2008: Top 2

Pharmaindustrie unterwandert Patienten-Blogs

In Blogs und Foren von Patientenorganisationen wirbt die Pharmaindustrie verdeckt für ihre Produkte. PR-Mitarbeiter melden sich dort als Betroffene an und berichten von ihren guten Erfahrungen mit den Medikamenten ihrer Auftraggeber. Für echte Patienten ist dies nicht transparent. Obwohl das Sponsoring von Selbsthilfegruppen vor einigen Jahren Medienthema war, wird diese neue Dimension von schmutzigem Marketing nicht thematisiert.

Sachverhalt & Richtigkeit

Etliche Pharmafirmen in Deutschland wie Novartis in Nürnberg und Hoffmann-La Roche bei Lörrach sponsern etwa seit dem Jahr 2000 Selbsthilfegruppen, weil deren Mitglieder bei Ärzten neue, teure Medikamente und Therapien einfordern sollen.

Außerdem können die Patientenvertreter seit der Gesundheitsreform 2004 verstärkt politischen Druck durch ihre Beratungstätigkeiten ausüben, so zum Beispiel in den Gremien der gesetzlichen Krankenkassen. Die Pharmaindustrie nutzt die Glaubwürdigkeit von Patientenorganisationen, um das Werbeverbot für verschreibungspflichtige Medikamente zu umgehen.

PR-Agenturen ermöglichen der Pharmaindustrie zum Beispiel das „Guerilla-Marketing“: Dabei werden Therapien unerkannt und außerhalb der Reichweite des Heilmittelwerbeverbotes in und durch Selbsthilfegruppen beworben. Das funktioniert mit Hilfe so genannter „anonymer Multiplikatoren“ insbesondere in Internetforen der Patientenorganisationen.

Dort melden sich die PR-Mitarbeiter als Patienten an und berichten von den guten Erfahrungen, die sie mit bestimmten Medikamenten gemacht haben. Direktes Sponsoring betrifft hingegen konkrete Projekte wie Internetseiten (www.ms-life.de) oder Informationsveranstaltungen für Patienten, Selbsthilfegruppen und Journalisten.

Diese Angebote dienen dazu, Erkrankte und Angehörige mit der Glaubwürdigkeit der Selbsthilfegruppen anzulocken, um dann auf neue Therapien aufmerksam zu machen – zum Teil unabhängig davon, ob es günstigere Alternativen oder solche mit weniger Risiken gäbe.

Für den „guten Namen“ der jeweiligen Patientengruppe geben die Pharmafirmen entsprechende Spenden. Damit nicht alle Finanzspritzen nachvollziehbar sind, leisten die Unternehmen zum Teil Zahlungen an Fördervereine oder PR-Agenturen, die als Mittler fungieren. Patientengruppen, für die es keine neuen oder lukrativen Therapiemöglichkeiten gibt, sowie pharmakritische Organisationen gehen beim Sponsoring leer aus.

Relevanz

Patienten mit schweren und chronischen Erkrankungen versprechen sich von Selbsthilfegruppen die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch, Trost und unabhängige Informationen.

In Deutschland sind rund drei Millionen chronisch kranke Menschen in mehreren tausend Patientenorganisationen in Deutschland versammelt. Diese sind als Zielgruppe für Arzneimittel-Marketing sehr interessant, denn lebenslange Leiden mit teuren Therapien wie Multiple Sklerose oder Diabetes sichern Medikamentenherstellern zuverlässige Einnahmequellen.

Es ist zwar anzunehmen, dass Vorstände großer Selbsthilfegruppen durch die Berichterstattung über das Risiko der Unterwanderung informiert sind, allerdings ist fraglich, ob die Patienten sich im Einzelnen ausreichend mit den Manipulationsmöglichkeiten der Pharmaindustrie auskennen. Das geltende Verbot, rezeptpflichtige Arzneien bei Laien zu bewerben, werde umgegangen, kritisieren Experten wie der Gesundheitsökonom Gerd Glaeske.

