2006: Top 1

Fehlende Therapieplätze für Medikamentenabhängige

1,4 Millionen Menschen in Deutschland sind von Medikamenten abhängig. Therapieplätze gibt es jedoch nur für die rund 1,7 Millionen Alkoholkranken und die knapp 300.000 Menschen, die von illegalen Drogen abhängig sind. Auch sind die Therapieangebote nicht auf die Bedürfnisse der von psychotropen Medikamenten Abhängigen zugeschnitten: Sie werden meist im Alkoholentzug therapiert, der nicht auf ihre besonderen Probleme ausgerichtet ist. Obwohl der Suchtbericht 2006 der Bundesregierung die Versäumnisse benennt, fehlen in der Berichterstattung Hinweise auf das völlig unzureichende Angebot an Therapieplätzen und die möglichen Ursachen dafür.

Sachverhalt & Richtigkeit

In Deutschland gibt es schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen, die von Arzneimitteln abhängig sind (meist von psychotropen – d.h. auf den Gemütszustand wirkenden – Medikamenten, z.B. Schlafmitteln. Datenquelle: Jahrbuch Sucht 2006 DHS). Diese Zahl ist ähnlich hoch wie die der Alkoholabhängigen (1,7 Mio.) und deutlich höher als die der Menschen, die von illegalen Drogen abhängig sind (ca. 290.000). Dennoch gibt es für Tablettensüchtige so gut wie keine spezialisierten Therapieangebote: Nach Auskunft von PD Dr. Christian Haasen (Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung ZIS Hamburg) werden Medikamentenabhängige „wenn überhaupt in Einrichtungen für Alkoholabhängige behandelt, wo es keine speziellen Kenntnisse über Medikamentenabhängigkeit gibt“.

Dies bestätigt Christa Merfert-Diete von der Deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahren (DHS): Bei der Behandlung der Abhängigkeit von psychotropen Medikamenten stehe (bis auf einige neue Angebote) sehr stark der Alkohol im Vordergrund, die Angebote seien nicht genügend auf die Zielgruppe ausgerichtet. „Das ist ein Problem des öffentlichen Bewusstseins“, beklagt Merfert-Diete. „In den letzten 35 Jahren ist der Blick der politischen Entscheidungsträger viel stärker auf illegal Drogenabhängige gerichtet gewesen, auch aus ordnungspolitischen Gründen.“

Inzwischen weisen auch offizielle Stellen auf das Problem hin – so heißt es im Suchtbericht der Bundesregierung: „Spezifische Beratungs- und Behandlungsangebote bei Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit sind in den Arbeitsfeldern der Medizin, der Pharmazie und der Suchtkrankenhilfe bisher selten. Deshalb fallen Medikamentenabhängige oft aus dem Versorgungsnetz heraus.“

Die Tatsache, dass nur wenige Arzneimittelabhängige professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, könnte eine Folge der nicht auf diese Gruppe ausgerichteten Hilfsangebote sein (vgl. Karin Mohn: Hilfe für Medikamentenabhängige. In: Jahrbuch Sucht, S. 200 ff.).

Trotz des Defizits in der Behandlung von Medikamentensüchtigen ist das öffentliche Bewusstsein für das Problem noch gering. Das könnte u. a. darin begründet liegen, dass Arzneimittelabhängige unauffälliger sind als von illegalen Drogen Abhängige. Zudem ist Tablettensucht insbesondere ein Problem von Frauen (zwei Dritteln der Betroffenen) und Älteren.

Relevanz

* Das Thema ist aufgrund der hohen (geschätzten) Zahl von Betroffenen relevant. Verbesserte Therapieangebote könnten vielen von ihnen helfen.

* Darüber hinaus stellt die schlechtere Behandlung von Medikamentenabhängigen eine Ungerechtigkeit dar. Da ein großer Teil der Suchthilfe aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, ist das Thema auch unter diesem Aspekt wichtig.

* Im Übrigen ist das Thema im Kontext des Themenfeldes „legale Suchtmittel“ bedeutsam; durch eine einseitige (mediale und politische) Fokussierung auf illegale Drogen wird die Gefahr durch legale Suchtmittel verharmlost.