2011: Top 1

Bankenrettung ohne wirksame parlamentarische Kontrolle

480 Mrd. Euro des Soffin und 100 Mrd. Euro Restrukturierungsfonds sollen die Bankenrettung sichern. Die Kontrolle über die Mittel lag und liegt in den Händen von Finanzbeamten und ehemaligen Bankenchefs – das Parlament kann sie nicht kontrollieren. Drei Experten hatten seit Herbst 2008 die Möglichkeit, fast doppelt so viel Geld an Banken zu vergeben, wie Deutschland in einem Jahr einnimmt. Kontrolliert wird dieses Geld von fünf weiteren Experten. Neun Parlamentarier in einem für die Bankenrettung zuständigen Gremium haben nur Informationsrechte, dürfen keine Original-Dokumente sehen. Sie haben noch nie eine Entscheidung der Experten abgelehnt. Das verletzt vermutlich das Haushaltsrecht des Bundestags. Mittlerweile ist aus dem Notpaket eine Dauereinrichtung geworden. Deutschland ist damit auf dem Weg zur Expertokratie – weitgehend unbeachtet von den deutschen Medien.

Sachverhalt & Richtigkeit
Der Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung, genannt Soffin, war im Herbst 2008 innerhalb weniger Tage von Regierung und Banken durchgeboxt worden, um die deutschen Banken zu retten. Alternativlos sei die Konstruktion gewesen, beschworen Merkel und Steinbrück stündlich. In aller Eile segneten Bundestag und Bundesrat die entsprechenden Gesetze ab. Über die bis zu 480 Milliarden Euro des Soffin durften die Experten der neu gegründeten FMSA, der Finanzmarktstabilisierungsanstalt, vergeben. Das ist etwa doppelt so viel wie die jährlichen Einnahmen des Bundes.

Bevor der 2008 eingerichtete Soffin Ende 2010 auslaufen sollte, hat das Parlament im Herbst 2010 das Restrukturierungsgesetz verabschiedet. Dieses Gesetz institutionalisiert die Struktur des Soffin im Rahmen des so genannten Restrukturierungsfonds. Die FMSA bleibt erhalten, sie darf weiter über 100 Milliarden Euro verfügen. Zwar sollen in Zukunft an der Bankenrettung auch die Banken selbst beteiligt werden, ihre Beitragszahlungen sind allerdings so gering, dass es Jahrzehnte dauern dürfte, bis der Fonds gefüllt ist – bis dahin steht wieder der Steuerzahler ein.

Drei Experten bilden den Leitungsausschuss der FMSA; ein ehemaliger Finanzbeamter und zwei Ex-Banker. Bei Angelegenheiten mit besonderer Bedeutung entscheidet noch der Lenkungsausschuss mit fünf Personen. Hier sitzen je ein Vertreter der Länder, des Kanzleramtes und der Ministerien für Finanzen, Justiz und Wirtschaft.

Das Parlament darf sich nur informieren; und selbst das nur eingeschränkt. Statt die Entscheidungen über solch große Beträge allen Volksvertretern oder wenigstens dem Haushaltsausschuss zu überlassen, gibt es ein kleines Sondergremium mit neun Abgeordneten. Diese Abgeordneten informieren sich in wöchentlichen Sitzungen. Sie dürfen aber weder Original-Dokumente einsehen, noch dürfen sie außerhalb des Gremiums über die Entscheidungen des Soffin und Restrukturierungsfonds reden.

Theoretisch können die Abgeordneten den Bundesrechnungshof einschalten, was jedoch nur ganz wenige Male in den drei Jahren geschehen ist. Eine Entscheidung der FMSA ist bislang noch nie abgelehnt worden, berichtet ein Abgeordneter. Das Gremium ist zahnlos, obwohl es um riesige Summen geht. Im Oktober 2009 betrug die Summe der gewährten Garantien 155,6 Milliarden Euro. Dies sind Bürgschaften des Bundes. Eine zweite Säule des Soffin und des Restrukturierungsfonds sind konkret vergebene Kredite. Die Summe der aktuell vergebenen Kredite lag am 31. Mai 2011 bei 56,2 Milliarden Euro, war zwischenzeitlich sogar noch höher. Das ist mehr als ein Sechstel des aktuellen Bundeshaushaltes.