„Wunschverschreibungen“ der Patienten haben in den USA, wo direkte Patientenwerbung erlaubt ist, dazu geführt, dass die Kosten für verschriebene Medikamente gestiegen sind. Jeder für entsprechende Werbung ausgegebene Dollar beschert den Herstellern dort einen zusätzlichen Umsatz von rund vier Dollar. In Deutschland wurden bislang keine Studien dazu veröffentlicht, wie viel die Pharmariesen in Marketingstrategien im Selbsthilfe-Bereich investieren.

Vernachlässigung

Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten wie der WDR, der ARD und 3Sat sowie bedeutende deutsche und schweizerische Zeitungen wie die ZEIT, die Sonntagszeitung (Schweiz), die tageszeitung (taz), die Süddeutsche Zeitung sowie der Spiegel haben in den vergangenen fünf Jahren sporadisch über das Thema berichtet.

Allerdings greifen viele Medienberichte dieselben Probleme und Beispiele auf, manche Journalisten wagen sich nur über bereits ausgetretene Pfade und recherchieren nach, was andere begonnen haben. Martina Kellers Dossier in der Wochenzeitung DIE ZEIT im Jahr 2005 kann als Initialzündung für die bundesweite Berichterstattung betrachtet werden. Nach Erscheinen ihres Artikels folgten andere Beiträge wie ein Panorama-Bericht. Erst 2008 erschien ein Spiegel-Bericht mit einigen neuen Informationen.

Es ist womöglich in manchen Redaktionen ein Wagnis, sich mit einflussreichen Branchen anzulegen, die auch Anzeigenkunden sind. Das Thema sollte nicht aus dem Fokus deutscher Medien geraten. Der durch die Berichterstattung erzeugte öffentliche Druck hat einzelne Pharmaunternehmen zu mehr Vorsicht oder zu selbstauferlegten „Transparenzinitiativen“ bewegt. Es ist anzunehmen, dass die meisten Medikamentenhersteller dennoch nicht auf Guerilla-Marketing und Manipulation von Patienten verzichten.

Auch wenn Pharmariesen wie GlaxoSmithKline ihre Spenden an Selbsthilfegruppen offenlegen, ändert dies nichts an der Tatsache, dass eine gesponserte Patientengruppe nicht mehr uneingeschränkt als kritische und unabhängige Anlaufstelle für Betroffene dienen kann.

Es fehlt an unabhängigen Studien über die finanziellen Erfolge der Pharmafirmen mit dem „Direct-to-patient“-Marketing und an einer kontinuierlichen Berichterstattung, die Einzelfälle ausrecherchiert und im Auge behält. Ein Thema wie dieses muss auch für die Lokalzeitungen vor Ort der Patientenorganisationen recherchiert und thematisiert werden.

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Quellen

Keller, Martina: Geben und einnehmen. Selbsthilfegruppen sind für Schwerkranke ein letzter Halt – dabei arbeiten sie oft mit Pharmakonzernen zusammen und riskieren ihre Glaubwürdigkeit, 19.5.2005, DIE ZEIT Nr. 21/2005:

Die Autorin hat ein umfangreiches Dossier mit zahlreichen Beispielen von fragwürdigem Sponsoring durch konkret benannte Firmen an Selbsthilfegruppen vorgelegt. Es ist der erste umfassende Bericht über die Beeinflussung von Patientenorganisationen, der in Deutschland erschienen ist.

Zehran, Melanie: Im Dienst von Schering & Co., 15.6.2006, die tageszeitung vom 15.6.2006

Unter den drei Millionen Mitgliedern in deutschen Selbsthilfe-Initiativen seien chronisch Kranke mit Diabetes, Asthma, Psoriasis (Schuppenflechte) oder Krebs die interessanteste Zielgruppe für die „Peer-to-Peer“-Kommunikation in der Beratung als „Guerilla-Marketing“-Strategie. In den Dachverbänden existiere zwar ein Problembewusstsein bezüglich des Pharma-Sponsorings. Dennoch seien Beziehungen und Abhängigkeiten in der Öffentlichkeit undurchsichtig.

