2012: Top 9

Die undurchsichtige Industrie humanitärer Hilfe

Eine Industrie ohne Rechenschaftsbericht: Jeder kann eine humanitäre Hilfsorganisation gründen. Doch ob sie sinnvoll arbeitet und ihre Gelder an der richtigen Stelle einsetzt, ist von außen schwer nachvollziehbar. Die Medien berichten zwar ausführlich über humanitäre Hilfseinsätze bei großen Krisen und Naturkatastrophen. Transparenz darüber, wie sich die Hilfsgelder etwa im Jahresverlauf verteilen, schaffen sie aber nur selten. Gleiches gilt für Diskussionen über Reformen der Finanzstruktur humanitärer Hilfe.

Sachverhalt & Richtigkeit

Ob Jemen, Bangladesch oder Kolumbien: Die EU-Kommission hat für das Jahr 2012 die humanitäre Situation in diesen und sieben weiteren Regionen der Welt als „forgotten crises“ eingestuft. Die betroffene Bevölkerung dieser Krisenländer erhält nach Ansicht der EU zu wenig oder gar keine internationale humanitäre Hilfe. Auch die von der UNO ausgerufenen Hilfegesuche für Krisensituationen sind nach UN-Angaben in den vergangenen Jahren in der Regel nur zu rund zwei Dritteln erfüllt worden.

Spendengelder und staatliche Mittel fließen in der Regel entsprechend der Medienaufmerksamkeit. Wo die Kameras stehen, gibt es finanzielle Unterstützung; wo die Staaten Interessen haben, werden Gelder für humanitäre Zwecke freigemacht. Bei vielen, vor allem kleineren Hilfsorganisationen, greift das humanitäre Dilemma: Sie sind auf medienwirksame Aktionen angewiesen, um selbst überleben zu können und organisieren sich lieber allein als zusammen mit anderen Helfern. In den anderen Krisenregionen kommt dagegen wenig Geld an.

Humanitäre Hilfe hat sich längst zu einer Industrie entwickelt, bei der Milliarden an Geldern durch die Welt fließen. Eine zentrale Stelle, bei der die Organisationen ihre Finanzen melden, gibt es nicht; offiziell müssen sie niemandem Rechenschaft ablegen. Dementsprechend fehlt neben einem Kontrollorgan auch eine objektive Instanz, die den Bedarf an humanitärer Hilfe ermittelt.

Einen Richtwert liefert der Nothilfekoordinator der UN, der beispielsweise jährlich die in Krisengebieten benötigten Hilfsmittel veröffentlicht – für 2012 sind 7,7 Milliarden US-Dollar (das entspricht rund 6,1 Milliarden Euro) für 51 Millionen Betroffene in 16 Ländern ausgerufen worden. Kritiker weisen allerdings darauf hin, dass diese Zahlen nur Schätzwerte darstellten, da sie auf freiwilliger Basis von Staaten und Hilfsorganisationen an die UN übermittelt werden.

Kaum durchschaubar sind auch die Finanzstrukturen, auf denen internationale humanitäre Hilfe basiert. Die Organisationen finanzieren sich aus privaten Spenden und freiwilligen Zuwendungen der Geberstaaten. Der Finanzstrom ist extrem verzweigt und dadurch potenziell chaotisch: Die nationalen Regierungen geben Mittel an eigene NGOs, an UN-Hilfsorganisationen und betroffene Regierungen,  die EU-Staaten geben einen Teil an ECHO; UN-Hilfsorganisationen setzen ihre Mittel nur zum geringen Teil durch eigenes Personal ein, sie beauftragen eher internationale oder lokale NGOs mit der Projektabwicklung; schließlich leiten internationale NGOs und private Stiftungen einen Großteil ihrer Mittel an lokale NGOs weiter oder im Falle der Stiftungen auch an UN-Hilfsorganisationen. Das erläutert Politikwissenschaftler Dieter Reinhardt in seinem Aufsatz aus dem Jahr 2011. Andere Experten bemängeln, dass Hilfsprojekte vor Ort bis zu sieben Mal delegiert würden, wodurch viel Geld verloren ginge, etwa durch Verwaltungskosten.

Auch wenn die UN-Zahlen nur bedingt Aussagekraft haben, veranschaulichen sie doch die komplizierten Verteilungsstrukturen: So gingen im Jahr 2011 von den deutschen Geldern (alle Prozentsätze gerundet) 41 Prozent an UN-Organisationen, 27 Prozent an NGOs, 18 Prozent an andere private Organisationen und Stiftungen sowie zehn Prozent an das Rote Kreuz. Den Zahlen des Amtes für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) zufolge, wurden insgesamt rund 417 Milliarden US-Dollar (das entspricht rund 326 Milliarden Euro) ausgegeben, um in verschiedenen Krisengebieten die unterschiedlichsten Organisationen zu unterstützen. So flossen laut OCHA allein 2011 Gelder aus Deutschland an 16 verschiedene Projekte von Organisationen, die in Haiti im Einsatz waren – beispielsweise an den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) und das Technische Hilfswerk (THW).

