2008: Top 4

Gefährlichkeit starker Psychopharmaka

Neuroleptika, die zur Behandlung von Psychosen eingesetzt werden, haben starke Nebenwirkungen. Einige Forscher gehen davon aus, dass sie das Leben um mehrere Jahre verkürzen können. Trotzdem verordnen Ärzte diese Medikamente standardmäßig, um schwere Störungen zu behandeln, wenn diese etwa mit einer Selbstmordgefahr verbunden sind. In Deutschland nehmen schätzungsweise mehr als eine halbe Million Menschen Neuroleptika ein. Dennoch ist in der Öffentlichkeit wenig über die möglichen Folgen bekannt.

Sachverhalt & Richtigkeit

Die Wirkungen und Nebenwirkungen von Neuroleptika sind unumstritten stark. Zu den möglichen Nebenwirkungen gehören je nach Wirkstoffgruppe: Unkontrollierte Bewegungen wie bei Parkinson-Patienten, Störungen der Feinmotorik, des Sehvermögens und der Libido, Herz-Kreislauferkrankungen oder Wesensveränderungen.

Schwere Nebenwirkungen sind etwa das metabolische Syndrom (stark erhöhtes Risiko für Herzinfarkte) oder starke Gewichtszunahme und Diabetes. Da es auch zu Störungen bei der Blutbildung kommen kann, können Patienten beispielsweise an einem simplen Infekt sterben, da sie keine Abwehrkräfte mehr besitzen.

Ob Psychopharmaka die Lebenserwartung verkürzen, ist jedoch stark umstritten. Psychiater wie Dr. Volkmar Aderhold, der zu dem Thema verschiedene Studien ausgewertet hat, machen die starken Medikamente für die erhöhte Sterblichkeit verantwortlich. Die Mortalitätsrate wird je nach Studie unterschiedlich angegeben, die Ergebnisse reichen von zehn bis zu 25 Jahren geringerer Lebenserwartung.

Die Gegner der Neuroleptika werfen der Mainstream-Psychiatrie vor, die Nebenwirkungen der Psychopharmaka zu verharmlosen. Grund dafür seien finanzielle Interessen, da Neuroleptika als teure Medikamente sehr gewinnbringend seien.

Die meisten Psychiater halten den Nutzen der Medikamente jedoch für höher als ihre Risiken und betonen, dass Psychopharmaka vielen Kranken ein annähernd normales Leben ermöglichen.

Relevanz

Die Thematik ist aus folgenden Gründen für die Öffentlichkeit relevant:

* Laut einem Gutachten für den Verband Forschender Arzneimittelhersteller wurden im Jahr 2007 etwa 310 Millionen Tagesdosen sowohl niedrig- als auch hochpotenter Neuroleptika an gesetzlich Krankenversicherte verschrieben. Wenn man die Menge der verordneten hochpotenten Neuroleptika auf Patienten umrechnet, hätten etwa 600.000 bis 700.000 Menschen das ganze Jahr über Neuroleptika genommen. Die tatsächliche Zahl der Menschen, die dauerhaft auf Neuroleptika eingestellt sind, ist nicht bekannt – es sind aber unzweifelhaft viele, die von der Wirkungsweise der Medikamente direkt betroffen sind.

* Die Nebenwirkungen und die potenzielle Verkürzung der Lebenserwartung sind kaum bekannt.

* Neuroleptika werden im Zuge der Zwangseinweisung Patienten verabreicht, die sich nicht dagegen wehren können.

* Laut einiger Expertenaussagen werden die Medikamente teilweise in der Praxis viel zu hoch dosiert und zu schnell eingesetzt. Viele Patienten, je nach Form der Erkrankung bis zu 40 Prozent, könnten ohne die Medikamente auskommen oder zumindest auf eine dauerhafte Einnahme verzichten.

* Der Vorwurf der Verharmlosung seitens der Psychiatrie steht im Raum. Wirklich belegt werden könnte dies nur, wenn tatsächlich ein kausaler Zusammenhang zwischen den Medikamenten und der erhöhten Sterblichkeit hergestellt werden könnte. Dies ist bisher zwar nicht gelungen. Jedoch sollen solche schwerwiegenden Vorwürfe im Sinne des öffentlichen Auftrags der Medien thematisiert werden.

