2013: Top 7

Bonuszahlungen für Ärzte – auch bei nicht zugelassener Medikation

Krankenkassen in Deutschland zahlen Ärzten teils hohe Boni, wenn diese mit einem günstigeren Medikament therapieren. Belohnt wird dabei im konkreten Fall auch der Einsatz eines Medikamentes, das für diesen Zweck gar nicht zugelassen ist (sogenannter „Off-Label-Use“). Dadurch entsteht faktisch ein Anreiz, die geltenden Standards der Medikamenten-Zulassung zu umgehen. Über Bonuszahlungen an Ärzte wurde in Deutschland bisher vor allem berichtet, wenn die Zahlungen von Pharma-Unternehmen ausgingen. Dass auch die Kassen auf diese Weise Einfluss auf die Verschreibungspraxis nehmen, ist dagegen weitgehend unbekannt.

Sachverhalt & Richtigkeit:
In unserem konkreten Beispiel geht es um eine schwere Augenerkrankung. Die AOK Baden-Württemberg belohnt Augenärzte finanziell, wenn diese die „altersbedingte Makula-Degeneration“ mit einem Medikament behandeln, das für diesen Verwendungszweck gar nicht zugelassen ist. Das Medikament Avastin wurde eigentlich zu Krebsbehandlung entwickelt. Es ist deutlich günstiger als das Standard-Medikament. Eine Spritze kostet nur etwa 50 Euro – das zugelassene Medikament Lucentis dagegen rund 1.200 Euro. Studien zeigen: Beide Medikamente sind gleich wirksam gegen die Makula-Degeneration. Das nicht zugelassene Mittel hat etwas mehr Nebenwirkungen – Hernien, Erbrechen, Übelkeit, Kolitis, Bauchschmerzen oder Verstopfung. Dadurch, dass das Medikament für die Augenerkrankung gar nicht zugelassen ist, müssen Nebenwirkungen aber nicht zwingend nachbeobachtet und dem Hersteller gemeldet werden.
Wird ein Arzt für die Gabe eines speziellen Medikaments belohnt, beeinflusst das seine freie Medikamentenwahl: Die ökonomischen Anreize könnten eine unvoreingenommene Beratung und Aufklärung des Patienten vereiteln – und den Arzt womöglich motivieren, problematische Indikationen zu ignorieren, die gegen die Gabe des günstigeren Medikamentes sprechen. Der Arzt gerät dadurch in einen berufsethischen Konflikt.
Ferner wird durch diese Förderung des Off-Label-Use die Zulassungspraxis in Deutschland umgangen – auch wenn das Medikament Avastin aufgrund seiner vergleichbar guten Wirksamkeit problemlos zugelassen werden könnte. Denn durch das Zulassungsverfahren soll eigentlich sichergestellt werden, dass die Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität von Medikamenten ausreichend durch klinische Studien nachgewiesen wird, bevor das Arzneimittel auf den Markt kommt. Wird ein Medikament dagegen im Off-Label-Use verwendet, fehlen solche Belege oft.

Trotzdem werden Medikamente im klinischen Alltag oft im Off-Label-Use verschrieben – besonders in der Krebstherapie und der Kinderheilkunde. Denn medizinisches Wissen über Krankheiten und deren Behandlung verändert sich schnell, Zulassungsverfahren sind dagegen zeitaufwändig und teuer. Das Bundessozialgericht hat sich im Jahr 2002 mit der Frage beschäftigt, ob und wann die Gesetzliche Krankenversicherung die Kosten für ein Off-Label-Medikament erstatten muss, nämlich unter drei Voraussetzungen: 1. Es geht um die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung. 2. Es ist keine andere Therapie verfügbar. 3. Es besteht aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht, dass mit dem Medikament ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg erzielt werden kann – sind die Voraussetzungen erfüllt, könnte das Medikament also eigentlich auch für die Indikation zugelassen werden.
Auch die AOK in Bayern hatte einen ähnlichen Facharztvertrag für die Behandlung der Makula-Degeneration wie die in Baden-Württemberg aufgesetzt, die Bonuszahlungen für „besondere Wirtschaftlichkeit“ nun aber vorerst wieder gestrichen – die bayerischen Augenärzte hatten sich geweigert, dem Vertrag beizutreten (nur zwei Ärzte hatten zugestimmt). Die Begründung der AOK für die Streichung der Bonuszahlung lautete: Man dürfe nicht „diskriminierend“ vergüten und damit die freie Therapiewahl des Arztes einschränken. Nun wird die volle Pauschale bezahlt, ganz gleich welches Medikament verwendet wird.
Auch das Bundesversicherungsamt, das die Rechtsaufsicht über alle überregional agierenden Krankenkassen hat, sieht in Bonuszahlungen eine Gefahr für Patienten: Sie führten zur „offensichtlichen Gefahr“, dass das Recht des Patienten auf das zugelassene Medikament faktisch vereitelt wird, schreibt der Chef des Amtes in einem aktuellen Fachaufsatz.