Einige Experten und Politiker fordern, die Struktur humanitärer Hilfe zu überdenken und mehr auf Kooperation und Zentralität als auf Freiwilligkeit zu setzen. So forderte 2010 etwa Hansjörg Strohmeyer, Abteilungsleiter für strategische Planung im UN-Nothilfebüro in New York, die Einrichtung eines globalen Hilfsnetzwerkes. Auch der britische Minister für internationale Entwicklung, Andrew Mitchell, ruft – mit Verweis auf eine steigende Zahl zu erwartender Katastrophen – dazu auf, in zentral gebündelte Fonds zu investieren. Ein Beispiel ist der Nothilfefonds der UN (Central Emergency Response Fund, kurz: CERF). Er soll dafür sorgen, dass Gelder nach einer Katastrophe schneller ihren Bestimmungsort erreichen und in so genannten unterfinanzierten Regionen ankommen. Staaten und Privatpersonen zahlen auf freiwilliger Basis jährlich in den Fonds ein und stimmen damit zu, dass die finanziellen Mittel nach Ermessen des UN-Nothilfekoordinators verteilt werden – auch abseits der Medienaufmerksamkeit.

Mit einem Volumen von 500 Millionen US-Dollar (etwa 397 Milliarden Euro) stellt der Fonds bislang allerdings nur einen Bruchteil der jährlich benötigten finanziellen Mittel dar. Während Großbritannien im Jahr 2011 beispielsweise rund 94 Millionen US-Dollar in den CERF eingezahlt hat, spendete Deutschland nur rund 16 Millionen US-Dollar. Bei den Geber-Regierungen würde eine Ausweitung solcher zentraler Fonds insgesamt auf wenig Gegenliebe stoßen, vermuten Experten. Zudem gibt es Befürchtungen, dass durch eine Ausweitung zentraler Töpfe neue politische Begehrlichkeiten geweckt und das humanitäre Dilemma verschärft werden könnte.

Relevanz

Die Finanzierung humanitärer Hilfe hat sich längst zu einer Industrie entwickelt, bei der Summen in Milliardenhöhe durch die Welt fließen. Einen Überblick darüber, wo ihr Geld landet und wie es zum Einsatz kommt, können sich die unzähligen Spender, die direkt oder über Steuern indirekt helfen wollen, kaum verschaffen. Vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Krisen, Organisationen und staatlicher Eigeninteressen ist es notwendig, Transparenz herzustellen – indem Zahlen hinterfragt und bestehende Finanzstrukturen diskutiert werden.

Vernachlässigung

Die Medien berichten über einzelne Katastrophen, ein Gesamtüberblick über die komplizierte Finanzstruktur der humanitären Hilfe fehlt dagegen in der öffentlichen Auseinandersetzung. Kaum ein Medium schafft Transparenz, indem es den Weg der Gelder für humanitäre Hilfe nachverfolgt. Dabei bietet der Financial Tracking Service (FTS) der UN einen ersten – wenn auch nicht ganz genauen – Anhaltspunkt. Hier sind beispielsweise Auflistungen zu finden, an welche Organisationen die Geberstaaten ihre Mittel vor Ort vergeben. Auch Diskussionen über Reformen des Systems werden nur äußerst selten von den Massenmedien angestoßen. So lieferte die Recherche in der Datenbank Genios nur rund 15 Artikel, die sich beispielsweise mit dem CERF beschäftigt haben.

Quellen

People: „SOS fund ‚dangerously unprepared’”, 27.12.2011,

http://www.people.co.uk/news/uk-world-news/2011/12/27/sos-fund-dangerously-unprepared-102039-23661476/, abgerufen am 25.6.2012

Dieter Reinhardt, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, Gespräch am 27.4.2012

Dieter Reinhardt: „Strukturprobleme der internationalen humanitären Hilfe. Labile UN-Strukturen, schwaches Finanzierungssystem, geostrategische Interessen“, in: Vereinte Nationen, Februar 2011, http://inef.uni-due.de/cms/files/reinhardt_beitrag_vn_2-11.pdf, abgerufen am 25.6.2012

Dieter Reinhardt, Claudia Rolf: „Humanitäre Hilfe und vergessene Katastrophen, UN-Weltgipfel und neue Finanzierungsmechanismen“, in: INEF Policy Brief, Januar 2006,

http://inef.uni-due.de/cms/files/policybrief01.pdf,  abgerufen am 25.6.2012

Catherine Götze:  „Humanitäre Hilfe – Das Dilemma der Hilfsorganisationen“, in: „Der Bürger im Staat“, Heft 4, 2004

Linda Polman, niederländische Journalistin und Autorin des Buches „Die Mitleidindustrie“, Gespräch am 22.5.2012

