2004: Top 1

Aus Deutschland abgeschoben – und dann?

Viele Menschen, die aus Deutschland abgeschoben werden, sind in ihren Heimatländern existenziell gefährdet – nicht nur auf Grund staatlicher Verfolgung, sondern auch durch gesellschaftliche Ächtung und Gewalttaten. Besonders Frauen sind davon betroffen. Über solche Gefahren wird während laufender Abschiebeverfahren durchaus berichtet, was nach der Abschiebung tatsächlich geschieht, wird selten bekannt.

Sachverhalt & Richtigkeit

Frau K. floh 1992 mit ihren Kindern und ihrem Mann nach Deutschland. Dessen Asylantrag wurde nicht anerkannt, aber die Familie wurde in Deutschland geduldet. 1998 trennte sie sich von ihrem Mann, der in die Türkei zurückkehrte. Im Jahre 2002 wurde der nun allein stehenden Mutter und ihren fünf Kindern keine weitere Duldung mehr gewährt, obwohl die Gefahr der Zwangsverheiratung der älteren Töchter und die zu erwartende wirtschaftliche Not den Behörden vorgetragen wurden.

Die Entscheidung wurde aufgrund eines Verfahrensfehlers des damaligen Anwalts nicht gerichtlich überprüft, und so kam es im Oktober 2002 zur Abschiebung. Seit der Rückkehr in das kurdische Dorf lebt die Familie in einer Baracke. Die widerwillig gewährte Hilfe von Verwandten und gelegentliche Pakete und Geldsendungen von Freunden aus Deutschland ermöglichen kaum mehr als das Überleben.

Als geschiedene, allein stehende Frau wird Frau K. von den Dorfbewohnern verachtet. Ein so genannter Ehrenmord an einer Verwandten im Frühjahr 2004 hat ihr und ihren Töchtern die allgegenwärtige Gefahr, selbst Opfer einer solchen Tat zu werden, vor Augen geführt.

Was vor der Abschiebung bereits befürchtet worden war, ist inzwischen eingetreten: Die älteste Tochter, heute 17 Jahre alt, wurde im Alter von 16 Jahren von der Familie der Schwester ihrer Mutter gegen ihren Willen mit ihrem Cousin verheiratet. Sie berichtet von brutalen Vergewaltigungen in fast jeder Nacht.

Bei zu großer Auflehnung gegen die familiäre Gewalt drohte der Schwiegervater ihr mit dem Tod und der Zwangsverheiratung ihrer 15-jährigen Schwester. Eine Besucherin aus Deutschland hatte ihr zwischenzeitlich die Antibabypille besorgt, die sie heimlich einnahm, bis es die Familie entdeckte und sie verprügelte. Inzwischen ist sie schwanger. Mittlerweile besteht eine vage Hoffnung, dass die Behörden die Rückkehr nach Deutschland ermöglichen könnten.

Relevanz

Im Jahr 2003 wurden nach Angaben von Pro Asyl 23 944 Menschen auf dem Luftweg aus Deutschland abgeschoben, davon 4062 in die Türkei. Neben Menschen, die wegen Straffälligkeit abgeschoben wurden, befanden sich darunter viele, denen Asyl oder Duldung in Deutschland versagt wurden, weil ihnen in der Heimat keine Gefahr drohe.

In wie vielen Fällen sich diese Begründung als falsch erwiesen hat, ist nicht zu ermitteln, da niemand – weder offizielle Stellen noch NGOs – systematisch das Schicksal Abgeschobener beobachtet. In vielen Fällen tauchen die Abgeschobenen nach dem Eintreffen unter, um befürchteten Repressalien zu entgehen. Auch deshalb ist es schwierig, verlässliche Informationen über das Schicksal dieser Menschen zu erhalten.

m Fall der Familie K. geht die Gefährdung nicht vom türkischen Staat, sondern von den gesellschaftlichen Strukturen aus. Nach Einschätzung des Kurdischen Zentrums für Menschenrechte (IMK) sind Morde an Frauen, die in Konflikt mit den rigiden herrschenden Moralvorstellungen geraten sind, in der islamisch-patriarchalischen Gesellschaft Kurdistans weit verbreitet.

