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Chemikalien gefährden die Fruchtbarkeit – eine „tickende Zeitbombe“?

Viele Chemikalien, mit denen der Mensch im Alltag in Berührung kommt, wie Lacke oder Kosmetik-Bestandteile, können Einfluss auf die Fruchtbarkeit des Menschen nehmen. Nach einer großen Mediendebatte Mitte der 90er Jahre wurde das Thema von deutschen Medien kaum noch aufgegriffen – obwohl diese Stoffe biologisch nicht abbaubar sind, und ihre Konzentration in der Umwelt stetig zunimmt. Einige Experten sprechen deshalb schon von einer „tickenden Zeitbombe“, über die es EU-weit auch zahlreiche neue Studien gibt.

Sachverhalt & Richtigkeit

Etwa 60- bis 80.000 chemische Substanzen finden weltweit Verwendung. Rund 3000 davon können nach Erkenntnis der neuen EU-Chemieagentur REACH die Fruchtbarkeit mindern – tatsächlich liegt die Zahl dieser Chemikalien aber wahrscheinlich deutlich höher, da die meisten chemischen Stoffe nie auf ihre hormonelle Wirksamkeit überprüft wurden.

Die Gefahr hormonell wirksamer Chemikalien, der „endokrinen Disruptoren“ (ED), liegt darin, dass sie eine ähnliche Molekularstruktur wie Hormone haben, ohne aber wie diese zu wirken. Gelangen sie in gewissen Konzentrationen in den Körper, können sie den Hormonhaushalt aus dem Gleichgewicht bringen: Da der Körper die ED für Hormone hält, ermittelt er einen höheren Hormonspiegel als tatsächlich gegeben – die Ausschüttung neuer Hormone bleibt aus.

Da das Hormonsystem alle Wachstums-, Entwicklungs- und Stoffwechselprozesse eines Organismus steuert, können Störungen und Fehlbildungen wie zum Beispiel anatomische Anomalien im Genitalbereich mit Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit die Folge sein. Dieser Wirkmechanismus ist mittlerweile in der Forschung unstrittig.

Vor allem Phänomene im Tierreich wie das massenhafte Robben- und Delphinsterben in der Nordsee beziehungsweise im Mittelmeer Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre, Störungen bei der Brutsorge von Meeresvögeln oder die bei männlichen kalifornischen Alligatoren beobachteten Geschlechtsumwandlungen werden auf Störungen im Hormonhaushalt der betroffenen Tiere zurückgeführt.

Während das Störpotenzial als solches auch beim Menschen erkannt ist, wird die konkrete Gefährdung, der der Mensch tatsächlich ausgesetzt ist, jedoch von der Forschung unterschiedlich eingeschätzt. Experten, die von einer großen konkreten Gefahr für die menschliche Gesundheit und Fruchtbarkeit ausgehen, führen als Indizien zahlreiche Forschungsergebnisse an, die gleichzeitig einen Hinweis darauf geben, wie facettenreich und komplex der Einfluss von ED sein könnte.

Die größte Studie ist eine Langzeituntersuchung der WHO zum menschlichen Spermium: ihr zufolge haben sich in den Industrienationen seit 1950 sowohl Anzahl als auch Qualität der Spermien halbiert – einhergehend mit dem Boom der Pestizide und ganz allgemein der chemischen Industrie seit dem Zweiten Weltkrieg.

Andere Studien betonen den schleichenden Einfluss der ED und die Tatsache, dass oft erst die Nachfolgegenerationen betroffen sind. Diese Studien haben zum Beispiel die Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung von Kindern, deren Mütter stark mit Chemikalien belastet waren, zum Ergebnis, oder liefern Hinweise auf eine Schädigung von Kindern, die erst nach Jahren normaler Entwicklung plötzlich auftreten: So war es zum Beispiel im Falle eines Medikamentes, mit dem Mütter in den 60ern einen ungewollten Schwangerschaftsabbruch verhindern konnten: die Kinder entwickelten sich völlig normal, bis die Mädchen unter ihnen plötzlich, erst zum Ende der Pubertät, schwere Missbildungen im Genitalbereich erlitten (auch die bekannten Contergan-Fälle beruhen auf demselben Prinzip hormoneller Störungen).

Nach neuesten Forschungsergebnissen aus Dänemark sind dort mittlerweile bis zu 40 Prozent der Männer unfruchtbarbeziehungsweise akut davon bedroht. Außerdem kommt es zu einem messbaren Anstieg von Hodenkrebs bei Männern und genitalen Fehlbildungen in Richtung einer „Verweiblichung“ bei männlichen Neugeborenen.

Hinzu kommen von Umwelt- und Verbraucherschutz-Organisationen dokumentierte Einzelbeobachtungen zum Beispiel aus mit PCB und Flammschutzmitteln belasteten Schulen, wo sich Fälle von Menstruationsstörungen bei Schülerinnen oder eines ungewöhnlich frühen Klimakteriums bei Lehrerinnen häufen.

