2012: Top 2

HIV-positiv auf dem Arbeitsmarkt: Kein Rechtsschutz gegen Diskriminierung

HIV-positive Menschen klagen darüber, dass sie in der Arbeitswelt auch in Bereichen benachteiligt werden, in denen ihre Infektion keinerlei Risiko darstellt. Momentan sind sie dagegen auch nicht durch den gesetzlichen Gleichbehandlungsgrundsatz geschützt. Unter das Schutzziel „Behinderung“, das im deutschen Antidiskriminierungsgesetz und der einschlägigen EU-Richtlinie genannt sind, fallen HIV-Positive (aus gutem Grunde) nicht. Die Politik sieht offensichtlich keinen Anlass, eine allgemeingültige Rechtsgrundlage zu schaffen, sondern überlässt die Frage der Rechtsprechung. Auch 30 Jahre nach dem Bekanntwerden von AIDS sind Betroffene deshalb im Bereich des Arbeitsrechts den existierenden Vorurteilen schutzlos ausgeliefert.

Sachverhalt & Richtigkeit

HIV-Erkrankungen fallen einem im Januar 2012 gefällten Urteil des Berliner Landgerichts nach nicht unter das Schutzmerkmal „Behinderung“ des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Der 24-jährige Chemielaborant Sebastian F. ist damals vor Gericht gezogen, weil er von seinem Arbeitgeber entlassen wurde, nachdem seine HIV-Erkrankung während der Probezeit bekannt geworden war. F. war in der Qualitätssicherung beschäftigt – einem Bereich, in dem jedes Produkt, mit dem er in Berührung kam, ohnehin sofort entsorgt wurde. Ansteckungsgefahr bestand also nicht. Folglich fühlte sich der Entlassene diskriminiert und zog vor das Berliner Arbeitsgericht und in zweiter Instanz vor das Landesarbeitsgericht, wo er sich auf das AGG berief. Seine Klagen wurden beides Mal abgewiesen. Die Begründung der Richter: HIV-Infizierte sind nicht per se in ihrer Arbeitsleistung eingeschränkt. Derzeit liegt der Fall dem Bundesarbeitgericht vor, dessen Entscheidung eine Signalwirkung haben könnte.

Laut der zugrunde liegenden EU-Richtlinie sind alle „physische[n], geistige[n] oder psychische[n] Beeinträchtigungen“ als Behinderung zu werten, die die Teilhabe am Berufsleben einschränken. Von den Versorgungsämtern wird die HIV-Erkrankung auch in Deutschland schon vor Ausbruch der AIDS-Symptome als zehnprozentige Behinderung gewertet – doch im Arbeitsrecht fehlt eine solche Interpretation. Infizierte genießen deshalb nicht automatisch einen besonderen Schutz vor Kündigung und Diskriminierung. Im „Aktionsplan AIDS und HIV“ des Bundesgesundheitsministeriums findet sich zu der Problematik eine entsprechende Position: „Menschen mit HIV und AIDS werden im AGG zwar nicht gesondert erwähnt, sie können jedoch indirekt den Schutz des AGG in Anspruch nehmen, zum Beispiel wenn sie aufgrund ihrer HIV-Infektion diskriminiert werden.“

Da die Öffentlichkeit in Sachen HIV nach wie vor schlecht aufgeklärt sei, besteht aus Sicht des Arbeitsrechtlers Michael Blomeyer ein hohes Risiko für Diskriminierung Infizierter am Arbeitsplatz. Er spricht sich daher für eine Ausweitung des AGG aus. Auch die Deutsche AIDS-Hilfe betont, dass HIV und AIDS noch immer ein gesellschaftliches Stigma anhänge.

Der Einzelfall des Sebastian F. hat gezeigt, dass die Justiz bislang keine gesetzliche Grundlage dafür sieht, im Sinne der Position des Gesundheitsministeriums zu entscheiden. Die Bundesregierung lehnte die  Anfrage eines Bundestagsabgeordneten der Partei DIE LINKE nach einer ausdrücklichen Ausweitung des AGG auf HIV-positive bzw. chronisch kranke Menschen ab. Begründung: „Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass mit dem AGG ein wirksames Rechtsinstrument geschaffen wurde, um den europäischen Vorgaben folgend, Benachteiligungen […] zu verhindern oder zu beseitigen. Die Notwendigkeit für weitere auch gesetzgeberische Maßnahmen besteht nach Auffassung der Bundesregierung nicht.“ Damit sind HIV-Infizierte auch weiterhin nicht gegen Diskriminierung im Arbeitsalltag geschützt.

Relevanz

Nach Schätzungen der Deutschen AIDS-Hilfe sind in Deutschland etwa 50.000 Arbeitnehmer HIV-positiv. Wie viele von ihnen sich gegenüber Arbeitgebern und Kollegen „geoutet“ haben, ist unbekannt. Für sie alle bedeutet das Fehlen einer eindeutigen Gesetzesgrundlage mangelnde Sicherheit. Der Bundesregierung ist die Problematik bekannt und bewusst. Sie könnte für eine Verbesserung der Situation sorgen, indem sie HIV entweder auch arbeitsrechtlich als Behinderung einstuft oder den Schutzbereich des AGG ausweitet. Doch obwohl das Bundesgesundheitsministerium in dem oben genannten Aktionspapier die Meinung vertritt, dass HIV-positive Arbeitnehmer vor Diskriminierung geschützt werden müssen, wurde bis heute nicht gehandelt.

