben, was aus meiner Sicht auch mit der aktuellen (betriebwirtschaftlichen) Ausbildung an Hochschulen und Fachhochschulen zu tun hat. Mit alternativen Geldsystemen beschäftigen sich doch nur verschrobene und verhuschte Weltverbesserer.“

Prof. Dr. Hans Christoph Binswanger, Autor von „Vorwärts zur Mäßigung“ und „Die Wachstumsspirale“:
„Alles dreht sich ums Geld, aber es wird nicht viel darüber geredet. In den vergangenen Jahren hat das Interesse an Geld-Themen jedoch zugenommen, auch vor dem Hintergrund der Finanzkrise. Eine öffentliche Diskussion könnte auch die Haltung der Ökonomen und Banken beeinflussen.“