2013: Top 10

Polizeiliche Demonstrationsverbote für rechtswidrig erklärt

Demonstrationsverbote beim G8-Gipfel in Heiligendamm hat das Oberverwaltungsgericht Greifswald in letzter Instanz im August 2012 für rechtswidrig erklärt. Im Juli 2007 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der G8-Länder in Heiligendamm. Während dieses Gipfels kam es zu zahlreichen Protesten von Globalisierungskritikern. Die Polizeistrategie, richterlich genehmigte Demonstrationen vor Ort zu verbieten, wurde auch bei späteren Protesten in Dresden oder Frankfurt am Main angewandt. Die allgemeine Bedeutung des Greifswalder Gerichtsurteils wurde in den Medien kaum thematisiert.

Sachverhalt & Richtigkeit:
Das 33. Gipfeltreffen der Regierungschefs der G8 fand im Juli 2007 unter deutscher Präsidentschaft im Kurort Heiligendamm in der Nähe von Rostock statt. Mit Blick auf die Vorgeschichte des Gipfels, bei dem es immer wieder zu großen Protestaktionen globalisierungskritischer Bewegungen kam, wurde ein spezielles Sicherheitskonzept in Heiligendamm und Umgebung entwickelt. Schon im Vorfeld des Gipfels wurden Überwachungsmaßnahmen und Hausdurchsuchungen im linken Milieu durchgeführt. Rund um das Seebad Heiligendamm ließ die Polizei einen 12 Kilometer langen Zaun errichten und erklärte den Küstenstreifen zur Sperrzone, um den Tagungsort vor  Demonstranten abzuschirmen. Des Weiteren sollte eine mehrere Kilometer breite Demonstrationsverbotszone vor dem Zaun durchgesetzt werden. Eine Vielzahl von Demonstranten wurde bereits bei der Anreise polizeilich kontrolliert, um frühzeitig gewaltbereite Protestler ausfindig zu machen. Um logistisch auf die erwarteten Verhaftungen von Demonstrationsteilnehmern reagieren zu können, wurden an verschiedenen Orten im Raum Rostock provisorische Gefangenensammelstellen eingerichtet. Einige dieser polizeilichen Maßnahmen wurden nach dem Gipfel juristisch aufgearbeitet, da erhebliche Zweifel an deren Rechtfertigung und der Angemessenheit der Maßnahmen bestand.
Im Januar 2008 entschied der Bundesgerichtshof (BGH), dass die am 9. Mai 2007 durchgeführten Hausdurchsuchungen in insgesamt 42 Objekten rechtswidrig waren und die Bundesanwaltschaft rechtlich als Strafverfolgungsorgan nicht zuständig gewesen sei. Laut dem Urteil seien nach der föderalistischen Verteilung der Aufgaben im Bereich der Strafverfolgung die Strafverfolgungsbehörden der Bundesländer zuständig gewesen. Die im Auftrag der Generalbundesanwältin Monika Harms durchgeführten Razzien stützten sich auf den Verdacht der Bildung einer terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129a des Strafgesetzbuches. Der BGH stellte in seinem Urteil fest, dass „nachhaltige Zweifel“ bestünden, dass die Beschuldigten eine terroristische Vereinigung gebildet hätten. Die angewendeten Maßnahmen seien in Relation zur Bedeutung des Falles nicht gerechtfertigt gewesen.
Laut dem Republikanischen Anwaltsverein –  einem bundesweiter Zusammenschluss von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten zur Verteidigung der Bürger- und Menschenrechte gegenüber staatlichen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Machtansprüchen –  wurden während des Gipfels mehr als 1.100 Menschen in provisorischen Gefangenensammelstellen untergebracht, in denen große Metallkäfige als Zellen dienten. Diese Zellen wurden 24 Stunden am Tag mit Videokameras überwacht und beleuchtet. In vielen Fällen wurden Toilettengänge und ausreichend Trinkwasser verweigert sowie Anwaltstelefonate verhindert. In ca. 95 Prozent der Fälle, in denen eine Vorführung erfolgte, veranlassten die Haftrichter sofortige Entlassungen. 