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Keine Rente für arbeitende Gefangene

Strafgefangene in Deutschland sind verpflichtet zu arbeiten, sie erwerben dafür aber keine Rentenansprüche. Dies liegt daran, dass die Rentenversicherung nur bei freiwilliger Arbeit greift. Ein Gesetz zur Einbeziehung der Häftlinge wurde 1976 außer Kraft gesetzt. Seitdem ist jedoch nichts geschehen, obwohl die Bundesregierung im Jahr 2008 Handlungsbedarf eingeräumt hat. Ehemalige Gefangene stehen deshalb im Alter vor finanziellen Problemen, da ihre im Gefängnis geleistete Arbeit nicht angerechnet wird. Diese Entlassung in die Altersarmut widerspricht dem Gebot der Resozialisierung. Über das Problem wurde in den Medien bisher kaum berichtet. Rechte von verurteilten Straftätern sind in der Öffentlichkeit vermutlich wenig populär. Menschenrechtler weisen jedoch darauf hin, dass eine gelungene Resozialisierung auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse liegt.

Sachverhalt & Richtigkeit

Auf der Grundlage des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) von 1976 sind arbeitende Gefangene nicht in die Rentenversicherung integriert. Die Paragraphen 190-193 StVollzG wurden damals ausgesetzt – allerdings mit der Ankündigung in § 198 Abs. 3 StVollzG, sie in angepasster Form durch übergeordnetes Bundesgesetz wieder in Kraft zu setzen. Dies hat jedoch bis heute nicht stattgefunden. Diese suspendierten Paragraphen regelten die allgemeinen Bestimmungen zur Sozialversicherung der Gefangenen. Unter anderem den – für Zukunftsplanung und soziale Absicherung der Gefangenen besonders wichtigen – Einbezug der Gefangenen in die Rentenversicherung (§ 191 StVollzG).

Für Gefangene und ehemals Gefangene bedeutet das konkret: Die Zeit, die sie beispielsweise während einer langjährigen Haftstrafe im Gefängnis gearbeitet haben, kann nicht als Anrechnungszeitraum bei der Rentenversicherung angeführt werden. Bei langjährig verbüßten Haftstrafen ergeben sich dadurch neue Probleme der Resozialisierung, da die finanziellen Mittel (die Rente) zum Lebensunterhalt nach Entlassung aus dem Vollzug für eine soziale Absicherung nicht ausreichen.

Die Bundesregierung hat bereits in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage 2008 die Wichtigkeit der Einbeziehung arbeitender Gefangener in die Rentenversicherung betont. Damit habe der Gesetzgeber laut einer Petition des Vereins „Grundrechtekomitee zur Verteidigung der Grund- und Menschenrechte in Deutschland“ „einen gesetzlichen Rentenanspruch der Gefangenen dem Grunde nach […] anerkannt und sich insoweit selbst gebunden.“

Doch auch seit 2008 hat sich die gesetzliche Lage diesbezüglich nicht verändert. Die Sozialgerichte, welche die Klagen der Gefangen bearbeiten, verweisen auf das Fehlen einer Anspruchsgrundlage, da der Paragraph 191 StVollzG suspendiert und der Paragraph 198 Abs. 3 StVollzG nicht in Kraft gesetzt wurde. Außerdem läge während der Zeit in der Haftanstalt kein Arbeitsverhältnis nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) vor, da die Freiwilligkeit fehle. In Haftanstalten gilt nach Paragraph 41 StVollzG eine allgemeine Arbeitspflicht.  Um dies zu verändern, müsste die Politik die Gesetze verändern. Schwierigkeiten könnten sich aber durch die föderale Struktur ergeben, da der Strafvollzug nach der Föderalismusreform 2006 Ländersache ist.

Im Zuge dessen entstanden in Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen und Niedersachen eigene Strafvollzugsgesetze der Länder. Diese haben jedoch die Arbeitspflicht aus dem Bundesgesetz übernommen – die Gefangenen dort arbeiten demnach ebenfalls nicht freiwillig und es besteht keine Rentenversicherungspflicht. In denen sowie im Strafvollzugsgesetz des Bundes (wirksam in den übrigen Bundesländern), gibt es eine Arbeitspflicht im Strafvollzug. Die Bundesländer Berlin, Bremen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in 2011 einen gemeinsamen Entwurf für ein Landesstrafvollzugsgesetz vorgelegt, das aber in den einzelnen Ländern noch nicht in Kraft ist. Dieses sieht ein freiwilliges Arbeitsverhältnis vor, was einer Abschaffung der Arbeitspflicht gleich käme. Trotz Föderalismusreform ist aber weiterhin der Bund gefordert, im Bundessozialgesetzbuch die Versicherungspflicht für auch für Häftlinge festzuschreiben.

