Intersexualität – Einzelschicksale statt Hintergründe

Zehn Top-Themen haben wir auf der Jury-Sitzung im Juli gewählt und vorgestellt. Mit etwas Abstand wollen wir nun einige weitere Themen vorstellen: Bürger haben die Themen eingereicht, Studenten haben sie recherchiercht – aber die Jury hat sie nicht in die Top Ten gewählt. Diskutieren kann man trotzdem drüber. Drittes Thema dieser kleinen Serie: Die mangelhafte Berichterstattung über Intersexualität. Am 18. September – zwei Monate nach der Jury-Sitzung in Dortmund – hatte ein Tatort aus Münster Intersexualität zum Thema gemacht. Dadurch folgte auch eine differenzierte Berichterstattung. Weitgehend ohne Berichterstattung blieb jedoch, dass Intersexuelle durch eine neue Verwaltungsvorschrift aus dem Jahr 2010 noch einmal auf zwei Geschlechter festgelegt wurden (siehe unten).

Abstract
In Deutschland leben mehr als zwei Geschlechter. Das ist zwar medizinisch unstrittig, aber noch nicht offiziell anerkannt. Medien berichten vor allem über Einzelschicksale intersexueller Menschen, medizinische Details dienen als Beiwerk. Die schwierige Diagnose nach der Geburt und die erst 2010 verschärfte behördliche Festlegung auf zwei Geschlechter, mit denen Eltern schon beim Eintrag des Geschlechts in die Geburtsurkunde und die Register der Standesämter konfrontiert werden, sind jedoch kein Medienthema.

Sachverhalt & Richtigkeit
Laut Grundgesetz hat jeder das Recht auf „freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“ und „körperliche Unversehrtheit“ (Artikel 2), zudem darf niemand „wegen seines Geschlechtes […] bevorzugt oder benachteiligt werden“ (Artikel 3). Intersexuelle Menschen müssen in Deutschland noch immer für diese Rechte kämpfen. Die Zahl der Betroffenen ist umstritten, da mit unterschiedlichen Definitionen gearbeitet wird: Zahlen reichen von 8.000 Intersexuellen (Bundesregierung) bis etwa 80.000 (Betroffenen-Verbände und einige medizinische Studien). Durch Caster Semenya, Goldmedaillengewinnerin der Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2009, wurde öffentlich erstmals breiter diskutiert, dass es Menschen gibt, die nicht der traditionellen Definition von Mann oder Frau entsprechen.

Lange waren die Mediziner der Sexualforschung der Meinung, dass bei Intersexuellen das Geschlecht so schnell wie möglich nach der Geburt des Kindes angepasst werden müsse, um die physische und psychische Entwicklung kontrollieren zu können. Diese Entscheidung zog oftmals viele schmerzhafte Operationen oder lebenslange Hormontherapien nach sich, die mit der konsequenten Erziehung in einer bestimmten Geschlechterrolle oft desaströse Folgen für die betroffenen Menschen hatten.

Heute, so heißt es in Medienberichten, sei die Medizin von dieser Praxis abgekehrt. Es werde Wert darauf gelegt, Eltern und ihre Kinder aufzuklären, sozialen Druck zu nehmen und eine Operation entweder gar nicht durchzuführen oder – wenn gesundheitlich erforderlich – erst dann, wenn das Kind sich bewusst sei, mit welchem Geschlecht es sich identifiziere. Betroffene und Experten sehen aber, dass die Theorie oft nicht in der Praxis angekommen ist. Auch unter Hebammen ist Intersexualität noch immer kein Thema, von Verbänden erarbeitete Broschüren sind unbekannt – obwohl Hebammen Eltern umfassend beraten sollen und ihre Arbeit eine wichtige Schnittstelle zwischen Eltern und Ärzten darstellt.

Und auch von Behördenseite wird Druck auf Eltern ausgeübt, sich auf ein Geschlecht festzulegen. Denn: Die Geburt eines Kindes muss dem Standesamt innerhalb einer Woche angezeigt werden (§18 Personenstandsgesetz). Zwar heißt es weiter in Paragraph 59, dass auf Verlangen das Geschlecht nicht in die Geburtsurkunde eingetragen wird. Die Alternative, das Geschlecht als „intersexuell“ anzugeben, gibt es allerdings nicht. Auch der Name spielt eine wichtige Rolle, denn ein überwiegender Teil der Namen ist mit eindeutigen Geschlechterrollen verknüpft. Für diese Entscheidung bleibt ebenfalls wenig Zeit, innerhalb von vier Wochen (§22 Personenstandsgesetz) muss der Name feststehen.