14 Globalisierungskritiker aus Hamburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Bayern hatten nach dem G8-Gipfel beim Verwaltungsgericht (VG) Schwerin Klagen wegen rechtswidriger Freiheitsentziehung, Fesselung, unmenschlichen Haftbedingungen und Verweigerung von Anwaltskontakten während ihrer Inhaftierung eingereicht. Zudem wurde Strafanzeige wegen unter anderem Freiheitsberaubung gegen den Leiter der Gefangenensammelstelle gestellt. Drei Jahre nach dem Gipfel im Oktober 2010 bestätigte das VG Schwerin in so genannten Anerkenntnisurteilen, dass die Ingewahrsamnahmen und die Haftbedingungen rechtswidrig waren.
Im Falle einer fünfeinhalb Tage andauernden Inhaftierung zweier Männer, bei denen im Rahmen einer polizeilichen Kontrolle in der Nähe eines Gefängnisses im Raum Rostock Transparente mit der Aufschrift „Freedom for all prisoners“ und „Free all now“ sichergestellt wurden, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 01.12.2011, dass es sich bei dem Freiheitsentzug um einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf Freiheit und Sicherheit nach Artikel 5 sowie gegen die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nach Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention handelte.
Am 17.12.2011 kam das Verfahren gegen den Bundeswehreinsatz im Innern ohne Gerichtsentscheid am VG Schwerin zu einem Ende. Während des Gipfels waren aus Furcht vor militanten Protesten Tornado- sowie AWACS-Flugzeuge zur Aufklärung der Aktivitäten von Gipfelgegnern eingesetzt worden. Daraufhin reichte die Grünen-Bundestagsfraktion eine Organklage beim BVG ein, die im Juni 2010 mit der Begründung abgewiesen wurde, dass Einsätze der Bundeswehr im Inneren zur Unterstützung der Polizei keiner Zustimmung durch den Bundestag bedürfen. Ob dies mit dem Grundgesetz vereinbar war und ob die Möglichkeit einer Grundrechteverletzung einzelner Demonstranten vorliege, ließen die Richter offen. Daraufhin verlangten drei vom bündnisgrünen Bundesvorstand unterstützte Kläger Ende September 2011 vor dem Schweriner VG feststellen zu lassen, ob die Aufklärungsflüge der Bundeswehr mit Tornado-Flugzeugen über dem Demonstranten-Camp Reddelich im Juni 2007 rechtswidrig waren. Denn diese hätten die Versammlungsfreiheit der Demonstranten verletzt, vor allem, weil dabei Fotos von ihnen gemacht wurden. Das Gericht sprach den Klägern jedoch schon im Dezember 2011 ein Rechtschutzinteresse mit der Begründung ab, dass der Überflug über das Camp allenfalls ein geringer Grundrechtseingriff gewesen sei. Die Fotos hätten auch keine Gesichter erkennen lassen. Die Richter prüften deshalb erst gar nicht, ob der martialische Einsatz der Bundeswehr vom Polizeirecht des Landes gedeckt war.
Die verhängte Demonstrationsverbotszone vor dem errichteten Zaun mit der polizeilichen Begründung, dass die Zufahrtswege nach Heiligendamm freigehalten werden müssten, wurde bereits am 25.05.2007 durch das VG Schwerin zugunsten eines angekündigten Sternmarsches auf 200 Meter vor dem Zaun reduziert. Jedoch hob das Oberverwaltungsgericht (OVG) Greifswald am 31.05.2007 diesen Beschluss mit dem Verweis auf eine Beeinträchtigung der Beziehungen der Bundesregierung mit Staaten, die eine Verbotszone forderten, wieder auf. Schon während des Gipfels wurde das Polizeiverbot durch das Bundesverfassungsgericht (BVG) kritisiert, jedoch nicht aufgehoben. Die Demonstranten durchliefen die Verbotszone bis zum Zaun, wo sie einzelne Blockaden der Zufahrtswege durchführten. Im Februar 2011 entschied das VG Schwerin, dass das umfassend verhängte Demonstrationsverbot rechtswidrig gewesen sei. In letzter Instanz bestätigte das OVG Greifswald dieses Urteil im August 2012.

