2011: Top 6

Der vergessene Krieg im Kaukasus

Russland hat die Tschetschenien-Kriege für beendet erklärt, aber in der Kaukasusregion ist noch lange kein Frieden eingekehrt. Im Gegenteil: Seit Anfang der 1990er Jahre gehören Menschenrechtsverletzungen der tschetschenischen Regierung und terroristischer Kräfte zum Alltag – bis heute. Noch immer warnt das Auswärtige Amt ausdrücklich vor Reisen in den Kaukasus. Die verschiedenen Republiken seien weiterhin Schauplätze von bewaffneten Auseinandersetzungen, Entführungen und anderen Gewalttaten. Der schwelende Konflikt wurde aufgrund einer verbreiteten Kaukasusmüdigkeit in den deutschen Nachrichtenmedien zu einem vergessenen Krieg.

Sachverhalt & Richtigkeit
Zwischen Russland und Tschetschenien gab es vor allem in den 90er Jahren und zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts – so die öffentliche Wahrnehmung –  einen blutiger Konflikt: Nachdem Tschetschenien 1992 den Beitritt zur russischen Föderation verweigerte und Russland daraufhin ein Wirtschafts- und Finanzembargo verhängte, spaltete sich die Kaukasusrepublik in einen pro-russischen Norden und einen radikalen, anti-russischen Süden. Russland und Tschetschenien kämpften zwischen 1994 und 1996 im ersten Tschetschenienkrieg gegeneinander. Der Krieg traf vor allem die tschetschenische Bevölkerung, an die hunderttausend Menschen starben oder wurden vertrieben.

Als im Jahr 1999 islamistische Kämpfer von Tschetschenien aus Dörfer in der Nachbarrepublik Dagestan einnahmen, brach der zweite Tschetschenien-Krieg aus. Wieder kämpfte die Militärmacht Russland gegen ihre radikale Tochterrepublik, deren Kämpfer auch Terrorangriffe in Moskau verübten. Russland erklärte den Krieg am 29. Februar 2000 für beendet.

Im März 2007 wird Ramsan Kadyrow von der russischen Führung unter Putin als neuer tschetschenischer Präsident eingesetzt. Da seit 2004 für die Regierungen in den russischen Regionen keine Wahlen mehr stattfinden, sprechen Experten wie die Journalistin Aude Merlin von einer Diktatur und Krieg „in Form einer Diktatur“.

Im Nordkaukasus ist Korruption weit verbreitet. Religiöse Konflikte zwischen radikalisierten Islamisten, gemäßigten Moslems und Andersgläubigen sorgen für zusätzliches Konfliktpotenzial. Die russisch-tschetschenische Feindschaft ist durch die zahlreichen und langwierigen Konflikte bereits traditionell bedingt und für die Tschetschenen bestärkt der Widerstand gegen die russische Autorität ihr nationales Bewusstsein. Heute herrscht in Tschetschenien vor allem Angst und Unterdrückung. Der von Russland eingesetzte Präsident Kadyrow droht zum Beispiel potentiellen Rebellen mit der Verbrennung ihrer Häuser. 2009 wurden außerdem zehn von 93 durch staatliche Sicherheitskräfte entführte Tschetschenen tot aufgefunden, 19 gelten noch als vermisst. Zwar gibt es heute weniger Menschenrechtsverletzungen als in der Hochphase der Kriege, dennoch sind sie in Tschetschenien noch immer Realität.

Realität ist aber auch, dass die Terrorgefahr, die von Tschetscheniens Nachbarn Dagestan und Inguschetien ausgeht, momentan als höher eingeschätzt wird. Ein Grund dafür ist vor allem, dass die tschetschenische Bevölkerung von ihrem Präsidenten unterdrückt und eingeschüchtert wird, was offenen Terrorismus eindämmt.

Noch immer warnt das Auswärtige Amt ausdrücklich vor Reisen in die kaukasische Region. In den Republiken Dagestan, Inguschetien, Tschetschenien, Nordossetien und Karbadino-Balkarien gebe es aufgrund von bewaffneten Auseinandersetzungen, Entführungsfällen und Gewaltkriminalität ein hohes Sicherheitsrisiko.

Relevanz
Russland ist einer der wirtschaftlich und politisch mächtigsten Staaten der Welt, der Kaukasus ist nicht nur durch seinen Ölreichtum, sondern auch durch seine Nähe zu Europa und dem Nahen Osten ein wichtiger Landstrich. Zudem ist hier, ebenso wie im gesamten Spannungsraum zwischen westlicher und arabischer Welt, religiös motivierter Terrorismus anzutreffen.

