2009: Top 4

Rechtswidrige Anwendung von Polizeigewalt

Auch in einem Rechtsstaat wie Deutschland kommen gewaltsame Übergriffe der Polizei vor. Diese Fälle werden selten aufgeklärt, denn gegen die Verdächtigen ermittelt die Staatsanwaltschaft, deren wichtigste Helfer die Polizisten sind. Kommt es dennoch zu Gerichtsverfahren, werden diese meistens eingestellt. Polizisten, die häufig neben den Opfern die einzigen Zeugen sind, sagen selten gegeneinander aus. Die Medien berichten nur über spektakuläre Einzelfälle. Es mangelt jedoch an Informationen über das alltägliche Problem und darüber, dass es keine unabhängige Ermittlungsinstanz gibt.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Die Tatsache, dass Polizeibeamte manchmal zu schnell oder absolut unbegründet zuschlagen, ist unumstritten. Wie viele dieser Fälle auftreten, ist in der Fachwelt jedoch sehr umstritten. Für Polizeigewerkschaften sind prügelnde Beamte nur einzelne schwarze Schafe. Dagegen schätzt die Sektionsgruppe Polizei von Amnesty International (AI) die Übergriffe in Deutschland auf bis zu 4.500 pro Jahr. AI führt diese Angaben auf parlamentarische Anfragen in fünf Bundesländern zurück.

Thomas Feltes, Kriminologe der Ruhr-Universität-Bochum, hält die Zahlen von AI jedoch für „skandalisierend und unseriös“. Damit das Problem überhaupt eingeschätzt werden könne, müssten andere Daten erhoben werden. Feltes fordert eine unabhängige Beschwerdestelle, um mögliche Fälle von Polizeigewalt untersuchen zu können.

Problematisch ist auch die enge Verbundenheit von Staatsanwaltschaft und Polizei. Da die Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft auch noch selbst die Vorfälle untersuche, seien die Ermittlungen nicht unabhängig, kritisiert AI. Das bestätigen mehrere Kriminologen: Die Ermittlungen werden intern geführt, was zum einen zu einer sehr rigiden Informationspolitik führt und zum anderen die Unvoreingenommenheit des Ergebnisses gefährdet.

Experten bezeichnen die Polizei als hermetische Organisation, in der sich die Kollegen nur sehr selten gegenseitig anzeigen und Gewalt als Lösung zum Teil in der Arbeitsorganisation und -überzeugung verankert ist. Wird ein Polizist angezeigt, gilt er sofort als schuldig und wird für Beförderungen und Fortbildungen gesperrt. Das erhöht den Druck und führt laut Feltes dazu, dass vieles verschleiert wird. Vor den Gerichten steht oft die Aussage eines Opfers gegen die mehrerer Polizeibeamter, weil Polizisten inzwischen meist im Team arbeiten – und diese Teams besonders gut zusammenhalten. 90 Prozent aller Verfahren wegen Polizeigewalt werden in Deutschland eingestellt, zeigen Statistiken von einigen Kriminologen.

Relevanz:

Amnesty International schätzt die Zahl der Polizeiübergriffe auf bis zu 4.500 pro Jahr. Selbst wenn die Zahl zu hoch gegriffen ist, spricht vieles für die Relevanz des Themas. Dadurch, dass die Übergriffe statistisch nicht erfasst werden, können sie gezielt vor der Öffentlichkeit verheimlicht werden. Opfer von Polizeigewalt haben laut diversen Expertenaussagen nur geringe Chancen auf Rehabilitierung. Oft werden sie selbst verurteilt statt der Polizisten, sind vorbestraft und verlieren ihre Lebensgrundlage. Dass Gewalttäter ungestraft bleiben und die Opfer verurteilt werden, liegt an der Kultur des Verschweigens, die laut Kriminologen immer wieder sowohl bei der Polizei als auch bei der Staatsanwaltschaft zu finden ist. Dort will niemand den „Kollegen“ zu sehr auf die Finger schauen, Verbrechen bleiben ungestraft.

Die Polizei hat eine besondere Stellung im Rechtsstaat. Werden Verbrechen unter ihren Beamten nicht aufgeklärt, fördert dies das Misstrauen der Bürger gegenüber dem Rechtssystem. Gewalt wird durch die fehlende öffentliche Kontrolle innerhalb der Polizeiorganisationen nicht oder wenig thematisiert. Eine gewaltfreie Polizeiarbeit wird kaum zu verhindern sein. Obliegt die Kontrolle über unangemessene Gewalt jedoch derselben Behörde, könnten Gewaltakte durch die Polizei immer alltäglicher und selbstverständlicher werden.