Relevanz:
Bonuszahlungen in der Medizin sind ein heikles Thema. Bei der Wahl des Medikaments oder einer Therapie sollten allein medizinische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Es darf nicht heißen: Hauptsache billig. Da die beiden Medikamente in diesem Fall als gleich wirksam gegen die Erkrankung gelten, ist das bei der altersbedingten Makula-Degeneration in der Regel unproblematisch. Bei Patienten mit Vorerkrankungen im Magen-Darm-Bereich müssten jedoch Nebenwirkungen des geförderten Mittels beachtet werden – Überlegungen, bei denen sich die Bonuszahlung negativ auf das Patientenwohl auswirken kann.
Vor allem verändert sich durch die Einführung von Bonuszahlungen das Geschäftsmodell Arzt, das von den meisten Patienten wohl kaum als solches wahrgenommen wird: Muss ich finanzielle Anreize hinter der Therapieentscheidung meines Arztes vermuten? Auch bleibt Avastin sicher nicht das einzige Medikament, dessen Vergabe belohnt wird – ob und wie problematisch preislich günstigere Medikamente sind, ist für Patienten nicht transparent.
Somit betrifft das Thema nicht nur die etwa zwei Millionen Patienten mit altersbedingter Makula-Degeneration, sondern das Arzt-Patienten-Verhältnis im Allgemeinen – finanzielle Anreize für Therapieentscheidungen gefährden die Unabhängigkeit des Arztes und das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.

Vernachlässigung:
Das Thema hat in deutschen Medien bisher kaum Beachtung gefunden. Zwar wurde über die Preisunterschiede zwischen dem zugelassenen Medikament Lucentis und der Off-Label-Variante Avastin berichtet. Auch das Thema Off-Label-Use wurde im Juni 2013 nach einer Kritik der Krebsliga an der „Zwei-Klassen-Medizin“ durch Off-Label-Use – hervorgerufen durch die unterschiedliche Erstattungspraxis der Krankenkassen – vereinzelt auch in der Tagespresse aufgegriffen. Das Thema Bonuszahlungen blieb in der Berichterstattung allerdings außen vor, lediglich in Ärztemedien wurde es spärlich aufgegriffen.

Quellen:

Robert Baumgartner, AOK Bayern, Fachbereichsleiter „Besondere Verträge“, Gespräch am 21.4.2013;

AOK Bayern, Versorgungsvertrag der AOK Bayern, https://www.amd-ivit.de/downloads abgerufen am 1.7.2013;

Andreas Vogelmann, Jurist im Sozialministerium Baden-Württemberg, Gespräch am 8.1.2013;

Benjamin Roll, Pressreferent AOK Baden-Württemberg, Email-Wechsel am 9.1.2013;

Désirée Hartmann, Referentin der Amtsleitung im Bundesversicherungsamt, E-Mail-Wechsel am 15.4.2013;

Comparison of Macular Degenerations Treatments Trials (CATT) Research Group, „Ranibizumab and Bevaizumab for Treatment of Neovascular Age-related Macular Degeneration: Two Year Results. Ophtalmology Volume 119, Issue 7, online erschienen am 1.4.2012, http://www.aaojournal.org/article/S0161-6420%2812%2900321-1/fulltext,Vergleich der Medikamente Avastin und Lucentis;

Maximilian Gaßner, Chef des Bundesversicherungsamtes, „Anmerkungen zu BSG – 3.7.2012 – B 1 KR 25/10 R: Kostenerstattungsanspruch für eine selbstbeschaffte augenärztliche Behandlung mit dem Arzneimittel Avastin.“ Mai 2013, Neue Zeitschrift für Sozialrecht, Ausgabe 5/2013;

Kommentare:
Andreas Vogelmann, Sozialministerium Baden-Württemberg:
„Wir haben als Rechtsaufsicht auch Restriktionen: Wir können nur Maßnahmen ergreifen, wenn die Krankenkasse gegen Rechte verstößt. Ist ein Fall juristisch vertretbar, können wir nichts machen – selbst wenn er ein Geschmäckle hat.“

Robert Baumgartner, AOK Bayern:
„Wir dürfen keine diskriminierende Vergütung einführen und Ärzte nicht deshalb finanziell bevorteilen, weil sie ein wesentlich günstigeres Medikament verschreiben – was uns als Krankenkasse natürlich hilft. Die Ärzte müssen frei sein in der Wahl der Medikamente.“

Redakteurin im Wissenschaftsressort einer großen Zeitung in Baden-Württemberg:

„Die Vernachlässigung des Themas liegt nicht an Desinteresse, sondern eher an Desinformation. Wir wussten nichts davon, haben keine Pressemitteilungen dazu bekommen. Hätten wir mehr Informationen, wäre das Thema sehr spannend für uns.“