TOP 2 Psychiatrie: Bundesregierung biegt UN-Konvention zurecht

In Deutschland kommt man unfreiwillig in die Psychiatrie, wenn Fachleute annehmen, man sei eine Gefahr für sich selbst oder andere. Das ist vor allem in Ländergesetzen geregelt, die sich unterschiedlicher und in der Praxis sehr dehnbarer Gesetzestexte bedienen. In einigen Bundesländern gibt es daher sehr viele Zwangseinweisungen und in anderen deutlich weniger – obwohl es keine statistischen Hinweise darauf gibt, dass es in NRW mehr gefährliche psychisch Kranke gibt als in Berlin. Die UN-Behindertenrechtskonvention schreibt vor: „Eine Freiheitsentziehung aufgrund einer Behinderung ist in keinem Fall gerechtfertigt“. Sie gilt seit 2009 auch in Deutschland. Hier wurde sie aber uminterpretiert: „Eine Freiheitsentziehung allein aufgrund einer Behinderung ist in keinem Fall gerechtfertigt“, wurde vom Kabinett dargelegt. Das Wort „allein“ ändert den Sinn der Konvention und macht eine Anpassung der umstrittenen Landesgesetze überflüssig. Die Mehrheit der Politiker halten die Landesgesetze allerdings für Behindertenkonventions-konform. Die UN führt aus, was sie mit ihrer Konvention im Sinn hat: Dass nur strafrechtlich relevantes Verhalten zu einer Zwangseinweisung führt. Mehr Informationen gibt es im Jurybericht. Das Wort „allein“ wurde übrigens bei der Schaffung der UN-Konvention diskutiert und verworfen – weil es eben nicht der Sinn des Gesetzes ist, weiter alles möglich zu machen.

3 Kommentare zu TOP 2 Psychiatrie: Bundesregierung biegt UN-Konvention zurecht

  1. Sehr geehrter Herr Dr. Spengler!

    Vielen Dank für ihren Kommentar! Ich bin Autorin des Juryberichts zum Thema: „Bundesregierung biegt UN-Konvention zurecht“. In ihrem Kommentar verweisen Sie auf ein Rechtsgutachen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, durch das man die von mir beschriebene Sachlage differenzierter betrachten könne. Nach ausgiebiger Lektüre dieses Rechtsgutachtens komme ich jedoch nicht zu einer „differenzierteren“ (im Sinne von „anderen“) Schlussfolgerung. Richtigerweise stellt dieses Rechtsgutachten lediglich fest, dass sich durch die UN-Konvention für die Gerichte und die behandelnden Ärzte momentan nichts ändert. Der Grund dafür liegt jedoch darin, dass die Bundesregierung die UN-Konvention so interpretiert hat, dass keine Gesetzesänderungen mehr nötig waren. Dadurch, dass sich die Unterbringungsgesetz nicht geändert haben, hat sich natürlich auch für die behandelnden Ärzte und die Praxis der Zwangseinweisungen in Deutschland nichts geändert. Der UN-Behindertenrechtskonvention und der erläuternden Erklärung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte entsprechen sie jedoch trotzdem nicht.
    Selbst das von Ihnen verlinkte Rechtsgutachten ist zu dem von mir thematisierten Artikel 14 der UN-Behindertenrechtskonvention uneindeutig:
    „Im Kern geht es um die Auslegungsfrage, ob Art. 14 Abs. 1 lit. b) BRK es schon verbietet, dass für eine Freiheitsentziehung überhaupt an das Vorliegen einer Behinderung angeknüpft wird oder es lediglich verbietet, dass das Vorliegen einer Behinderung den alleinigen Grund einer Freiheitsentziehung darstellt. Unabhängig davon, wie die Bestimmung zu verstehen ist, richtet sie sich jedenfalls
    eindeutig nur an die Vertragsstaaten. Sollten die nationalen Vorschriften zur Unterbringung und Zwangsbehandlung in Widerspruch zu Art. 14 BRK stehen, so wäre der Gesetzgeber in der Pflicht, sie anzupassen. Die betroffenen Kliniken oder Gerichte müssen daraus gegenwärtig keine Konsequenzen ziehen.“
    Meine Kernaussage war und ist: Die Bundesregierung hat sich der Interpretation bedient, dass die UN-Behindertenrechtskonvention lediglich verbietet, jemanden „allein“ aufgrund seiner Behinderung zwangseinzuweisen. Dieser Interpretation bedient sie sich, obwohl das Wort „allein“ absichtlich nicht mit in die Formulierung er UN-Behindertenrechtskonvention aufgenommen wurde und auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte eine andere Auffassung vertritt. Dieser Kernaussage von mir steht das von ihnen verlinkte Rechtsgutachten meiner Ansicht nach nicht entgegen.
    Ich habe mich rechtlich, nicht ethisch mit dem Thema Zwangseinweisungen auseinandergesetzt. Da ich auf rechtlicher Ebene Vertreter aller möglichen Meinungen und Einstellungen zum Thema habe zu Wort kommen lassen, ist mir meiner Ansicht nach auch keine Betonung einer Minderheitenmeinung vorzuwerfen.