Vernachlässigung

Über den Fall des Chemielaboranten Sebastian F. berichteten im Januar 2012 verschiedene Medien (u.a. FOCUS, FAZ und taz). Die allgemeine Problematik der Diskriminierung HIV-Positiver am Arbeitsplatz hat außer dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (Beitrag in der Sendung „klartext“) bisher jedoch nur das Internetportal queer.de aufgegriffen. In den Leitmedien ist die Thematik eindeutig vernachlässigt.

Quellen

Deutscher Bundestag: „Drucksache 17/7283, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 17/7049 –“, 7.10.2011, dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/072/1707283.pdf, abgerufen am 25.6.2012

Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE: „Drucksache 17/10148, Kleine Anfrage des MdB Klaus Lederer: Kündigung von Arbeitnehmer/innen aufgrund einer HIV-Infektion“, 1.3.2012, http://www.linksfraktion-berlin.de/nc/fraktion/abgeordnete_alt/detail/zurueck/anfragen-1/artikel/kuendigung-von-arbeitnehmerinnen-aufgrund-einer-hiv-infektion/, abgerufen am 25.6.2012

Anwaltskanzlei Bandmann: „Kündigung eines Mitarbeiter wegen HIV-Infektion durch den Arbeitgeber“, 13.1.2012,

http://www.kanzlei-seiten.de/kanzlei/bandmann-kr%C3%B6nert-partnerschaft/bibliothek/k%C3%BCndigung-eines-mitarbeiter-wegen-hiv-in, abgerufen am 25.6.2012

(Bewertung des Urteils im Fall Sebastian F.)

Bundesministerium für Gesundheit: „Aktionsplan zur Umsetzung der HIV/AIDS-Bekämpfungsstrategie der Bundesregierung“, März 2007, http://www.bmg.bund.de/fileadmin/redaktion/pdf_broschueren/Aktionsplan-HIV_Aktionsplan-HIV-Aids-deutsch.pdf, abgerufen am 25.6.2012

queer.de: „Bundesregierung lässt HIV-Positive ‚im Regen stehen‘“, Dennis Klein, 6.10.2011, http://www.queer.de/detail.php?article_id=15123

und „Entlassung wegen HIV-Infektion rechtens?“, Carsten Weidemann, 5.8.2011, http://www.queer.de/detail.php?article_id=14760

sowie „HIV-Positiver kämpft vor Gericht gegen Entlassung“, Dennis Klein, Carsten Weidemann, 29.11.2012, http://www.queer.de/detail.php?article_id=15458, alle abgerufen am 4.7.2012

Ute Barthel: „Kündigung wegen HIV-Infektion – Diskriminierung am Arbeitsplatz?“, 21.9.2011, klartext (RBB), http://www.rbb-online.de/klartext/archiv/klartext_vom_21_09/kuendigung_wegen_hiv.html, abgerufen am 25.6.2012

Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen AIDS-Hilfe, Gespräch am 3.5.2012

Michael Blomeyer, Arbeitsrechtler an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der TU  Dortmund, Gespräche am 16.5.2012 und 24.5.2012

Minou Banafsche, Sozialrechtlerin des Max-Planck-Instituts München, E-Mail-Wechsel am 17.5.2012

Kommentare

Holger Wicht, Pressesprecher der Deutschen AIDS-Hilfe:

„Die meisten Menschen mit HIV arbeiten und sind nicht weniger leistungsfähig als andere Arbeitnehmer. Obwohl keinerlei Infektionsgefahr für Kollegen oder Kunden besteht, kommt es immer wieder zu Mobbing, Ausgrenzung und sogar rechtswidrigen Kündigungen – meist sind irrationale Ängste die Ursache. Berichterstattung über dieses Thema ist so wichtig, weil sie informiert und gleichzeitig Menschen Anlass geben kann, die eigene Haltung zu überprüfen und sich mit den damit verbundenen Gefühlen auseinanderzusetzen.“

Michael Blomeyer, Arbeitsrechtler an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der TU  Dortmund:

„Die Behandlung HIV-Positiver im Erwerbsleben und am Arbeitsplatz stellt sich dar als eine Problematik mit ethischen, sozialen und nicht zuletzt rechtlichen Implikationen, die jedoch aufgrund von Unwissenheit und Berührungsängsten nicht mit der nötigen Offenheit diskutiert wird. Rechtliche Lösungsansätze, z.B. der Antidiskriminierungsschutz nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, vermögen nur dort zu überzeugen, wo sie in diesen vielschichtigen Kontext eingebettet werden und sich zugleich der Grenzen rechtlicher Lösungen bewusst sind. Die Verpflichtung zur Erörterung dieses Problems liegt aber nicht alleine bei den Arbeitsrichtern oder den Politikern, sondern bei allen am Arbeitsverhältnis und seiner Ausgestaltung Beteiligten.“