Hansjörg Strohmeyer: „Spenden allein reicht nicht. Megakatastrophen nehmen zu – warum wir ein globales Hilfsnetzwerk brauchen“, 19.8.2010, Die Zeit Nr. 34

Thomas Scheen, Afrika-Korrespondent der FAZ, Gespräch am 21.6.2012

Thomas Scheen: „Humanitäre Hilfe. Vom Geld kommt kaum etwas an“, 29.7.2011, FAZ

Europäische Kommission: „ECHO Global Needs Assessment and Forgotten Crises 2011-12“, http://ec.europa.eu/echo/files/policies/strategy/gna_fca_2011_2012_map.pdf, abgerufen am 25.6.2012

Europäische Kommission: „Forgotten Crises Assessment 2012“, http://ec.europa.eu/echo/files/policies/strategy/fca_2011_2012.pdf, abgerufen am 25.6.2012

Central Emergency Response Fund: “Donors – CERF Pledges and Contributions 2006 – 2012”, http://ochaonline.un.org/cerf/Donors/Donors/tabid/5370/language/en-US/Default.aspx, abgerufen am 25.6.2012

United Nations: “Humanitarian Appeal 2012 – Fact Sheet”, http://ochanet.unocha.org/p/Documents/Cap%20Briefing%20Fact%20Sheet_2012.pdf, abgerufen am 25.6.2012

Financial Tracking Service: “Donor Country: Germany, Emergency year: 2011”, http://fts.unocha.org/pageloader.aspx?page=search-reporting_display&CQ=cq210512205548xjgYvrHiBI&orderby=EmergencyTitle&showDetails=, abgerufen am 25.6.2012

Financial Tracking Service: “Donor Profile Germany in 2011, Funding per Appealing Agency“,

http://fts.unocha.org/reports/daily/ocha_Rdonor10_DC79_Y2011___1206210203.pdf, abgerufen am 25.6.2012

Dominic Johnson, Auslandschef der taz, E-Mail-Wechsel am 19.6.2012

Kommentare

Linda Polman, niederländische Journalistin und Autorin des Buches „Die Mitleidsindustrie:

„There are only a few journalists who are specialised in aid. Most people ask ,What is wrong with aid?‘ So the journalists think the topic is boring for their readers. They do not see the industry behind aid. But this is a very naive look. We have to learn that the subject is important to understand. Journalists must pressure the nations and organisations, because it’s our money. The topic is not only important for us, but also (and even more so) for the people who receive our aid, the poor, the vulnerable, the victims. It is our responsibility that they receive the most professional aid we can possibly offer and it is our duty to make sure that our aid doesn’t do harm, when it is abused as an instrument of war.”

„Es gibt nur sehr wenige Journalisten, die sich auf die Hilfsindustrie spezialisiert haben. Die meisten Menschen fragen sich: ‚Was kann schon an Hilfe falsch sein?’ Somit denken die Journalisten, dass das Thema für die Leser langweilig ist. Sie sehen nicht die Industrie dahinter. Das ist aber eine sehr naive Ansicht. Wir müssen lernen, dass es wichtig ist, das Thema zu verstehen. Journalisten müssen Druck auf die Nationen und Organisationen ausüben, denn es ist unser Geld. Außerdem ist das Thema nicht nur für uns wichtig, sondern auch (und sogar mehr) für die Menschen, die unsere Hilfe erhalten – die Armen, die Verwundeten, die Opfer. Es ist unsere Verantwortung, dass sie die professionellste Hilfe erhalten, die wir wahrscheinlich geben können und es ist unsere Pflicht, sicherzustellen, dass unsere Hilfe nicht schadet, wenn sie als ein Kriegsinstrument missbraucht wird.“

Dieter Reinhardt, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen:

„Die Geber-Regierungen brauchen eine übergeordnete Instanz, die global den Bedarf an humanitärer Hilfe kontinuierlich ermittelt und die Finanzströme lenkt. Es bietet sich an, dass diese Regierungen ihre gesamten Mittel humanitärer Hilfe dem UN-Nothilfekoordinator zur Verfügung stellen, der dann weiter über den Einsatz der Hilfen entscheidet. Die Staaten würden diesen Einsatz regelmäßig überprüfen. Über solch eine Reform der Finanzierung wird aber nicht öffentlich debattiert. Das fehlt natürlich.“

Thomas Scheen, Afrika-Korrespondent der FAZ:
„Wer sich als Journalist kritisch mit Hilfsorganisationen auseinandersetzt, wird als hartherzig bezeichnet. Dass über die Industrie der humanitären Hilfe zu wenig berichtet wird, hat auch mit der unheiligen Zweckehe von Hilfsorganisationen und Journalisten zu tun. Weil finanzielle Mittel fehlen, reisen viele Journalisten gemeinsam mit den Hilfsorganisationen. Da ist dann keine Unabhängigkeit mehr gegeben.“