    Mit freundichen Grüßen,

    Linda Matthey

  2. Sehr geehrte Damen und Herren

    Ich war Ihr Interviewpartner bei TOP 1 2008
    http://www.nachrichtenaufklaerung.de/index.php?id=171
    „Zu viele Straftäter in der Psychiatrie“
    Ich sah zufällig den Beitrag, der gut gelungen ist

    Zufällig sah ich auch den Beitrag Psychiatrie: „Bundesregierung biegt UN-Konvention zurecht“,
    http://www.nachrichtenaufklaerung.de/index.php?id=192, bei dem Sie nach meiner fachlichen Überzeugung einer einseitigen Minderheitenmeinung zu viel Raum geben. Die Rechtslage ist schief dargestellt.
    Dabei kommen verständliche subjektive Momente aus der Betroffenensicht zu Wort, nicht aber die fachlichen Argumente aus Sicht der Psychiatrie.
    Die Frage der direkten Geltung der UN-Behindertenkonvention für die Zwangseinweisungen nach den Länderunterbringungsgesetzen oder nach dem Betreuungsrecht ist inzwischen durch ein Rechtsgutachten auch der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde http://www.dgppn.de, nachzulesen bei den dortigen Stellungnahmen differenzierter zu betrachten.
    Das ändert nichts daran, daß die Psychiatrie und alle Rechtsanwender verstärkt daran arbeiten müssen, Zwang auf das unbedingte Minimum zu reduzieren.

    Beste Grüße Spengler

  3. Ich bin 1972 zum ersten Mal in die Zwangslage gekommen, Zwang
    anzuwenden, obwohl ich Arzt sein wollte. Der Konflikt in mir hat sich im Laufe der Jahrzehnte, zuerst als Psychiater, dann als Supervisor in etlichen Psychiatrie-Anstalten, oft auch in Konflikten mit anderen Psychiatern und Helfershelfern niedergeschlagen. Daran ernsthaft erkrankt habe ich 1992 der Psychiatrie als systemimmanenter Mittäter den Rücken gekehrt, bin aber oft weiterhin beschäftigt (gewesen) sowohl mit den Leiden von Psychiatrie-Zwängen Geschädigten als auch mit den Leiden von Tätigen auf der bezahlten Seite.
    Die Leseproben unten stammen aus einem Manuskript, welches z.T.
    aus gegenseitigen Interviews von bzw. mit einem ehemaligen Patienten
    besteht. Dieser Co-Autor war wohl an die dreißig Mal
    zwangseingewiesen. Bis vor etwa 20 Jahren. Er hat dann damit begonnen zu lernen, alles zu vermeiden, was dazu führen könnte, zwangsweise in die Drehtür-Psychiatrie eingeliefert zu werden.
    Vielleicht kann Ihnen und Ihren Studenten mein Text in irgend einer
    Weise dienen.

    Mit freundlichen Grüßen,
    Christian Michelsen
    Arzt für Psychiatrie und Neurologie/Sozialmedizin

    Christian Michelsen, Bremen, 2.2.10

    Aus meinen Antworten an den Co-Autor M.H.