Vernachlässigung:

Die Thematik wird beleuchtet, wenn ein spektakulärer Fall von offensichtlicher Polizeigewalt auftritt – wie im Juli 2008 in Hagen. Dort starb ein Mann auf der Polizeiwache – unter der Obhut von Polizisten. Die Geschichte wurde in diversen Medien berichtet, nachdem eine Autorin der Frankfurter Rundschau den Hintergrund zum Tod des Mannes recherchiert hatte.

Die Journalistin schildert die Recherche als sehr schwierig, da ihr die Polizei nach den ersten kritischen Berichten kaum Auskünfte gab und sie ihrer Meinung nach gezielt in die Irre führte. Es bestehe das grundsätzliche Problem, dass keine unabhängige Ermittlungsstelle existiert, an die sie sich hätte wenden können, und dass „auch bei der für die Ermittlung zuständigen Behörde Gewalttäter arbeiten“.

Auch nach den Schlägen gegen einen Demonstranten im September 2009 in Berlin wurde das Thema der Polizeiübergriffe medial diskutiert. Ohne solche Anlässe fehlt eine Berichterstattung jedoch fast völlig. Ein Anklang des Themas ist lediglich in einigen Berichten zur Sitzung des UN-Menschenrechtsrats in Genf zu finden. Einige Medien berichteten hier, dass Deutschland für seine – angeblich oftmals auch rassistisch motivierten – Polizeiübergriffe kritisiert wurde. Auf den Grund gegangen ist diesen Vorwürfen jedoch niemand – obwohl sie sich spektakulär anhören.

Zudem sind vor allem Lokalredaktionen vom guten Willen der Polizisten abhängig, da sie auf deren Informationen angewiesen sind. Dies bestätigt nicht nur Journalistin Annika Joeres, sondern auch Kriminologen und AI-Mitglieder. Dadurch werden Fälle nur selten investigativ recherchiert. ______________________________________________________________________________

Quellen:

Annika Joeres: „Todesursache ungeklärt“, Frankfurter Rundschau vom 10.7.2008:

In dem Text geht es um die Versäumnisse von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Aufarbeitung des Todes eines Mannes auf der Polizeiwache Hagen.

Plutonia Plarre: „Polizeichef spricht von Vorverurteilung“, tageszeitung vom 22.9.2009, Der Berliner Polizeichef hält die allgemeine Empörung über die Gewalt auf der Demo „Freiheit statt Angst“ für eine Vorverurteilung seiner Mitarbeiter.

Falk Menzner, Sprecher der Sektionsgruppe Polizei von Amnesty International, Gespräch am 8.5.2009

Prof. Dr. Thomas Feltes, Kriminologe an der Ruhr-Universität-Bochum, Gespräch am 20.5.2009

Prof. Dr. Rafael Behr, Kriminologe der Polizeihochschule Hamburg, Gespräch am 20.5.2009

Annika Joeres, Journalistin, E-Mail-Wechsel am 11.8.2009

Kommentare:

Annika Joeres, Journalistin:

„Das Thema Polizeigewalt ist sicherlich vernachlässigt. Ganz einfach auch deswegen, weil die Opfer nur wenige Möglichkeiten haben, sich zu wehren und diese Vorkommnisse öffentlich zu machen. Schließlich gibt es zwischen ‚normalen’ Bürgern und den Polizisten ein solches Machtgefälle, dass im Zweifel mehr den Beamten geglaubt wird als dem möglicherweise als ‚kriminell’ abgestempelten Opfer. Meiner Meinung nach wurden hier Fakten absichtlich vertuscht.“

Thomas Feltes, Kriminologe:

„Der Druck auf die Polizisten ist extrem groß und deswegen wird viel verschleiert. Wenn es eine Anzeige gibt, sollte der Beamte zunächst als unschuldig gelten. Das ist aber bisher nicht so: Sobald es eine Anzeige gibt, kann der Polizist für alle Fortbildungen und Beförderungen gesperrt werden.“

Falk Menzner, Sprecher der Sektionsgruppe Polizei von Amnesty international:

„Es ist ein Problem, dass sich die Staatsanwaltschaften zur Ermittlung der Polizei bedienen. Bei dieser engen Zusammenarbeit entstehen im Laufe der Zeit persönliche Beziehungen.“