Zudem muss das Geschlecht binnen eines Monats in die Register der Standesämter eingetragen werden. Vorgesehen sind auch dabei nur zwei Geschlechter, und das erst seit einer Verwaltungsvorschrift aus dem Jahr 2010. Vorher, so interpretiert Prof. Dr. Konstanze Plett die Rechtsprechung, war nicht explizit festgelegt, dass nur „männlich“ oder „weiblich“ eingetragen werden darf. Die bürokratische Festschreibung von zwei Geschlechtern wurde fast unbemerkt von der Öffentlichkeit vollzogen. Aufgrund dieser Umstände entscheiden sich überforderte Eltern dann doch für eine Operation, so die befragten Experten.

Politische Bemühungen zum Thema gibt es seit vielen Jahren: Seit 1980 gibt es in Deutschland das Transsexuellengesetz (TSG; „Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen“). Bereits im Jahr 1999 sollte es überarbeitet werden. Die Betroffenenverbände erarbeiteten einen Entwurf, der aber nie umgesetzt wurde. Eine Reform der Bundesregierung im Jahr 2009 ermöglichte die Heirat bei Geschlechtsänderung. Andere Probleme sind ungelöst. Mehrere Bundestagsabgeordnete und die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen fordern mit einem Mitte April 2011 in den Bundestag eingebrachten Antrag, dass „intersexuelle Menschen als ein gleichberechtigter Teil unserer vielfältigen Gesellschaft anerkannt [werden] und in ihren Menschen- und Bürgerrechten nicht eingeschränkt werden [dürfen].“ Damit beziehen sie nominell die Intersexuellen ein, die eine andere geschlechtliche Situation haben als Transsexuelle. Transsexuelle sind im Gegensatz zu Intersexuellen zwar biologisch eindeutig einem Geschlecht zugeordnet, empfinden sich selbst aber als dem anderen Geschlecht zugehörig. Auch der Deutsche Ethikrat beschäftigt sich 2011 mit dem Thema Intersexualität.

Nicht nur für die Namensgebung nach der Geburt, sondern auch spätere Änderungen bedarf es einer Anpassung der aktuellen Gesetze, fordern die Interessenverbände. In welchem Umfang das geschehen soll, darüber sind sie sich nicht alle einig. Das Transsexuellengesetz ist inzwischen durch zahlreiche Gerichtsurteile verändert worden. Ein aktuelles Urteil des Amtsgerichts Mannheim vom 4. April 2011 setzt ein laufendes Verfahren aus, „bis der Gesetzgeber geregelt hat, ob und gegebenenfalls welche über §1 TSG hinausgehenden Voraussetzungen zur Änderung des Geburtseintrags hinsichtlich des Geschlechts erforderlich sind.“ Das existierende Gesetz ist also quasi wirkungslos. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, dass der Gesetzgeber aktiv wird.

Relevanz
Es gibt bis zu 80.000 Betroffene und es werden stetig neue Menschen geboren, die das Thema betreffen könnte. Dennoch gibt es auch in Fachkreisen viel Unwissenheit, die zu fatalen Entscheidungen der Eltern führen kann. Einer christlich-geprägten, bipolar-gestalteten Gesellschaft fällt die Vorstellung von einer dritten Variante wie Intersexualität schwer, was im Alltag Intersexueller zu Unverständnis und Diskriminierung führt. Offizielle Anerkennung kann ein Umdenken anstoßen. Es gab sie sogar schon einmal: 1794 regelte ein so genannter „Zwitterparagraph“ im preußischen Landrecht die Rechte von intersexuellen Menschen und erkannte damit ihre Existenz an.

Die Sexualforschung und Studien mit Intersexuellen zeigen, dass geschlechtsangleichende Operationen von vielen Betroffenen als traumatisch und sehr schmerzhaft empfunden wurden. Es gibt sie noch heute, denn viele Ärzte, Hebammen und das Umfeld der Betroffenen gehen laut Experten sehr rückschrittlich mit dem Thema um. Das Thema berührt somit die Grundrechte.

Vernachlässigung
In den Medien wird vor allem über die Schicksale einzelner Intersexueller berichtet. Diese Reportagen und Porträts sind wichtig, da sie nicht nur auf einer sachlichen, sondern auch emotionalen Ebene den Leser, Zuhörer oder Zuschauer auf das Thema Intersexualität und die damit verbundenen Probleme aufmerksam machen. Es wird mitunter auch auf die medizinische Ebene eingegangen, die Sexualforschung und die üblicherweise vorgenommenen angleichenden Operationen und die Tatsache, dass ein Wandel im Umgang mit intersexuellen Kindern stattgefunden hat.