    ……..
    Was verstehen Sie unter Psychiatriedissident?

    Sie greifen ein Wort auf, welches mir mal geeignet erschien, meine Rolle als Psychiater im öffentlichen Dienst zu charakterisieren. In der Zeit heftigster Auseinandersetzungen, die ich dadurch initiiert hatte, dass ich Anordnungen von Vorgesetzten nicht Folge zu leisten bereit war, bekam ich schließlich vom Leiter des Amtes, dem ich als Psychiater hierarchisch untergeordnet war, sinngemäß schriftlich mitgeteilt, ich müsse mit disziplinarischen Maßnahmen rechnen, falls ich nicht die bundesweit anerkannten sozialpsychiatrischen Grundsätze anerkenne, d.h. mit meinen Worten: folgsam sei. Grundsätze als Glaubenssätze. Ursprünglich wurden religiös anders Denkende Dissidenten genannt, heißt es in meinem etymologischen Wörterbuch…..
    ……..

    Wie erlebten Sie die erste Zwangseinweisung?

    Die erste ‚Zwangseinweisung‘ – so sprach man ja auch über Menschen, ‚da kommt eine Zwangseinweisung‘, ‚die Schilddrüse in Zimmer 34 wird morgen verlegt‘ etc. – erlebte ich als soeben in einer Psychiatrischen Klinik angetretener Assistenzarzt. Das war 1972, in einer geriatrischen Station der LNK, dem einzigen Westberliner Landesnervenkrankenhaus in Spandau, ein paar Meter vom Todesstreifen der DDR entfernt, auf der grünen Wiese, weit entfernt vom urbanen Leben. Da war man direkt dem Berliner Senat für Gesundheit unterstellt, nicht einem Bezirksamt. Gleichzeitig mit mir hatte ein gleich mir neugieriger und ahnungsloser Kollege dort in einer Nachbarstation zu arbeiten angefangen. Eine alte, gebrechliche und schwache Frau aus Charlottenburg war gegen ihren Willen auf Grund einer gutachterlichen Stellungnahme eines psychiatrischen Amtsarztes mit sanfter Gewalt in ‚meine Station‘ gebracht worden. Eine friedliche, freundliche alte Dame, die die Welt und insbesondere ihre als ’schizophren‘ etikettierte Tochter nicht mehr verstand, und sehnlichst wünschte, entlassen zu werden. Vorausgegangen war ein Konflikt zwischen der Tochter und der Mutter. Die behende Tochter war die Schnellere gewesen, nach der Polizei zu rufen. Psychiatrische Symptome ersten oder sonstigen Ranges (Begriffe aus der Fachsprache!) konnte keiner der schon länger hospitalisierten Ärzte und Oberärzte feststellen. Mein Kollege und ich waren empört, die altgedienten Kollegen Fachärzte waren es überhaupt nicht. Es schien für sie ganz normal zu sein, dass ein alter Mensch eingesperrt wird, ohne dass er sich krank, englisch mad, fühlte oder sich böse, englisch bad, zeigte. Ein Richter muss dann aber die Zwangsunterbringung verfügen, oder eben aufheben. In meinem Entlassungsbrief an den einweisenden Amtskollegen, ein – wie sich später herausstellte – feinsinniger Kleist-Kenner und Buchautor, machte ich kein Hehl aus meiner Ablehnung der Diagnose und deren Folgen für die alte Dame. Ich war empört über den Missbrauch der Psychiatrie. Ich würde heute sagen, den Missbrauch der Sprache der Macht. Diesen Brief wollte der zuständige Oberarzt nicht gegenzeichnen, obwohl er mir in der Sache zustimmte. Er fürchtete, der implizit kritisierte Empfänger meines ärztlichen Entlassungsbriefes werde brüskiert sein; es käme doch auf weitere ‚gute Zusammenarbeit‘ an; der arme Kollege habe sich angesichts der brisanten Mutter-Tochter-Dynamik und potenziellen Gewalttätigkeiten, insbesondere von Seiten der Tochter gegen ihre Mutter nicht anders zu helfen gewusst, als die Mutter für psychiatrisch krank zu erklären und mit Gewalt, d.h. Polizei-Einsatz aus dem häuslichen clinch zu entfernen. Damals entschied ich mich, klein beizugeben, einen neuen Arztbrief zu schreiben und gemeinsam mit anderen Empörten in unseren psychiatrischen Klagerunden unserer Wut Luft zu machen. Es gab in fast allen psychiatrischen Kliniken, die ich – immer auf der bezahlten Seite – von innen kennen gelernt habe, so etwas wie antipsychiatrische Zirkel, von einem psychiatrischen Chef auch mal ‚rote Camarilla‘ genannt, mehr oder weniger geheime Dissidenten-Treffen; reihum in den privaten Wohnungen.