Vernachlässigung
Meist berichten nur solche Printmedien über die Lage der russischen Kaukasusrepubliken, die sich eigene Recherchen im Ausland leisten können. Allerdings geschieht dies auch bei diesen Zeitungen nicht oft. Hervorzuheben ist, dass fast nie die humanitäre Lage der Zivilbevölkerung in den Fokus der Berichterstattung gerückt wird, sondern nur die aktuellen Einzelfälle terroristischer Aktivitäten: Berichterstattung fand beispielsweise bei dem Anschlag auf das tschetschenisches Parlament (25. Oktober 2010) oder bei Anschlägen tschetschenischer Terroristen auf russischem Boden statt.

Abseits von Tschetschenien wird über andere Kaukasus-Republiken wie Dagestan und Inguschetien, deren terroristisches Potenzial momentan als höher eingeschätzt wird, fast gar nicht berichtet. Tschetschenien gilt anscheinend in der internationalen Betrachtung nach wie vor als einziges Problemkind der Region – dies entspricht nicht der Realität.

Journalisten, die kaukasusbezogene Themen bearbeiten, sprechen von einer Russland- beziehungsweise Kaukasusmüdigkeit ihrer Heimatredaktionen. Dies liegt in erster Linie daran, dass die Vorgänge in der Region zu vielschichtig und erklärungsbedürftig sowie zu langfristig angelegt sind, um dem sensationsgewohnten Rezipienten schmackhaft gemacht werden zu können.

Quellen
Arte: „Tschetschenien – das Schweigen brechen“, Interview mit Aude Merlin vom 11. September 2009, http://videos.arte.tv/de/videos/tschetschenien_das_schweigen_brechen_1_3_-3193924.html, abgerufen am 28. Juni 2011

Auswärtiges Amt: Länderinfos zur Russischen Föderation, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01-Nodes_Uebersichtsseiten/RussischeFoederation_node.html, abgerufen am 28. Juni 2011

Auswärtiges Amt: Reisewarnung für den Kaukasus wegen der besonders hohen Gefahr terroristischer Anschläge, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/RussischeFoederationSicherheit.html (abgerufen am 28. Juni 2011)

ansTageslicht.de, investigative Website, detaillierte Informationen zur Kaukasusregion, http://www.anstageslicht.de/index.php?UP_ID=13&NAVZU_ID=121&STORY_ID=41&M_STORY_ID=295, abgerufen am 28. Juni 2011
http://www.anstageslicht.de/index.php?UP_ID=1&NAVZU_ID=16&STORY_ID=33&M_STORY_ID=114, abgerufen am 28. Juni 2011

Dmitri Babitsch: „Von wegen sicher – Neuer Terror im Nordkaukasus“, http://de.rian.ru/opinion/20101020/257483012.html, abgerufen am 28. Juni 2011

Marie-Carin von Gumppenberg/ Udo Steinbach (Hrsg.): „Der Kaukasus. Geschichte – Kultur – Politik“, München, 2008

Konstanze Jüngling, Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, Gespräch am 31. Januar 2011

Miriam Elder: „Russia´s rebellious regions: the price of Chechnya’s stability”, Global Post, 1. Februar 2010

Kommentare
Konstanze Jüngling, Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung:
„Die Menschenrechtsverletzungen halten an. In der öffentlichen Wahrnehmung wird das allerdings mittlerweile als Normalität angesehen. Es kommt zu weniger Menschenrechtsverletzungen als in der Hochphase des Krieges, aber an der Substanz hat sich nichts geändert. In Tschetschenien herrscht allenfalls eine oberflächliche Stabilität, was unter anderem dadurch zustande komme, dass Moskau Geld hinein pumpt.“

Robert Baag, Russlandkorrespondent für Deutschlandradio:
„Inzwischen gibt es im internationalen Bereich ‘wichtigere Themen’, die dem inzwischen eher komplexen, damit auch erklärungsbedürftigen Thema Tschetschenien/Nordkaukasus den Aufmerksamkeitsrang ablaufen. […] Feststellbar ist seit geraumer Zeit eine gewisse Russland-Müdigkeit bei den Heimatredaktionen. Russland, die GUS insgesamt, sind derzeit nicht sehr sexy.“

Anne Gellinek, ZDF-Korrespondentin in Moskau:
„Die Entwicklung nach Kriegsende ist schwerer darzustellen und wir haben es schwerer bei den Redaktionen Stücke zu verkaufen, weil weniger Aktion, langsamere Entwicklungen gezeigt werden müssen. Eine nachhaltige Berichterstattung wird für uns immer schwerer unterzubringen, weil sie langfristige Entwicklungen zeigen will, die auf den ersten Blick weniger spannend sind, als eine aktuelle Auseinandersetzung. Es müssen erst Anschläge geschehen mit Toten und Verletzten, damit das Interesse der Redaktionen wieder geweckt wird. Dann flackert kurz Interesse auf, nach dem Motto: Ach ja, erklär uns doch mal, was dieser Kadyrow für ein Typ ist. Das Interesse erlischt aber auch angesichts von Nachrichten aus anderen Regionen genauso schnell wieder.“