2012: Top 10

Betrugsanfälligkeit von Drogentests

Mehr als 25.000 Autofahrern wurde 2011 nach Angaben des Kraftfahrtbundesamt der Führerschein wegen „charakterlicher Mängel aufgrund Neigung zu Trunk-, Arzneimittel oder Rauschgiftsucht“ entzogen. Wer seine Fahrerlaubnis wiederhaben will, muss oft Urinproben für einen Drogentest einreichen. Doch diese sind anfällig für Betrug: Offenbar ist es möglich, unerkannt Kunsturin einzureichen (der bei Internethändlern wie Amazon frei verkauft wird ebenso wie Boxershorts oder gar Kunstpenisse mit einem kleinen Beutel „Clean Urin“). Die Behörden gestehen ein, dass es Manipulationsversuche gibt. Aber offensichtlich wird das Problem unterschätzt, weil zum Beispiel bei Drogentests nicht einmal stichprobenartig überprüft wird, ob es sich um Kunsturin handelt.

Sachverhalt & Richtigkeit

26.020 Fahrern wurde nach Angaben des Kraftfahrtbundesamtes im Jahr 2011 wegen „charakterlicher Mängel aufgrund Neigung zu Trunk-, Arzneimittel- oder Rauschgiftsucht“ der Führerschein entzogen und aberkannt. Die Fahrerlaubnis wird dann entzogen, wenn sich laut Straßenverkehrsgesetz „jemand als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen“ erweist. Wer seinen Führerschein wiederbekommen möchte, muss sich einer von der entsprechenden Behörde angeordneten MPU unterziehen. Je nach begangener Straftat unterscheiden sich die Fragen im psychologischen Teil. Den Arzt, der den Betroffenen auf seine körperliche und geistige Eignung für den Straßenverkehr prüft, kann dieser selbst wählen. Die entnommene Haar- oder Urinprobe wird einem approbierten Labor zugeschickt.

Muss der Betroffene Urin- oder Haarproben abgeben, geschieht dies meist ohne dass die Probe mit dem jeweiligen Vor- und Zunamen des Betroffenen versehen wird. Hierzu gibt es dem Pressesprecher des Datenschutzbeauftragten NRW zufolge keine einheitliche Regelung. Proben mit Barcodes zu versehen sei „datenschutzfreundlich“. Der Verkehrspsychologe Thomas Rock sieht in dieser Praxis jedoch eine Möglichkeit, dem Labor falschen Urin einzureichen. Dem widerspricht das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS): Es sei nicht ersichtlich, inwiefern das Procedere das Einschleusen falscher Proben erleichtern sollte. Die Möglichkeit zum Täuschungsversuch bestehe, wenn die Probe abgegeben wird, sagt der Pressesprecher des Datenschutzbeauftragten NRW. Eine Zahl über Betrugs- oder Manipulationsversuche bei Haar- oder Urinproben, die im Rahmen von MPUs abgegeben wurden, konnte das BMVBS nicht nennen. Dass es Manipulationsversuche gibt, bestätigte das Ministerium jedoch.

Künstlicher Urin ist frei im Internet erhältlich, sogar über den bekannten Anbieter Amazon. Dem Vertreiber des so genannten „Clean Urin“ zufolge, handelt es sich bei dem Produkt um „vollsynthetischen Urin“, der dem echten sehr ähnlich ist. Urintests mit Drogenscreening bestehe der künstliche Urin mit negativem Ergebnis – der Getestete gilt als drogenfrei. Auch wenn darauf hingewiesen wird, dass der künstliche Urin u.a. für Drogentests nicht verwendet werden sollte, wird doch klar impliziert, dass das Produkt genau für solche Zwecke hergestellt wird. So werden beispielsweise spezielle Boxershorts mit einem kleinen Beutel „Clean Urin“ angeboten, das für den Fall einer Verkehrskontrolle mitgeführt werden kann.

Bei Betroffenen, die zum Beispiel Cannabis konsumieren, scheint das Produkt sehr beliebt zu sein. Kommentare in entsprechenden Internetforen lassen darauf schließen, dass derartige Produkte regelmäßig bestellt und verwendet werden, auch in Kontrollsituationen wie der MPU oder betriebsärztlichen Untersuchungen. Aus den Foren ist auch ersichtlich, dass künstlicher Urin nicht nur über das Internet, sondern auch in so genannten Head Shops für Cannabis-Konsum und -zubehör erhältlich ist.

Spricht man jedoch mit Laboren, ist der Betrug mit künstlichem Urin nicht einmal bekannt. Der Mediziner eines Labors ist der Meinung, dass es „sehr schwer“ sei, künstlichen Urin unter Aufsicht abzugeben. Auch wenn es für diesen Zweck (zumindest für männliche Betroffene) Produkte gibt, die einen Betrug ermöglichen –  den „Screeny Weeny“, einen künstlichen Penis. Forenbeiträgen nach zu urteilen, gibt es auch mit diesem Hilfsmittel gute Erfahrungen – sogar bei Urinabgabe unter Aufsicht. Ein anderer Mediziner sagt, dass spätestens unter dem Mikroskop künstlicher Urin von natürlichem zu unterscheiden sei. Im Regelfall würden Urinproben allerdings nicht unter dem Mikroskop untersucht.