    Wie erlebten Sie die erste Konfrontation mit einem Wachsaal,
    der geschlossenen Station, Fixieren, Haldol und Elektroschock?

    Will man Facharzt werden, so rotiert man als Assistenzarzt in einem deutschen Krankenhaus von einer Abteilung zur nächsten. So geriet ich nach einigen Monaten aus der geriatrischen in die Aufnahme-Abteilung. Laut West-Berliner Statistik waren bis zu 75% aller psychiatrischen Patienten gegen ihren Willen interniert. So auch ein Mann, an den ich mich sehr gut erinnere, weil unser Zwiegespräch Folgen für mich hatte. Solche Gespräche waren meist sehr kurz gehalten. Wie könnte es auch anders sein, wenn mindestens einer der Gesprächspartner, der Patient ja gar nicht gekommen ist, um zu reden und zu kooperieren, sondern im Gegenteil nur den einen Auftrag an den Psychiater hat: „Lassen Sie mich so schnell wie möglich hier raus!“ Der Psychiater wird dann auch so etwas wie ein unfreiwilliger Gesprächspartner, weil er – würde er nicht mit dem Patienten – Kontakt aufnehmen – mit disziplinarischen Maßnahmen zu rechnen hätte; schließlich muss er ja zumindest seines Amtes insofern walten als Kontrolle des ‚Patienten‘ gewährleistet ist. Ich stehe also am Rand des Bettes dieses Mannes, der schon viel mehr Erfahrungen in psychiatrischen Anstalten gemacht hat als ich blutiger Anfänger. Schulterhohe Sichtblenden formen Nischen für sechs Betten, Nachttisch und Raum für ein Infusionsgestell. Damit der Patient (man beachte den Zynismus, den das Wort in diesem Kontext bekommt!) nicht fortläuft, sich selbst oder andere angreift oder sonst wie der Kontrolle entgeht, hat man, d.h. haben Krankenpfleger ihn an Hand- und Fuß-Gelenken mit ledernen Fesseln am Bettgestell fixiert. Er sagt zu mir, er sei hier „in einer höllischen Schlangengrube und Sie sind Hitler!“ Heute sehe ich es als eine Leistung an, ihm nicht widersprochen und stattdessen wohl eine Reaktion gezeigt zu haben, die Respekt und Hinnehmen seiner Beschreibung und Bewertung, seiner Wirklichkeit signalisiert hat. Einige Wochen danach wurde ich zum Chefarzt, Professor B. gerufen. Der hatte von der Gesundheitsbehörde, also dem Gesundheits-Senat die Bitte bekommen, mich zu einer schriftlichen Stellungnahme zu dem Vorwurf des besagten Patienten zu bewegen, da sei ein Arzt gewesen, der ebenfalls finde, die Klinik sei eine höllische Schlangengrube und er selbst, der Arzt, sei Hitler. Na, die fiel mir nicht schwer, die Formulierung einer Stellungnahme. Sie lief auf die Feststellung hinaus, ich sei zwar nicht Hitler, sondern Christian Michelsen, der Patient jedoch habe mich so erlebt und bewertet, jedem seine Wirklichkeit. Damit war die Sache rein formal erledigt. Aber es rumorte weiter in mir. Und unzufriedene und gleichgesinnte, naive und mit ihrer Betroffenheit als einziges Handwerkszeug agierende Kolleginnen und Kollegen gab es leider-Gott-sei-Dank vier Jahre nach ’68 in großer Menge.

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