2009: Top 8

Schulen für Gehörlose unterrichten keine Gebärdensprache

In den meisten deutschen Gehörlosenschulen wird den Schülern keine Gebärdensprache beigebracht. In Deutschland leben rund 80.000 Gehörlose. Wissenschaftler streiten seit Jahrzehnten darüber, ob sie die Gebärdensprache erlernen sollten. Häufigstes Gegenargument: Dadurch würden die Betroffenen aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Stattdessen sollten die Schüler die Lautsprache lernen. Kritiker wenden ein, dass nur 30 Prozent der gesprochenen Sprache von den Lippen abgelesen werden kann. In den Medien wird das Thema bestenfalls als fachpädagogische Debatte behandelt.

Sachverhalt & Richtigkeit

An den meisten Gehörlosenschulen wird keine Gebärdensprache unterrichtet. In der Wissenschaft gibt es seit Jahrzehnten eine Debatte darüber, ob die Gebärdensprache gelehrt werden soll oder ob sie der Lautsprache entgegenwirkt.

Befürworter der Gebärdensprache verteidigen diese als vollständiges Sprachsystem, mit dem sich Betroffene verständigen können. Gehörlose, die ohne eine solche vollständig anwendbare Sprache aufwachsen, könnten in ihrer Entwicklung zurückbleiben. Nur zirka 30 Prozent des gesprochenen Wortes könnten wirklich von den Lippen abgesehen werden, der Rest sei Kombinieren und Raten.

Kritiker der Gebärdensprache hingegen fürchten, dass Betroffenen die Motivation fehlen könnte, die Lautsprache zu erlernen, wenn sie mit der Gebärdensprache ein System haben, mit dem sie sich verständigen können. Die Folge könnte eine Ausgrenzung aus der Gesellschaft sein. Gehörlose müssen sich in einer Welt zurechtfinden, die die Gebärdensprache nicht beherrscht. Zudem würden Betroffene durch die Verwendung der Deutschen Gebärdensprache stigmatisiert, da sie sofort als Gehörlose erkannt würden.

Relevanz

In Deutschland leben rund 80.000 Gehörlose und zirka 16 Millionen Schwerhörige. Aber nicht nur sie sind von der Ablehnung der Gebärdensprache betroffen. Das Thema ist gesamtgesellschaftlich relevant: Die Debatte betrifft nicht nur die Gehörlosen, sondern berührt die Frage, wie die deutsche Gesellschaft mit Behinderungen umgehen will. Der Deutsche Gehörlosen-Bund bezeichnet das Ausschließen der Deutschen Gebärdensprache aus dem Unterricht sogar als „Ablehnung beziehungsweise Nicht-Akzeptanz von der ,Andersartigkeit’ Gehörloser durch die Gesellschaft.“ Die Ablehnung der Gebärdensprache geht über den pädagogischen Bereich hinaus. Sie beeinflusst auch die medizinisch-technische Hörgeräteversorgung und die Beratung von Eltern gehörloser Kinder.

Vernachlässigung

Die Recherche in der Medien-Datenbank Genios hat eindeutig eine Vernachlässigung ergeben. Innerhalb von zwei Jahren wurden nur eine Handvoll Zeitungsberichte publiziert, die die Ablehnung der Deutschen Gebärdensprache in Gehörlosenschulen thematisieren. Zudem bestätigten sowohl die befragten Experten als auch kundige Autoren die Vernachlässigung des Themas.

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Quellen

Friederike von Borstell, wissenschaftliche Referentin beim Deutschen Gehörlosen-Bund, Gespräch am 24.4.2009 sowie 8.5.2009 und 12.5.2009

Prof. Christian Rathmann, Institut für Deutsche Gebärdensprache, Gespräch am 4.5.2009 sowie 12.5.2009

Katja Belz, Bundeselternverband gehörloser Kinder, Gespräch am 4.5.2009

Ulf Rödde, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Gespräch am 19.5.2009

Henning Röser, stellvertretender Lokalchef der Rheinischen Post Remscheid, Gespräch am 11.5.2009

Frankfurter Rundschau, 20.2.2007: „Gebärdensprache ist zu selten in Schulen“

Südwest Presse, 27.7.2008/Neue Württembergische Zeitung, 24.7.2008: „Mit einer Prothese in keiner Welt zu Hause“


Kommentare

Katja Belz, Bundeselternverband gehörloser Kinder:

„An den wenigsten Gehörlosenschulen in Deutschland wird das Fach Deutsche Gebärdensprache unterrichtet. Vereinzelt gibt es das Fach Gehörlosenkultur. An den meisten Gehörlosenschulen ist die Unterrichtssprache nicht die Deutsche Gebärdensprache, sondern die Lautsprache unterstützt mit vereinzelten Gebärden. Das überrascht vor allem all jene, die mit gesundem Menschenverstand, aber von außen die Situation gehörloser Kinder betrachten und selbstverständlich erwarten, dass gehörlose Kinder in ihrer Muttersprache kommunizieren dürfen. In den Medien wird dieses Thema vernachlässigt.“

Friederike von Borstell, wissenschaftliche Referentin beim Deutschen Gehörlosen-Bund:

„Die ablehnende Haltung gegenüber der Gebärdensprache, die über Jahrzehnte ein Verbot der Gebärdensprache in der Beschulung Gehörloser bewirkte, beschränkt sich nicht auf den pädagogischen Bereich. Sie erstreckt sich unter anderem auf die Beratung von Eltern gehörloser Kinder, wenn diese darauf abzielt, die Hörschädigung auf rein medizinisch-technischer Ebene per Hörgerät oder Cochlea Implantat zu ‚beheben‘, anstatt alle Optionen, die der Entwicklung und Bildung von Kindern zugute kommen – und zu diesen gehört auch die Gebärdensprache –, parallel anzubieten und zu fördern. Der Deutsche Gehörlosen-Bund hält das Thema in den Medien für vernachlässigt.“

Ulf Rödde, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft:

„Ich kann Ihnen bestätigen, dass das Thema a) von großer Relevanz ist und b) in den Medien völlig vernachlässigt wird. Hintergrund ist ein Jahrzehnte langer Streit darüber, ob die Gebärdensprache in Schulen zum Einsatz kommen sollte oder ob sich die Schule nicht völlig auf das Lippenlesen und Sprechenlernen von Gehörlosen konzentrieren sollte.“