Relevanz

Die Relevanz des Themas ergibt sich aus dem demokratischen Recht auf Gleichberechtigung, dem Recht auf Resozialisierung und dem Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen.

Das Recht der Gleichberechtigung ist für Strafgefangene verletzt. Die Gefangenen sind gesetzlich zur Arbeit verpflichtet, auch unter Schulungs-, Weiterbildung- und Resozialisierungsgesichtspunkten. In Bezug auf die Rentenversicherung wird der Arbeit in der Haftanstalt ein geringerer Wert beigemessen als einem freien Beschäftigungsverhältnis.

Mindestens ebenso wichtig erscheint das Recht auf Resozialisierung. Diese kann nur erfolgreich stattfinden, wenn auch die finanziellen Möglichkeiten eines eigenständigen Lebens gegeben sind. Besonders aber nach langjährigen Haftstrafen, in denen die Anrechnungszeiten trotz Arbeit nicht berücksichtigt werden, entstehen erhebliche finanzielle Schwierigkeiten für die ehemaligen Häftlinge.

Dem schließt sich das deutsche Verständnis des Sozialstaats an, in dem die Exklusion von Gruppen verhindert und Minderheiten besonders geschützt werden sollen. Das bedeutet auch, dass Gefangene, die keine oder nur eine sehr geringe Lobby besitzen, die Möglichkeit haben müssen, ihre Interessen und Anliegen öffentlich vorzutragen, und dabei die Unterstützung der Medien benötigen.

Der wichtigste Punkt allerdings betrifft die Selbstverpflichtungserklärungen der Politik. Bei der Gesetzesänderung 1976 war die Thematik hinreichend bekannt und der Paragraph 198 Abs. 3 StVollzG zeigt die Bestrebungen zur Schaffung einer gesetzlichen Grundlage. Im Jahr 2008 betonte die Bundesregierung erneut die Wichtigkeit einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage und somit der Einbeziehung von arbeitenden Gefangenen in die Rentenversicherung.

Aus den oben genannten Gründen und vor allem der Selbstverpflichtungserklärung der Politik ergibt sich die hohe Relevanz des Themas. Gerade weil derzeit an Landesgesetzen im Strafvollzug gearbeitet wird, ist Öffentlichkeit für dieses Thema entscheidend, da das Thema Rentenversicherung für Gefangene so in der politischen Umsetzung berücksichtigt werden kann.

Vernachlässigung

Strafvollzugs-Themen werden in den Medien sehr unterschiedlich behandelt. Themen, die das Leben oder die Schwierigkeiten der Gefangenen betreffen, werden meist vernachlässigt. Das liegt wahrscheinlich an der sehr geringen Lobby, die Gefangene haben. Die mediale Berichterstattung über den Ausschluss aus der Rentenversicherung schließt sich dem an. In der Presse wird das Problem kaum thematisiert, obwohl das Thema seit den 1970er Jahren ein ungelöstes politisches Problem ist. Die Recherche bezieht sich hier auf das Jahr 1998 und die Artikel seit 2008. Es ließen sich ausschließlich zwei Artikel zu diesem Thema finden, die keine weitere Berichterstattung nach sich zogen.

Quellen

Alexander Budweg: „30.000 Gefangene um Rente geprellt“, taz, 12.7.2011

Bundesjustizministerium: „Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung (Strafvollzugsgesetz – StVollzG)“, Ausfertigungsdatum: 16.3.1976, zuletzt geändert durch Art. 2 G v. 29.7.2009 I 2274, http://www.gesetze-im-internet.de/stvollzg/BJNR005810976.html, abgerufen am 26.6.2012

Gitta Düperthal: „Aber das war es dann auch“. Ein Gespräch mit Johannes Feest über den Anspruch Strafgefangener auf Einbeziehung in die Rentenversicherung, jungeWelt, 19.7.2011

Martin Singe, Komitee-Projektgruppe Haftbedingungen des „Komitees für Grundrechte und Demokratie e.V.“ und Einreicher des Themas, E-Mail-Wechsel am 18.6.2012

Komitees für Grundrechte und Demokratie e.V.:

„Petition zur Einbeziehung von Strafgefangenen in die Rentenversicherung“, vom Einreicher des themas, Martin Singe, zur Verfügung gestellt

Ulrike Löw: „Der Stundenlohn beginnt bei 1,20 Euro“, Nürnberger Nachrichten, 14.4.2012

Matthias W. Birkwald (MdB), Rentenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE

LINKE, E-Mail-Wechsel am 25.6.2012

Senatorin für Justiz des Landes Berlin,

Senators für Justiz und Verfassung der Freien Hansestadt Bremen

und der Justizministerinnen und Justizminister der Länder

Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen: „Entwurf für Landesstrafvollzugsgesetz“, http://www.berlin.de/sen/justiz/presse/archiv/20110906.1155.357632.html, abgerufen am 6.7.2012