Relevanz

Das Thema ist relevant, da es alle Verkehrsteilnehmer in Deutschland betrifft. Rund ein Viertel der 100.000 bei der MPU getesteten Fahrer verliert ihren Führerschein aufgrund von Drogendelikten oder anderen unerlaubt eingenommenen Substanzen. Die MPU soll dabei garantieren, dass derjenige, der sie durchläuft, geistig und körperlich dazu befähigt ist, ein Fahrzeug zu führen.

Ein Blick in Internetforen und die Recherche in Online-Communities hat dagegen gezeigt, dass es üblich ist, bei der MPU durch verschiedene Methoden zu betrügen. Die Bereitwilligkeit, Proben zu fälschen statt für eine Zeit auf Drogenkonsum zu verzichten, scheint hoch. Die Euphorie darüber, dass Betrugsversuche, etwa mit „Clean Urin“, erfolgreich sind, ist in zahlreichen Foren deutlich herauszulesen.

Es ist also davon auszugehen, dass einige Autofahrer ihren Führerschein durch Betrugsversuche zurückbekommen, auch wenn sie aus medizinischer und verkehrsrechtlicher Sicht nicht dazu berechtigt sind.

Vernachlässigung

Die deutsche Presse berichtet kaum über die Missbrauchsanfälligkeit oder Betrugsmöglichkeiten bei der MPU. Wenn die Untersuchung in den vergangenen zwei Jahren in der Berichterstattung auftauchte, ging es meist um mangelnde Transparenz. Mit falschen oder gefälschten Urinproben wurde sie mit Ausnahme weniger Einzelfälle nicht in Verbindung gebracht.

Im Februar 2012 wurde bekannt, dass ein in Essen und Dortmund ansässiges Institut in mehreren betrogen haben soll, in dem es Kunden gegen Geld gefälschte „cleane“ Gutachten ausgestellt hat. Künstlicher Urin ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht erwähnt worden. Die einzigen beiden Veröffentlichungen, die in diese Richtung gehen, waren ein Bericht über einen Neuseeländer, der künstlichen Urin anbietet und  ein Artikel in der „Welt“. Darin ging es um Polizeiwachen in Hamburg, die mit neuen Drogentestgeräten zur Analyse von Speichel ausgerüstet wurden, nachdem bekannt wurde, dass „Clean Urin“ eingesetzt worden war.

Quellen

WDR Panorama: „Gefälschte Idiotentests“, 24.2.2012, http://www1.wdr.de/themen/panorama/mpu102.html, abgerufen am 4.7.2012

Heinz Krischer, Mitglied der Redaktion „Land und Region“ der Westfälischen Rundschau, Gespräch am 21.6.2012

Heinz Krischer: „So betrog das Institut beim ‚Idiotentest‘ (MPU) im Ruhrgebiet“, 24.2.2012, Der Westen,

http://www.derwesten.de/region/westfalen/so-betrog-das-institut-beim-idiotentest-mpu-im-ruhrgebiet-id6394950.html, abgerufen am 4.7.2012

(Bericht über das Institut in Essen/Dortmund)

André Zand-Vakili: „Neuer Schnelltest gegen Drogensünder“, 28.2.2012, Welt Online, http://www.welt.de/print/die_welt/hamburg/article13892369/Neuer-Schnelltest-gegen-Drogensuender.html, abgerufen am 4.7.2012

(Bericht über das Institut in Essen/Dortmund)

Thomas Rock, Fachpsychologe für Verkehrspsychologie und Betreiber der Internetseite www.prompu.de, Gespräch am 14.5.2012

Dr. med. Christoph Niederau, Arzt für Laboratoriumsmedizin des „MVZ Niederau & Partner“, Gespräch am 19.6.2012

Nils Schröder, Pressesprecher des Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein-Westfalen, Gespräch am 18.6.2012

Richard Schild, Referatsleiter beim Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), E-Mail-Wechsel am 7. und 18.6.2012

Deutsches Straßenverkehrsgesetz, http://www.gesetze.2me.net/stvg/index.html, abgerufen am 25.6.2012

Deutsche Fahrerlaubnisverordnung, besonders § 14, http://www.verkehrsportal.de/fev/fev_14.php, abgerufen am 25.6.2012

Head Shop, Internetseite für Zubehör für Cannabis-Konsum mit Sitz in Wildeck,

http://www.head-shop.de/05836.html, abgerufen am 25.6.2012

Hanfburg, Internetforum für Cannabis-Konsumenten, http://forum.hanfburg.de/fhb/showthread.php?t=265898, abgerufen am 25.6.2012

Kommentare

Thomas Rock, Fachpsychologe für Verkehrspsychologie und Betreiber der Internetseite www.prompu.de:

„Für das Fälschen von Haar- und Urinproben gibt es einen großen Markt in Deutschland. Zwar müssen die Proben approbierte Labors untersuchen. Allerdings werden aus Datenschutzgründen diese Proben nicht mit dem Namen der jeweiligen Person versehen, sondern nur mit Barcodes. Hier ist eine Täuschung möglich. Generell ist das deutsche System aber nicht sonderlich anfällig für Täuschungsversuche.“

Heinz Krischer, Mitglied der Redaktion „Land und Region“ der Westfälischen Rundschau:

„Ich habe den Eindruck, dass das durchaus ein vernachlässigtes Thema ist. Für den Bericht („So betrog das Institut beim ‚Idiotentest’ (MPU) im Ruhrgebiet“, Anm. d. Red.) habe ich natürlich selbst vorher recherchiert und gemerkt, dass es da nicht allzu viel zu gab. Ich halte es für ein interessantes Thema.“