2011: Top 4

Grundrecht auf Gesundheit – nicht für alle

Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus haben in Deutschland nur in Notfällen Anspruch auf ärztliche Hilfe. Eine medizinische Grundversorgung und die Behandlung chronischer Krankheiten sind nicht gewährleistet. Betroffen sind etwa 90.000 Menschen mit Duldung und mehr als 35.000 Asylsuchende im laufenden Verfahren. Dazu kommen bis zu eine halbe Million Menschen, die sich illegal im Land aufhalten. Über das Leben mit ungesichertem Aufenthaltsstatus wird in den Medien kaum berichtet. Die Debatte über die Einhaltung der Menschenrechte wird nicht geführt.

Sachverhalt & Richtigkeit
Menschen, die geduldet sind oder eine Aufenthaltsgestattung haben (Asylsuchende im laufenden Asylverfahren), haben keine bis eingeschränkte Ansprüche auf soziale, finanzielle und medizinische Leistungen. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) liegen die Leistungen von Asylbewerbern im Status Duldung oder Aufenthaltsgestattung rund 35 Prozent unter denen von Hartz IV-Empfängern. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hält das AsylbLG deshalb für verfassungswidrig und hat es dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt.

Obwohl die Bundesregierung im November 2010 bereits eingestanden hat, dass die Leistungen nach AsylbLG gegen das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verstoßen, hat sie bisher keinerlei Aktivität gezeigt, um das Gesetz zu ändern.

Auch in medizinischer Hinsicht werden Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus häufig nicht ausreichend versorgt. Menschen, die illegal nach Deutschland eingewandert sind, haben kein Recht auf medizinische Versorgung. Geduldete oder Asylbewerber haben nur ein eingeschränktes Recht auf medizinische Versorgung. Die Versorgung bei chronischen Krankheiten wird nur in akuten Fällen übernommen. Und so berichten Flüchtlingshilfegruppen auch über Fälle mit tödlichem Ausgang. Die Versorgungsbeschränkung besteht, obwohl Asylbewerber besonders häufig durch ihre Flucht körperlich und psychisch geschädigt sind und selten bis nie ein soziales Umfeld haben, das ihnen unter die Arme greifen kann.

Relevanz
Im Ausländerzentralregister waren Ende 2010 87.194 Menschen mit Duldung und 35.856 mit Aufenthaltsgestattung registriert. Im Mai 2011 wurden rund 3.421 Asylerstanträge gestellt. Studien verschiedener Einrichtungen schätzen die Zahl von in Deutschland lebenden Menschen ohne Papiere auf bis zu 500.000.

Die deutsche Gesellschaft ist nur so gut, wie sie diese schwächsten Mitglieder in ihrer Mitte behandelt. Deutschland sieht sich zwar inzwischen als Einwanderungsland und als führende Industrienation, die Wert auf Menschenrechte legt. Trotzdem werden Asylsuchende diskriminiert, selbst die nötigste medizinische Grundversorgung ist nicht gewährleistet. Gerichte und auch Landes- und Bundesregierungen sehen das genauso, handeln aber nicht. Darauf muss hingewiesen werden, weil immer wieder Fälle von sterbenden Illegalen bekannt werden – und die Dunkelziffer riesig ist.

Vernachlässigung
Menschen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus kommen kaum in den Medien vor. Wenn berichtet wird, dann meist in linken Medien wie der taz oder der neuen Stuttgarter Internet-Zeitung „Kontext“. Darüber, dass Menschen mit ungesichertem Status bei der medizinischen Versorgung eingeschränkt sind, wird gar nicht berichtet.

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Quellen
Bayrischer Flüchtlingsrat, Stellungnahme zum Asylbewerberleistungsgesetz vom 9. Juni 2011,
http://www.fluechtlingsrat-bayern.de/beitrag/items/verfassungswidriges-asylbewerberleistungsgesetz-endlich-abschaffen.html

Bundesregierung, Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion Die Linke von November 2010 im Bundestag, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/036/1703660.pdf

Christian Jakob, Redakteur, „Flüchtlinge müssen immer noch ins Lager“, taz, Gespräch am 10. Juni 2011

Susanne Stiefel, Redakteurin bei dem online-Projekt Kontext:Wochenzeitung, 7. Mai 2011, Gespräch am 20. Juni 2011 http://www.kontextwochenzeitung.de/no_cache/newsartikel/2011/05/geisterleben/?sword_list[0]=stiefel

Statistisches Bundesamt, Ausländische Bevölkerung am 31. 12. 2010 nach aufenthaltsrechtlichem Status, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Bevoelkerung/MigrationIntegration/AuslaendischeBevoelkerung/Tabellen/Content75/AufenthaltsrechtlicherStatus,templateId=renderPrint.psml

Kirsten Ben Haddou, Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum, Gespräch am 24. Mai 2011

Katja Hantel, UNO-Flüchtlingshilfe Bonn, Gespräch am 20. Juni 2011

Kommentare
Katja Hantel, UNO-Flüchtlingshilfe Bonn:
„Das Thema ist definitiv vernachlässigt. Die Lebenssituation von Flüchtlingen in Deutschland ist ganz generell vernachlässigt; der ungesicherte Aufenthaltsstatus und die medizinische Versorgung sind natürlich noch einmal spezieller. Wir versuchen immer wieder, das Thema für die Medien interessant zu machen, aber es wird sehr wenig berichtet. Hin und wieder berichten kleinere Formate und regionale Medien, aber in der breiten Presse gibt es kaum Berichte.“

Susanne Stiefel, Redakteurin bei dem online-Projekt Kontext:Wochenzeitung:
„Es ist sehr schwierig, über dieses Thema zu berichten. Illegale wollen sich nicht in die Karten gucken lassen, weil sie Angst haben, abgeschoben zu werden. Ich habe ein Dreivierteljahr gebraucht, bis ich Kontakt zu meinem Protagonisten hatte. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass das Thema in Deutschland totgeschwiegen wird. In Spanien und Italien gab es immer wieder Amnestien für Illegale. In Deutschland nicht. Das Problem der Illegalen gibt es hier offiziell nicht, obwohl es Hunderttausende sind. Deshalb wird auch nicht darüber berichtet. Für die Betroffenen ist das ein unwürdiges Leben. Ein Leben als Geist, ohne Perspektive, immer mit der Angst, ausgewiesen zu werden. Ohne eine Chance, den Aufenthalt zu legalisieren.“