Landtag von Baden-Württemberg: „Gesetz zur Umsetzung der Föderalismusreform im Justizvollzug“, 4. November 2009, http://www.jva-adelsheim.de/servlet/PB/show/1247938/jv_ad_Justizvollzugsgesetzbuch.pdf, abgerufen am  6.7.2012

Bayerische Landesregierung: Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe, der Jugendstrafe und der Sicherungsverwahrung (Bayerisches Strafvollzugsgesetz – BayStVollzG), 10. Dezember 2007, http://www.gesetze-bayern.de/jportal/portal/page/bsbayprod.psml?showdoccase=1&doc.id=jlr-StVollzGBYrahmen&doc.part=X&doc.origin=bs, abgerufen am 6.7.2012

Behörde für Justiz und Gleichstellung der Freien und Hansestadt Hamburg, „Gesetz zur Überarbeitung des Hamburgischen Strafvollzugsrechts und zum Erlass eines Hamburgischen Jugendstrafvollzugsgesetzes“, 19. Dezember 2008, http://www.hamburg.de/contentblob/1042146/data/strafvollzugsgesetz-jugendstrafvollzugsgesetz-entwurf.pdf, abgerufen am 6.7.2012

Hessisches Ministerium der Justiz, für Integration und Europa: „Hessisches Strafvollzugsgesetz (HStVollzG)“, 28. Juni 2010, http://www.hmdj.hessen.de/irj/HMdJ_Internet?uid=6c750ad9-d54d-b701-be59-263b5005ae75, abgerufen am 6.7.2012

Niedersächsisches Justizministerium: „Niedersächsisches Justizvollzugsgesetz (NJVollzG)“, 14. Dezember 2007 (Nds.GVBl. Nr.41/2007 S.720), geändert durch Gesetz vom 20.2.2009 (Nds.GVBl. Nr.3/2009 S.32) und Art.2 des Gesetzes v. 25.3.2009 (Nds.GVBl. Nr.6/2009 S.72), http://www.recht-niedersachsen.de/34210/njvollzg.htm, abgerufen am 6.7.2012

Kommentare

Matthias W. Birkwald (MdB) und Rentenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE:

„Strafgefangene unterliegen der Arbeitspflicht. Von Freiwilligkeit ihres Arbeitseinsatzes kann nicht die Rede sein. Aber es ist nicht hinnehmbar, aus der Arbeitspflicht und der fehlenden Freiwilligkeit einen zusätzlichen Nachteil für Strafgefangene in dem Sinne zu konstruieren, dass sie aus der GKV [gesetzlichen Krankenversicherung] und GRV [gesetzlichen Rentenversicherung] ausgeschlossen werden. […] Die Nichteinbeziehung in die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung wirkt sich nicht während der Haftzeit auf die Strafgefangenen aus, sondern betrifft die Zeit nach der Haftentlassung. Durch die Nichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung entstehende Versicherungslücken führen zu niedrigeren Altersrenten. Zudem sind Ansprüche auf eine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR), auf Leistungen der gesetzliche Pflegeversicherung, auf eine Erwerbsminderungsrente oder auf eine Altersrente für langjährig Versicherte an bestimmte Vor- oder Mindestversicherungszeiten geknüpft. Strafgefangene können aufgrund der Nichteinbeziehung in die GRV und GKV diese Voraussetzungen entweder nicht erreichen oder im Fall der Erwerbsminderungsrente sogar erworbene Ansprüche verlieren. Das alles kollidiert mit dem Resozialisierungsgebot.“

Martin Singe, Komitee-Projektgruppe Haftbedingungen des „Komitees für Grundrechte und Demokratie:

„Zum einen wird über die im Strafvollzug ausgegrenzten Menschen generell wenig berichtet. Ein Großteil der Presse setzt Vorurteile bei der Leserschaft voraus und bedient diese, indem Strafverschärfungen gefordert werden, die dann auch wieder von der Politik umgesetzt werden. Grundrechte für Gefangene einzufordern, geht daher gegen den Mainstream. Gruppen ohne starke Lobby im Hintergrund – wie die Gefangenen – werden von Politik und Medien oft am Rande liegen gelassen. Positive Bezüge dazu würden weder Wähler noch Leserschaften mobilisieren. Deshalb bleiben die Berichte darüber auf Fachzeitschriften begrenzt. Der soziale Ausschluss von Gefangenen gerade aus der Rentenversicherung trägt dazu bei, die Rückfallgefahren wegen desaströser sozialer Situationen nach der Haft zu erhöhen. Eigentlich bestünde also ein gesellschaftlich großes Interesse, hier Abhilfe zu schaffen und zunächst auch medialen Druck gegenüber der Politik aufzubauen. Leider ist unsere Medienlandschaft anders aufgestellt.“