Top Ten der vernachlässigten Nachrichten 2016

Die Jury der Initiative Nachrichtenaufklärung e. V. präsentiert jährlich zehn Nachrichten oder Themen, die in der medialen Berichterstattung zu kurz gekommen sind. Es handelt sich um Themen, die für die deutsche Öffentlichkeit relevant sind, über die aber bislang in Presse, Funk, Fernsehen und Internet kaum Debatten geführt werden. Hier können Sie einen eigenen Themen-Vorschlag einreichen.

Die Top Ten des Jahres 2016 wurden am 17. Februar im Deutschlandfunk in Köln vorgestellt. Die Präsentation können Sie auch als Multimedia-Reportage auf den Internet-Seiten des Deutschlandfunks ansehen.

Top 1: Finanzierung von Atomwaffen

Immer noch stehen deutsche Finanzinstitute in Geschäftsbeziehung zu den größten Konzernen, die Atomwaffen warten, entwickeln und herstellen. Dadurch nehmen sie in Kauf, dass sie die umfangreichen Modernisierungsprogramme von Nuklearwaffen fördern. Im Rahmen der Nuklearen Teilhabe lagert Deutschland auch US-Atomwaffen, die im Ernstfall von deutschen Tornadobombern aus eingesetzt werden. Dieser Sachverhalt widerspricht den Abmachungen, die 191 Staaten im Atomwaffensperrvertrag getroffen haben. Die wirtschaftlichen Verwicklungen Deutschlands in Sachen nuklearer Modernisierungsprogramme wurde in deutschen Medien an keiner Stelle konkreter im Zusammenhang mit dem Atomwaffensperrvertrag oder der Nuklearen Teilhabe Deutschlands kritisch reflektiert.

Top 2: EU und Euratom: Verpflichtet, die Kernkraft zu fördern

Der Zustand der Europäischen Atomgemeinschaft Euratom ist äußerst problematisch, denn deren grundlegender Vertrag hat seit seinem Beschluss 1956 keinerlei Reformen erfahren. An seiner Zweckmäßigkeit müssen darum Zweifel aufkommen. Recherchen zeigen, dass die Strukturen von Euratom ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden und eine ungleiche Verteilung der Mittel zur Vernachlässigung im Bereich der nuklearen Sicherheit führt. Die Finanzierung erweist sich weiterhin auch für die Länder als problematisch, die, entsprechend der Stimmung in der Bevölkerung, einen Atomausstieg planen und trotzdem weiterhin Zahlungen an das Bündnis zu leisten haben. Besonders vonseiten der Umweltschutzorganisation wird heftige Kritik geübt.

Die Euratom-Problematik ist kaum in den Medien diskutiert und deswegen wenig in der Öffentlichkeit bekannt. Zwar ist die Existenz des Vertrages keinesfalls ein Geheimnis, dennoch wird sie in vielen Zeitungsartikeln nur beiläufig erwähnt. Eine ausführliche Diskussion seiner Legitimierung oder problematischer Aspekte kommt dabei zu kurz.

Top 3: K.O.-Tropfen: Lieferung frei Haus und legal

Sogenannte K.O.-Tropfen können kinderleicht und ganz legal auch in erheblichen Mengen übers Internet per Post bestellt werden. Die Chemikalie Gamma-Butyrolacton, kurz GBL, kann für die Herstellung dieser K.O.-Tropfen genutzt werden. K.O.-Tropfen sind auch als „Liquid Ecstasy“ bekannt, gelten als Vergewaltigungsdroge und werden meist in Diskotheken, auf Partys oder in Bars in offene Getränke gemischt. Die Opfer werden so betäubt und anschließend ausgeraubt oder vergewaltigt. Gedächtnisverlust geht ebenfalls mit dem Bewusstseinsverlust einher. Deutsche Medien berichten zwar immer wieder reißerisch über den Einsatz von K.O.-Tropfen, dass sie aber völlig legal in Deutschland erhältlich oder kinderleicht übers Internet zu bestellen sind, ist der Öffentlichkeit nicht bekannt.