Relevanz:
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um die Angemessenheit polizeilicher Maßnahmen und der Beschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei den Blockupy-Krisenprotesten 2013 in Frankfurt a.M. gewinnen die nachträglichen Gerichtsurteile zu den G8-Protesten in Heiligendamm an Relevanz. Denn die Gerichtsurteile haben polizeiliche Verbote und Maßnahmen für rechtswidrig erklärt, die legitime und rechtlich erlaubte Proteste einschüchtern und verhindern sollten. Für einen demokratischen Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland ist es deshalb von Bedeutung, dass auch lange nach den Ereignissen in Heiligendamm Grundrechtsverletzungen öffentlich gemacht werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass auch in Zukunft das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit gewahrt bleibt und sich die Einsätze der Polizei im Rahmen rechtsstaatlicher Grenzen bewegen. Zudem werden Bestandteile des Sicherheitskonzeptes der Polizei (z.B. das Einrichten großflächiger Demonstrationsverbotszonen) für Protestereignisse wie die Naziaufmärsche in Dresden oder die Blockupy-Krisenproteste in Frankfurt a.M. übernommen, obwohl das Sicherheitskonzept der Polizei in Heiligendamm im August 2012 vom OVG Greifswald kritisiert wurde.

Vernachlässigung:
Die Urteile des BGH im Januar 2007 zu den Hausdurchsuchungen unter Berufung auf den  Paragraphen 129a und des EGMR im Dezember 2011 zur Inhaftierung zweier Männer sind in regionaler und überregionaler Presse gut dokumentiert. Beide haben für Aufregung und Aufmerksamkeit gesorgt, so dass sie als nicht vernachlässigt angesehen werden können.
Die mediale Aufmerksamkeit war teilweise gering, obwohl die restlichen Urteile für zukünftige Proteste ähnlich weitreichend sind. Das Urteil des VG Schwerin zur Käfighaft der Demonstrationsteilnehmer im Oktober 2010 kann als vernachlässigt gelten, weil es lediglich als kurze Agenturmeldung der dpa überregional publiziert wurde. Nur Matthias Monroy, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Partei Die Linke, beschäftigt sich auf heise.de ausführlich mit den Urteilen zum Freiheitsentzug.
Die Klagen gegen die Rechtswidrigkeit der Tornado-Überflüge sind teilweise vernachlässigt. Die Organklage der Grünen ist nicht vernachlässigt, allerdings fand hinsichtlich der Brisanz des Urteils nur eine mangelnde öffentliche Diskussion statt. Die Begründung des Urteils, in der es heißt, dass ein allgemeines Zustimmungsrecht des Bundestags für Bundeswehreinsätze im Inneren dem Grundgesetz nicht zu entnehmen sei, wurde kaum thematisiert. Die darauf folgende abgewiesene Klage vor dem Schweriner VG wegen Grundrechtsverletzung ist vernachlässigt, da sich hierzu nur ein Bericht in der taz und in der Online-Publikation Hintergrund findet.
Das fast vier Jahre später verhängte Urteil des OVG Greifswald in letzter Instanz zur Rechtswidrigkeit der Demonstrationsverbotszone im August 2012 ist eindeutig vernachlässigt, weil es nur in der taz Beachtung findet. War das Urteil des VG Schwerin im Februar 2011 zumindest in regionalen Zeitungen des Nordens noch eine dpa-Meldung wert, so war dies bei der letztinstanzlichen Verhandlung anderthalb Jahre später nicht mehr der Fall. Das Urteil des OVG Greifswald ist insofern bedeutsam, weil damit eine Kritik des Sicherheitskonzeptes der Polizei verbunden war und Demonstrationsverbotszonen auch nach Heiligendamm eine gängige Praxis von Polizei und Gerichten darstellt.

Quellen:
Michael Sontheimer, „Justizposse um illegale Razzia: Kein Geld für niemand“, 05.09.2010, Spiegel Online, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/justizposse-um-illegale-razzia-kein-geld-fuer-niemand-a-715133.html , zuletzt abgerufen am 3.7.2013;

Christian Rath, „Demoverbot war rechtswidrig“, 19.08.2012, taz.de, http://www.taz.de/!99944/, zuletzt abgerufen am 3.7.2013;

n-tv, „G8-Gipfel in Heiligendamm Demo-Verbot war rechtswidrig“, 19.01.2011,
http://www.n-tv.de/politik/Demo-Verbot-war-rechtswidrig-article2402301.html ,zuletzt abgerufen am 3.7.2013;

Martin Kaul, „Europa rettet Demonstrationsrechte“, 01.12.2011, taz.de, http://www.taz.de/Vorbeugehaft-bei-Heiligendamm-Protesten/!82911/ , zuletzt abgerufen am 3.7.2013;

Matthias Monroy, Schlechte Zeiten für Deutschlands Polizei, 06.10.2010, heise.de, http://www.heise.de/tp/artikel/33/33444/1.html , zuletzt abgerufen am 3.7.2013;

Ralf Wurzbacher, „Militäreinsatz im Inland – Kein Interesse bei Justiz“, 19.12.2011, Hintergrund,
http://www.hintergrund.de/201112191837/politik/inland/militaereinsatz-im-inland-kein-interesse-bei-justiz.html , zuletzt abgerufen am 3.7.2013;

Tageszeitung, „Kein Urteil zu Tornados über Demo-Camp“, 22.12.2011, taz.de, http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=a2&dig=2011%2F12%2F22%2Fa0082&cHash=32891f00c6230b4cfae31c5205884a0d , zuletzt abgerufen am 3.7.2013

Kommentar:
Carsten Gericke, Republikanischer Anwaltsverein:
„Die Berichterstattung während des G8-Gipfels habe ich als sehr detailliert wahrgenommen, jedoch ist mir keine Berichterstattung zu den nachträglichen Urteilen der „Käfighaft“ und des „Demonstrationsverbotes“ bekannt.“