Dagegen gibt es jedoch auch Experten, die die Aussagekraft der meisten der angesprochenen Studien bezweifeln und darauf verweisen, dass die bisherigen Forschungsergebnisse für eine verlässliche Beurteilung des konkreten Einflusses der ED auf den Menschen (noch) nicht ausreichen. Bemängelt wird zum Beispiel bezüglich der WHO-Studie, dass dieser in den 50ern falsche Spermienzahl-Normalwerte zugrunde gelegt wurden. Außerdem wird angeführt, dass (jedenfalls in Deutschland) im klinischen Alltag kein Anstieg von Phänomenen wie Missbildungen im Genitalbereich zu beobachten sei.

Ein weiterer Kritikpunkt – den allerdings genauso die andere Seite anführen könnte, und der ein Hauptgrund dafür ist, dass das Thema so schwer „zu packen“ ist – ist die Relativität der Wirkung von ED, die das Urteil über alle Studien-Ergebnisse schwierig macht: ED-Konzentrationen, die den einen Menschen schädigen, können von einem anderen verkraftet werden, und dieselbe Konzentration kann selbst bei demselben Menschen völlig unterschiedliche Wirkungen hervorrufen, je nachdem, in welcher Entwicklungsphase die ED in den Organismus gelangen.

Relevanz

Auch wenn sich die Forschung über eine abschließende Bewertung des Einflusses der endokrinen Disruptoren noch nicht einig ist, gilt doch ihr hohes konkretes Gefährdungspotenzial für den Menschen als bewiesen, weswegen sie mehrfach von Experten als „tickende Zeitbomben“ bezeichnet wurden. Damit ist das Thema in besonderer Weise relevant – denn betroffen ist nicht nur eine bestimmte Gruppe, sondern jeder einzelne Mensch.

Selbstverständlich ist zum Beispiel ein Arbeiter in einer Düngemittel- oder Farbenfabrik einer höheren direkten Belastung ausgesetzt, doch gänzlich entziehen kann sich den ED niemand, da sie an Orten anzutreffen sind, wo man es nicht erwartet, und die man nicht meiden kann.

Gerade dieser Aspekt, der durch zwei Feststellungen deutlich wird, ist von besonderer Relevanz (und darüber hinaus auch besonders vernachlässigt):

1. ED können nicht nur bereits in minimalen Dosen schädigen, erst zeitverzögert wirken und außerdem die Plazentaschranke überwinden (und so bereits auf die Entwicklung des Embryos Einfluss nehmen) – sie können vor allem nicht biologisch abgebaut werden. Das bedeutet ihre Konzentration in der Umwelt nimmt weltweit stetig zu.

2. Da der Mensch am Ende der Nahrungskette steht, ist er somit in besonderer Weise gefährdet, zum Beispiel durch ED in Form von Pestiziden und Giften, die ins Meer gelangen.

Die Aufnahme über die Nahrung ist aber nur eine Möglichkeit, wie der Mensch mit ED in Berührung kommt. Flammschutzmittel zum Beispiel in Möbeln, Teppichen oder Deckenplatten vor allem in öffentlichen Gebäuden sind in hohem Maße mit ED belastet. So genannte Weichmacher, die Kunststoffe geschmeidiger und bruchfester machen sollen, sind ebenfalls stark hormonell wirksam. Sie finden sich in vielen Alltags-Plastikgegenständen. Da die Weichmacher keine hundertprozentig stabilen Verbindungen mit den Kunststoff-Molekülen eingehen, „dünsten“ viele Kunststoffe permanent ED aus.

Selbst Kosmetika sind oft mit ED belastet. Eine Studie hat ergeben, dass Kinder, deren Mütter keine bzw. ausschließlich Naturkosmetik verwenden, einen höheren IQ ausweisen als die Kinder von Müttern, die „konventionelle“ chemische Kosmetika verwenden. Über die beim Waschen anfallenden Kosmetik-Rückstände wiederum sind vielfach – zusätzlich zur Belastung durch ED in den Rückständen der Anti-Baby-Pille – der Klärschlamm und die Wasserfilter mit ED verseucht. Letztlich gibt es auch Hinweise darauf, dass ED über die Atmosphäre verteilt werden. So wurden zum Beispiel in zuflusslosen Hochgebirgsseen in unbesiedelten Gebieten ED nachgewiesen.

Für die Relevanz des Themas spricht auch der Umgang der EU mit dem Thema ED: Allein im 6. Forschungsrahmenprogramm, das von 2002 bis 2006 lief, wurden dutzende Forschungsprojekte, die sich explizit mit ED beschäftigen, mit Fördermillionen ausgestattet. Auch benennt REACH, das neue EU-Chemikalienrecht, die Gefahr durch ED.

Auch wenn die konkreten REACH-Bestimmungen zur Überprüfung und Klassifizierung von Chemikalien den Umweltschutzorganisationen nicht weit genug gehen, räumt die EU damit – trotz der Macht der Chemie-Lobby – zweifelsfrei ein, dass sie von einer konkreten Gefahr für ihre Bürger durch ED ausgeht.