Top 4: Der Xerox-Fehler: Computer vertauschen Zahlen

Der Informatiker David Kriesel entdeckte 2013, dass Xerox-Scankopierer der Reihe Workcentre und ColorQube beim Scanvorgang Zahlen und Buchstaben vertauschen. Der Fehler fällt auf den ersten Blick nicht auf, da die Zahlen sich perfekt in das gescannte Dokument einfügen. Nicht nur die Kopierer selbst sind von dem Fehler betroffen, sondern auch von Xerox herausgegebene Softwareprodukte, wie zum Beispiel Omnipage. Im selben Jahr veröffentlichte Xerox einen Patch zur Behebung des Fehlers, allerdings erst nach intensiven Bemühungen seitens des Informatikers. Von einer direkten Ansprache seiner Kunden sah Weltmarktführer Xerox ab, darum melden sich auch heute noch Betroffene, die das Problem an ihrem Xerox-Gerät bemerken. Befallen sind hunderttausende Geräte direkt in ihren Fabrikeinstellungen. Seit 2006 besteht der Fehler, es sind also über Jahre unbemerkt fehlerhafte digitale Dokumente in die Welt gesetzt worden, die eine unzählige verfälschte Dokumente hinterlassen. Da sich nicht nachweisen lässt, welche Dokumente betroffen sind, geht auch ihr juristischer Wert gegen null. Firmen, die tagtäglich mit Zahlen arbeiten, wie z.B. Versicherungen, Banken und Baufirmen oder auch Arztpraxen, stehen vor großen Problemen. Bei historischen Dokumenten, die mithilfe von Xerox-Scankopierern archiviert wurden, kann die Autentizität nicht mehr garantiert werden. Als Folge des Fehlers verbot das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) im März 2015 den gesamten von Xerox eingesetzten Kompressionsstandard in seiner Richtlinie zum „Rechtssicheren Scannen“. In amerikanischen Medien wurde sehr breit über den Xerox-Bug berichtet, deutsche Medien dagegen brachten das Thema nur sehr sporadisch.

Top 5: Handybetrug- Wer verdient am WAP-Billing?

Jeder Smartphone-Besitzer kann auf seiner Telefonrechnung plötzlich zehn oder 20 Euro zusätzlich ungerechtfertigt zu zahlen haben: Nur durch unabsichtliches Anklicken eines manipulierten Werbebanners. Wer das mobile Bezahlen mit dem Handy nicht extra durch Beantragung einer Drittanbietersperre einschränken lässt, ist dieser Gefahr ausgesetzt. Alle großen Mobilfunkanbieter wissen von diesem Problem – und verdienen daran. Die Masche läuft schon seit acht bis zehn Jahren, und hinter ihr verbirgt sich ein großes, undurchsichtiges Netzwerk krimineller Anbieter, die über Zwischenanbieter mit den Mobilfunkanbietern zusammenarbeiten. Es gibt keine Bemühungen seitens der Mobilfunkanbieter, über das Problem aufzuklären oder dagegen vorzugehen.

Top 6: Stimulierte Videoüberwachung: Wenn der Betriebsrat nichts zu melden hat

Laut einer Entscheidung des Landesarbeitsgerichts von Mecklenburg-Vorpommern ist keine Zustimmung des Betriebsrats beim Einsatz von Überwachungsattrappen erforderlich. Diese Gerichtsentscheidung vom November 2014 wirft die Frage auf, inwieweit eine Überwachungsattrappe im Betrieb gegen die Rechte des Betriebsrats bzw. der Mitarbeiter verstoßen könnte. Die Datenschutzgesetze der einzelnen Bundesländer sind in Hinsicht auf solche Scheingeräte sehr unterschiedlich. Der Schutz vor Überwachung von Arbeitnehmern ist ein wichtiges Thema in einer demokratischen und sozialen Gesellschaft, berührt es doch die informationelle Selbstbestimmung. Aber auch die scheinbare Überwachung kann Menschen sehr negativ beeinflussen. Darum sollte dieses Thema auf die Agenda der deutschen Medien.