Görlitzer, Klaus-Peter: Am Tropf der Pharmaindustrie. Nicht immer sind Patienten-Selbsthilfegruppen unabhängig, 4.1.2008, die tageszeitung vom 4.1.2008

Bonstein, Julia: Kranke Geschäfte, 21.4.2008, Der Spiegel, Heft 17/2008, S. 98:

Die Autorin beschreibt, wie die „direkte Eroberung der Patienten“ durch die Pharmabranche vorangetrieben wird. Wie in zuvor erschienen Zeitungsartikeln in der Wochenzeitung DIE ZEIT und der tageszeitung ist ihre Protagonistin Ursula Goldmann-Posch, Brustkrebs-Betroffene und Gründerin der Selbsthilfegruppe Mamazone.

Diese empfehle bei Müdigkeit während der Therapie im Internet eine Erythropoetin-Behandlung – ein Mittel der Firma Roche, dem Hauptsponsor der Patientenorganisation. Das Mittel ist umstritten, da es wahrscheinlich ein Tumorwachstum fördert. Die Autorin nennt weitere Beispiele von Einflussnahme und zitiert den Gesundheitsökonomen Gerd Glaeske.

Holland-Letz, Matthias: Patientenverband: Geld von Pharmafirmen. 29.9.2008, WDR-Sendung markt:

Der Autor legt dar, wie sich die Deutsche Gesellschaft für Versicherte und Patienten (DGVP) über einen eigens zu diesem Zweck gegründeten Schwesterverein, den Verein zur Förderung von Patienteninteressen im Gesundheitswesen (VFPG), indirekt durch die Pharmaindustrie sponsern lässt.

Martina Keller , freie Wissenschaftsjournalistin, Gespräch am 27.10.2008

Dr. Angela Spelsberg, Tumorzentrum Aachen, zuständige Ansprechpartnerin bei Transparency International Deutschland, Gespräch am 11.11.2008

Gerd Glaeske , Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik; Co-Leiter der Abteilung für Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung, E-Mail-Kontakt am 27.10.2008

Kommentare

Prof. Dr. Gerd Glaeske, Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik:

„Patienten sollen als Multiplikatoren mehr und mehr Entscheidungen zugunsten bestimmter Präparate mit beeinflussen, quasi als Pharmareferenten auftreten mit dem großen Vorteil, dass sie nicht für ein Unternehmen den Umsatz und Absatz fördern wollen, sondern aus der Betroffenheit eines Kranken argumentieren. Die Glaubwürdigkeit solcher ,Informationsträger’ steigt.“

Dr. Angela Spelsberg, Tumorzentrum Aachen, Gesundheitsexpertin bei Transparency International:

„Je größer der öffentliche Druck auf Pharmafirmen wird, Spenden an Selbsthilfegruppen zu veröffentlichen, desto raffinierter und subtiler werden die Strategien, Einfluss auf die Patientenorganisation zu nehmen. Beispielsweise fließt das Geld der Arzneimittelhersteller nicht direkt an die Gruppen, sondern zunächst an Marketing- und PR-Agenturen oder Fördervereine, die die Spenden weitergeben. So werden Geldflüsse undurchsichtig und nicht mehr nachvollziehbar.“

Martina Keller, freie Wissenschaftsjournalistin:

„Ein völlig vernachlässigtes Thema aus diesem Bereich ist meiner Ansicht nach, wie die Lobbyisten der Pharmafirmen auf europäischer Ebene die Aufhebung des Werbeverbots für rezeptpflichtige Medikamente vorantreiben. Dabei bedienen sie sich auch der Hilfe von Patientenorganisationen.“