Vernachlässigung

Die hohen Nebenwirkungen von Neuroleptika wurden nur in wenigen Texten erwähnt. Ein Beispiel ist ein Interview in der Frankfurter Rundschau. Auch hier wird der Aspekt jedoch nur am Rande erwähnt und nicht als recherchiertes Ergebnis, sondern als Interview-Aussage von Matthias Seibt vom Bundesverband Psychiatrie Erfahrener (Einreicher des Themenvorschlags) dargestellt.

Es gibt keine Texte, die Hintergrundwissen vermitteln, die Thematik genauer beleuchten und die Ansichten der Gegner und Befürworter nebeneinander stellen. Stefan Weinmann, Psychiater und Gesundheitswissenschaftler, nennt einen möglichen Grund für die Unterdrückung einer öffentlichen Diskussion über die starken Nebenwirkungen von Seiten der Psychiater: Die Angst, Patienten könnten aus Sorge vor den Nebenwirkungen ihre Medikamente nicht mehr einnehmen und somit psychotische Zustände riskieren. Selbst in der Fachpresse würde deshalb das Thema nur vorsichtig diskutiert.

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Quellen

Annika Joeres: Text aus der Frankfurter Rundschau: „Psychiatrie verkürzt das Leben“. 29.6.2008, Frankfurter Rundschau:

Interview mit Matthias Seibt vom Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener: Hauptthema sind Zwangseinweisungen, der Aspekt der möglicherweise lebensverkürzenden Wirkung der Neuroleptika wird nur am Rande erwähnt.

Volkmar Aderhold: „Mortalität durch Neuroleptika“. August 2008, Bpe-Rundbrief 8/2007

Volkmar Aderhold, Psychiater, Gespräch am 2.12.2008

Matthias Seibt, Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener und Einreicher, Mail-Kontakt am 30.10.08

Prof. Gerhard Gründer, Psychiater vom Universitätsklinikum Aachen, stellvertretender Sprecher des Referats für Psychopharmakologie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, Gespräch am 24.11.2008

Georg Bruns, Psychiater, Gespräch am 22.12.2008

Stefan Weinmann, Psychiater, Psychotherapeut, Gesundheitswissenschaftler, momentan tätig in der Abteilung Sozialmedizin an der Charité in Berlin, Gespräch am 30.12.2008

Kommentare

Annika Joeres, Journalistin:

„Es ist sehr aufwändig, über psychische Krankheiten zu recherchieren. Denn die Betroffenen sind oft schon geschädigt, etwas wirr in ihren Ausführungen und ihre Erinnerungen sind lückenhaft. Dem gegenüber stehen eloquente Ärzte und Psychiatrieverbände. Bei kaum einem anderen Thema fällt es so schwer, Stimmen zu gewichten. Und die deutschen Medien verlassen sich eben lieber auf so genannte Experten als auf die Betroffenen selbst.“

Prof. Gerhard Gründer, Psychiater vom Universitätsklinikum Aachen:

„Psychopharmaka haben ganz allgemein einen sehr schlechten Ruf. Es heißt immer nur: Nebenwirkungen, Suchtpotenzial und die armen Patienten, die drangsaliert werden. Es wird nie über positive Wirkungen berichtet.

Vielen Patienten wird durch medikamentöse Behandlung erst ein normales Leben ermöglicht. Es wäre eine grobe Verkürzung zu sagen, dass Neuroleptika das Leben verkürzen. Die Lebenserwartung von Menschen mit Schizophrenien ist per se deutlich geringer. Einzelne dieser Substanzen können zu einer Verkürzung der Lebenserwartung führen. Zu sagen, die Medikamente hätten verheerende Auswirkungen wäre aber ein katastrophaler Trugschluss.“

Stefan Weinmann, Psychiater, Psychotherapeut, Gesundheitswissenschaftler:

„Ich gehe davon aus, dass bestimmte Medikamente das Sterberisiko für die Patienten weiter erhöhen.”