Top 7: Arbeitsbedingungen zu selten ein Thema

Die Wirtschaftsteile deutscher Zeitungen – „Langweilige Satzschachteln für Experten?“ (Scheel 2010: 196) oder verbraucherorientierte Aufklärung? Während Unternehmensportraits, die Fieberkurven der weltweiten Börsenplätze und die bunte Konsumwelt breiten Niederschlag im Wirtschaftsjournalismus zu finden scheinen, sind Berichte aus der Arbeitswelt eher Mangelware. Arbeitnehmerfragen kommen eigentlich nur bei großen Tarifauseinandersetzungen oder Streiks zur Sprache, während der ganz normale Arbeitsalltag von Millionen Menschen journalistisch nur selten thematisiert wird.

Top 8: „Betonspritzen“ in der Psychiatrie

Patienten und Patientinnen in der Psychiatrie werden gegen ihren Willen mit der sogenannten Betonspritze ruhiggestellt. Neben der unklaren rechtlichen Situation können auch die gesundheitlichen Neben- und Spätwirkungen negativ sein. Seit 1990 nehmen die Einweisungen in psychiatrische Einrichtungen von Jahr zu Jahr beständig zu. Mit dem Ziel, durch Therapie wieder ein normales Leben führen zu können oder ganz geheilt zu werden, begeben sich viele Menschen freiwillig oder durch richterliche Beschlüsse in psychiatrische Hände. Die Zahl aller Zwangseinweisungen in die Psychiatrie beträgt in Deutschland mittlerweile ca. 200.000 pro Jahr. Statt Therapie erfolgt aber dann häufig nur Medikation. Berichtet wird nur über die spektakulären Einzelfälle, nicht aber über das strukturelle Problem.

Top 9: Mangelernährung bei Krebs: Krankenhäuser könnten mehr tun

Über 50.000 Krebspatienten sterben jedes Jahr an Mangelernährung, dennoch verfügen in Deutschland nur vier Prozent aller Krankenhäuser über ein Ernährungsteam. In anderen Ländern, wie zum Beispiel Großbritannien, gehört das Screening auf Mangelernährung bei der Aufnahme ins Krankenhaus zur Pflichtuntersuchung, während Deutschland hinterherhinkt und das, obwohl dies pro Jahr einen Kostenberg von neun Milliarden Euro bedeutet. Die Bedeutsamkeit der Mangelernährung für den Erfolg der Behandlung ist vielen nicht bewusst und der unaufgeklärte Patient ist den Ärzten ausgeliefert. In den Medien wird immer wieder über Einzelfälle berichtet. Dass aber ein systematisches Problem in deutschen Kliniken vorliegt, ist der deutschen Öffentlichkeit unbekannt.

Top 10: Polizeigewalt: Ein Fallbeispiel aus Köln

In Deutschland sind Fälle von polizeilichen Übergriffen nach einigen detaillierten Einzelfällen, aber auch laut bundesweiten Statistiken anscheinend keine Seltenheit. Die Rede ist von übertriebener Härte bei Polizeieinstätzen bei vermeintlich kleineren Delikten wie zum Beispiel Ruhestörung oder fehlender Kooperation mit der Polizei. Der Polizei wird in diesen Fällen eine Form der Selbstjustiz vorgeworfen, die aufgrund der Position in der Gesellschaft nicht kritisch genug betrachtet wird. Die ausübenden Polizisten werden für ihr Verhalten laut vorliegenden Aussagen nicht belangt und in ihrem Handeln nicht eingeschränkt.