Vernachlässigt werden jedoch zwei wichtige Aspekte: Ärzte und Hebammen sind nicht immer ausreichend informiert, um eine Diagnose zu stellen oder eine Behandlung bzw. Beratung durchzuführen. Der soziale Druck auf die Eltern bleibt somit und viele entscheiden sich für die angleichenden Operationen.

Auch die bürokratischen Hürden sind kein Thema. Die Verwaltungsvorschrift des Personenstandgesetzes wurde 2010 zum Nachteil Intersexueller verändert. Darüber wurde nicht in den Medien berichtet.

Quellen
Heike Stüvel: „Zwitter – Mann und Frau zugleich“, Welt Online, 20. Juni 2008

Adelheid Müller-Lissner: „Zwischen den Geschlechtern“, Zeit-Online, 6. Februar 2009

taz Nord: „Ein drittes Geschlecht; Eltern intersexueller Kinder sollen auf dem Bremer Standesamt weniger Termindruck haben“, 25. Februar 2011

Peter Schweiger: „XY ungelöst“, Apotheken Umschau, Juni 2011

Andrea Heinze: „Ganz normal anders oder behandlungsbedürftig?“, Bayern 2, IQ-Wissenschaft und Forschung, 16. Februar 2011

Tobias Spell, „Gottes Werk oder Teufels Beitrag?“, Stuttgarter Zeitung, 3. Mai 2011

Deutscher Bundestag: Drucksache 17/5528, 13. April 2011

Intersexuelle Menschen ev.: Broschüre für Hebammen

Kim Schicklang, 1. Vorsitzende Aktion Transsexualität und Menschenrecht e.V., Gespräch am 18. Mai 2011

Helma Katrin Alter, 1. Vorsitzende dgti – Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität, 4. Juni 2011

Silke O-Arndt, Schriftführerin Intersexuelle Menschen e.V., Gespräch am 13. Juni 2011

Adelheid Müller-Lissner, Journalistin, 6. Februar 2009, Gespräch am 15. Juni 2011

Angelika Böhrke Stein, Redaktionsleiterin der Radiosendung Leonardo auf WDR5, Gespräch am 16. Juni 2011

Dr. Julia Britta Dombrowe, Buchautorin der Dokumentation „Tabu Intersexualität“, Gespräch am 16. Juni 2011

Prof. Dr. Konstanze Plett, Professorin für Rechtswissenschaften und Gender Law an der Universität Bremen, Gespräch am 22. Juni 2011

Körber Stiftung: Zusammenfassung von „Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungsrecht“ von Angela Kolbes, 2010

Personenstandsgesetz

Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz

Kommentare
Dr. Julia Britta Dombrowe, Buchautorin von Tabu Intersexualität:
„Die Journalisten fühlen sich nicht gehemmt, darüber zu berichten. Aber die Unkenntnis ist riesengroß. Oft wird das Thema auch mit Transsexualität in einen Topf geschmissen, weil keiner genau weiß, worum es geht. Das ist gesellschaftlich unbekannt. Die Berichte über Operationen lösen zwar Entsetzen aus, aber gegen die Beschneidung von Kindern in Afrika wird mehr getan. Dabei ist das in den deutschen Krankenhäusern vom Ergebnis nichts anderes.“

Adelheid Müller-Lissner, Journalistin:
„Die Berichterstattung geht nicht in die Tiefe. Bei diesen medizinischen, naturwissenschaftlichen Themen muss man auch als Autor einiges verstehen und sich einarbeiten. Tabuthema sagt sich so leicht. Ja und Nein. Über Sexualität wird im Vergleich zu früher wesentlich offener gesprochen. Das ist nicht das Problem, sondern, dass es so kompliziert ist. Jeder Einzelne fühlt sich bei so was in seiner biologischen und sozialen Geschlechtsidentität verunsichert.“

Prof. Dr. Konstanze Plett – Professorin für Rechtswissenschaften und Gender Law:
„Was früher nur Praxis war (Eintragung nur als männlich oder weiblich) ist seit August 2010 in einer allgemein bundesweit geltenden Verwaltungsvorschrift festgeschrieben, dort steht, dass nur männlich oder weiblich eingetragen werden soll. Es ist schon pikant, dass nach über zehn Jahren Diskussion über diese Problematik Bundesregierung und Bundesrat – der musste zustimmen –, dass das jetzt so festgeschrieben worden ist. Ich bin Juristin und ja selbst an dem Thema dran, und diese Verwaltungsvorschrift ist öffentlich, selbst fachöffentlich, relativ unbemerkt über die Bühne gegangen.“

Erstes Thema der Serie waren die Treffen der Bilderberger.

Zweites Thema der Serie war die fehlende Kontrolle von Stiftungen und Vereinen.

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  1. lesenswert. | res.publica

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