Die Türkei ist nicht das einzige Land, in dem aus Deutschland Abgeschobene Misshandlungen erleiden: Der tschetschenische Flüchtling Vakha Saiyev beispielsweise wurde nach seiner Abschiebung nach Russland verhaftet und gefoltert. In anderen Fällen gibt es nach Angaben der deutsch-russischen Menschenrechtsorganisation Memorial Anhaltspunkte für ähnliche Geschehnisse. Es ist davon auszugehen, dass auch hier viele Fälle nicht bekannt werden.

Vernachlässigung

Die Recherche des Schicksals Abgeschobener ist schwierig und kostenaufwändig. Meistens endet die Berichterstattung mit der Abschiebung. Nur wenige Betroffene tauchen danach nochmals in den Medien auf, so wie die Familie K. Die Journalistin Birgit Mittwoch besuchte sie mit einem Fernsehteam im März 2003 und zeigte die schwierige Lebenssituation der Familie in einer Reportage im ORB.

Das Team begleitete damals eine vom Kurdischen Frauenbüro für Frieden (CENI) organisierte Reise einer Frauendelegation aus Deutschland zum kurdischen Neujahrsfest. Das eigentliche Ziel der Reise war, über die Stimmung der kurdischen Bevölkerung im türkisch-irakischen Grenzgebiet am Vorabend des Krieges gegen den Irak im März 2003 zu berichten.

Auf die Geschichte der Familie K. wurde die Journalistin nur zufällig aufmerksam. Sie widmete ihr daraufhin einen großen Teil ihrer 30-minütigen Reportage. Ohne den brisanten weltpolitischen Hintergrund des beginnenden Irakkrieges, so Birgit Mittwoch, wäre es nicht zu ihrer Reise gekommen, und dieser Fall wäre nicht in die deutschen Medien gelangt.

Als einzige überregionale Tageszeitung berichtete der Tagesspiegel. Im vergangenen Jahr erschienen zwei Reportagen, eine aus Bosnien und eine aus dem Kosovo. Hier lag der Fokus jedoch eher auf der politischen Dimension der Abschiebung. Die gesellschaftlichen Auswirkungen blieben unberücksichtigt.

Das Thema kann daher als vernachlässigt bezeichnet werden – nicht zuletzt auch deswegen, weil sich die beiden genannten Reportagen auf das ehemalige Jugoslawien beziehen. Die Türkei ist nach jüngsten Zahlen das Land, aus dem die meisten Asylbewerber nach Deutschland kamen. Die Menschenrechtslage dort gilt immer noch als besonders kritisch. Dennoch kommt die Türkei in der Berichterstattung der Zeitungen nicht vor.

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Quellen

Journalistische Veröffentlichungen:

Mittwoch, Birgit: „An die Grenze zum Krieg“, gesendet am 28.03.2003 im ORB Fernsehen

Gerdts-Schiffer, Rose: „Es sind deutsche Kinder. Zabida Alzayn aus Soest wurde mit ihren sieben Söhnen und Töchtern in die Türkei abgeschoben – ein Besuch in dem Dorf, das die neue „Heimat“ sein soll“, Frankfurter Rundschau, 28.10.2003.

„Es wird systematisch gefoltert“, Interview mit Eren Keskin, türkische Menschenrechtsorganisation IHD, Die Welt, 18.12.2004.

Stern TV/RTL: „Eineinhalb Jahre auf dem Flughafen – Familie weigert sich zu gehen“, gesendet am 10.11.2004.

Bemmer, Ariane: „Hin und her gerissen“, Tagesspiegel, 19.12.2004.

Freudenreicht, Josef-Otto: „Das Heimatlos“, Tagesspiegel, 11.03.2004.

Publikationen:

Fäthke, Irmtraud: Bericht Familie K., Türkei. IPPNW akzente, Juli 2004, S. 42-46.

Burkhardt, Günter: Europäischer Rat: Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. PRO ASYL: „Ja zu fairen und ergebnisoffenen Verhandlungen – kein Rabatt bei Menschenrechtsverletzungen – nein zu populistischen Kampagnen“, Presseerklärung von Pro Asyl, 15.12.2004.

Gespräche:

Annette Flade, Flüchtlingsseelsorgerin aus Brandenburg und Vertraute der Familie K.

Anwalt der Familie K.

Birgit Mittwoch, Journalistin

Kai Weber, Flüchtlingsrat Niedersachsen

Memorial, deutsch-russische Menschenrechtsorganisation