2008: Top 10

Menschenunwürdiger Umgang mit Totalverweigerern in der Bundeswehr

Wer den Kriegsdienst in der Bundeswehr total verweigert, muss mit drakonischen Disziplinar- und Freiheitsstrafen rechnen. Der Wehrpflichtige Matthias Schirmer aus Mecklenburg-Vorpommern wurde für seine Totalverweigerung 2008 mit 33 Tagen Einzelhaft bestraft und weiteren Schikanen ausgesetzt. Laut Bundeswehrgesetz können solche Vorgänge rechtmäßig sein. Über den Fall wurde nur vereinzelt in Lokalmedien berichtet. Was sich in den Kasernen abspielt und was überhaupt Bundeswehrrecht ist, wird kaum öffentlich thematisiert.

Sachverhalt & Richtigkeit

Der Totalverweigerer Matthias Schirmer wurde von Feldjägern der Bundeswehr am 5. April 2008 zur Kaserne Viereck bei Pasewalk in Mecklenburg-Vorpommern gebracht und dort aufgrund von Befehlsverweigerung zwei Mal mit 21 Tagen Arrest bestraft, das ist die Höchststrafe.

Nach eigenen Angaben verbrachte Schirmer insgesamt zwölf Tage in einer Art Stubenarrest und 33 Tage in Einzelhaft. Schirmer trat währenddessen zwölf Tage in Hungerstreik, um gegen seine Inhaftierung zu protestieren. Er berichtet, dass er in dieser Zeit gezwungen wurde, anderen Soldaten beim Essen zuzusehen.

Nach eigenen Angaben wurde er nachts stündlich geweckt. Die Bundeswehr bestreitet dies. Kontakt zu seiner Familie konnte Matthias Schirmer nur eingeschränkt aufnehmen. Nach der Arrestzeit sprach die Bundeswehr ein Dienstverbot aus, es folgte der Prozess vor einem Zivilgericht. Schirmer lehnt den Wehrdienst aus Überzeugung ab und bezeichnet die Wehrpflicht als „nicht vereinbar mit Demokratie und Freiheit sowie den Menschenrechten“.

Das Vorgehen der Bundeswehr entspricht grundsätzlich dem Bundeswehrrecht. Wehrpflichtige, die ihrer Einberufung unentschuldigt nicht Folge leisten, werden regelmäßig von den Feldjägern (Militärpolizei) der Truppe zugeführt.

Die Weigerung, Wehrdienst zu leisten, ist ein Dienstvergehen, wenn der Soldat schuldhaft seine Gehorsamspflicht verletzt. Dieses Dienstvergehen wird regelmäßig durch den Disziplinararrest geahndet. Totalverweigerer werden letztendlich fristlos aus der Bundeswehr entlassen. Wer eigenmächtig seiner Truppe fernbleibt, um sich der Verpflichtung zum Wehrdienst zu entziehen oder die Beendigung des Wehrdienstverhältnisses zu erreichen, wird in Deutschland mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft.

Relevanz

Über Vorgänge innerhalb der Bundeswehr wird grundsätzlich nur selten und eher oberflächlich berichtet, da es schwer ist, Informationen zu bekommen. Missstände kommen daher nur in dramatischen Einzelfällen ans Licht, wie beispielsweise die spektakulären Misshandlungen von Rekruten in der Coesfelder Kaserne im Jahr 2004, die vor Gericht verhandelt wurden.

Der Fall Matthias Schirmer zeigt, dass auch extreme Disziplinierungsmaßnahmen rechtmäßig sein können. Dies wirft die Frage auf, was eigentlich sonst noch im Wirkungsbereich der Bundeswehr geschieht. Der hier vorliegende Einzelfall zeigt, dass mediale Kontrolle in diesem Bereich durchaus notwendig ist.

Hunderttausende junger Männer sind von dem Thema betroffen, da sie sich mit der Einberufung auseinandersetzen müssen. Der Kriegsdienstverweigerer, der nach Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes anerkannt werden will, muss einen schriftlichen Antrag stellen. Tut der Kriegsdienstverweigerer dies nicht, wird er einberufen und gilt somit als Soldat. Wer dem Kriegsdienst dann unentschuldigt fernbleibt, wird mit Zwangsmaßnahmen der Truppe zugeführt.

Der Freiheitsentzug mittels Disziplinararrest ist mit Unannehmlichkeiten verbunden und eventuell mit Vorstrafen wegen Fahnen- oder Dienstflucht, die das Leben der jungen Männer prägen können. Nach Schirmer wurde erneut ein Kriegsdiensttotalverweigerer (Jan-Patrick Ehlert) unter Arrest gestellt.

Vernachlässigung

In den Medien wird vor allem über die Auslandseinsätze der Bundeswehr berichtet. Darüber, was sich hinter den Mauern der Kasernen abspielt, wird von offizieller Seite nur sehr unwillig Auskunft gegeben.

Über den konkreten Fall Matthias Schirmer berichteten nur die regionale Tageszeitung „Nordkurier“ und zwei regionale Internetportale. Von den überregionalen Medien haben die „tageszeitung“, „Der Tagesspiegel“ und die „Frankfurter Rundschau“ allgemein über das Thema Schikane von Kriegsdienstverweigerern berichtet.

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Quellen

Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär:

Die Kampagne beschreibt auf ihrer Webseite den Fall Matthias Schirmer von seiner Inhaftierung bis zu seiner Entlassung.

Matthias Schirmer, Betroffener, Mail vom 22.11.2008:

Kriegsdiensttotalverweigerer Matthias Schirmer schildert seinen Fall.

Michael Behrendt, Sprecher der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär, Mail Juli 2008:

Behrendt vertritt die Auffassung, Kriegsdiensttotalverweigerer würden im Militär schikaniert und das Thema sei in den Medien kaum vertreten. Er schätzt die Zahl der Betroffenen im Jahr 2008 auf drei bis fünf. Genaue Zahlen gebe es nicht, da der Personenkreis offiziell nicht existiere. Totalverweigerer würden lediglich intern als Straftäter erfasst.

Ministerialrat Gawlitta, Inspekteur des Heeres, Bundesministerium für Verteidigung, Brief vom 18.7.2008:

Dem Schreiben zufolge war das Vorgehen gegen Matthias Schirmer rechtmäßig.

Monty Schädel, Geschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen, Einreicher des Themas, Gespräch am 16.7.2008

Elmar Laubenheimer, Rechtsanwalt für Wehrrecht, Düsseldorf, Gespräch am 24.11.2008:

Laubenheimer sagt, Matthias Schirmer sei gemäß der Gesetze der Bundesrepublik behandelt worden. Er erläutert die Rechtslage im vorliegenden Fall gemäß der Bundeswehrverordnungen.

Hans-Joachim Guth, Chefreporter Nordkurier, Telefonat am 30.12.2008

Kommentare

Elmar Laubenheimer, Rechtsanwalt für Wehrrecht, Düsseldorf:

„Totalverweigerer sind in unserem Rechtsstaat die Ausnahme und somit kein Maßstab für die Bevölkerung. Die Freiheitsentziehung durch Disziplinararrest ist mit erheblichen Unannehmlichkeiten verbunden. Eine Vorstrafe mindert zum Beispiel die Bewerbungschancen für einen späteren Ausbildungs- bzw. Studienplatz und verhindert den Zugang zum Öffentlichen Dienst.“

Hans-Joachim Guth, Chefreporter Nordkurier:

„Bundesweit ist das Thema Kriegsdiensttotalverweigerer vernachlässigt. Wenn man es nicht besser wüsste, glaubt man ja schon fast, dass es keine gibt.“