Begründet wurde die gewählte Konstruktion damit, dass diese eine schnelle Handlungsmöglichkeit gewährleisten soll. Außerdem sollen damit Geschäftsgeheimnisse der zu rettenden Banken bewahrt werden. Dies sei nötig, um das Vertrauen in die Banken zu wahren.

Eigentlich ist das Haushaltsrecht das Kernrecht des Bundestages. Verfassungsrechtler wie der Speyrer Professor Joachim Wieland sehen deshalb einen Bruch des Grundgesetzes: „Das muss auch kleinteilig im Parlament beschlossen werden, gerade bei solch großen Summen ist eine Ermächtigung eines Expertengremiums nicht zulässig. Das widerspricht Artikel 110 Grundgesetz.“

Relevanz
Das Thema ist relevant, weil hier in einer kleinen Expertenrunde über extrem große Finanzbeträge aus Bundesmitteln entschieden wird, ohne dass Parlament oder Öffentlichkeit Einblick haben oder gar darüber diskutieren können. Das verstößt vermutlich gegen das Haushaltsrecht des Bundestags und damit gegen das Grundgesetz.

Deutschland ist eine Demokratie, in der die gewählten Volksvertreter im Parlament über alle wichtigen Entscheidungen im Namen des Volkes beraten und bestimmen. Selbst über kleinste Millionenbeträge wird in den Haushaltsberatungen alljährlich gestritten. Durch den Soffin und des Restrukturierungsfonds wurde ein großer Teil der deutschen Steuermittel der öffentlichen Kontrolle entzogen. Über das Geld der deutschen Bürger bestimmen Experten, keine Volksvertreter. Doch Deutschland ist eine Demokratie, keine Expertokratie. Eigentlich sollte der Soffin Ende 2010 auslaufen, jetzt ist er institutionalisiert.

Bei der aktuellen Diskussion um den European Stability Mechanism ESM kommt das Problem erneut auf. Mögliche Kreditvergaben an verschuldete EU-Länder haben einen Rahmen von 700 Milliarden Euro. Der ESM soll ab 2013 ebenfalls institutionalisiert werden. Entschieden wird von den Finanzministern der Länder. Auf die einzelnen, milliardenschweren Beschlüsse haben die Volksvertreter keinen Einfluss mehr.

Vernachlässigung
Über die fehlende parlamentarische Kontrolle ist im Frühjahr 2009 einige Male berichtet worden. Damals haben unter anderem Spiegel, Financial Times Deutschland, Manager Magazin, Focus Money und verschiedene kleinere Zeitungen darüber geschrieben. Seitdem wird über das Thema aber nur noch marginal berichtet. Lediglich Harald Schumann vom Tagesspiegel hat im Herbst 2010 über die Institutionalisierung des Soffin durch das Restrukturierungsgesetz und das Problem der fehlenden parlamentarischen Kontrolle berichtet.

Medienschaffende und Beteiligte sehen das Problem als vernachlässigt an. Besonders im Hinblick auf die hohen Summen und die fortwährende Tendenz in Richtung Expertokratie (Euro-Rettung) sollte das Thema in der Öffentlichkeit möglichst breit diskutiert werden.

Quellen
Thomas Wolf, „Kaum Kontrolle“, 13. Mai 2009, Focus Money,
http://www.focus.de/finanzen/banken/bankenrettung-kaum-kontrolle_aid_398491.html

Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung: Pressemitteilung vom 9. Oktober 2009,
http://www.fmsa.de/de/presse/pressemitteilungen/2009/20091009_pressenotiz_soffin.html

Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung : Aktueller Stand der Kreditvergaben des Soffin,
http://www.fmsa.de/de/fmsa/soffin/instrumente/massnahmen-aktuell/

Martin Morcynek, „Wie funktioniert der ESM?“, 31. März 2011, n-tv.de,
http://www.n-tv.de/wirtschaft/Wie-funktioniert-der-ESM-article2923686.html

Harald Schumann, „Ein Parlament entmachtet sich selbst“, 27. März 2009, Tagesspiegel, http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/ein-parlament-entmachtet-sich-selbst/1484248.html

Harald Schumann, „Regierungsauftrag: Entwertung des Bundestages“, 28. November 2010, Tagesspiegel, http://www.tagesspiegel.de/meinung/regierungsauftrag-entwertung-des-bundestages/3358500.html

Harald Schumann, Chefreporter Tagesspiegel, Gespräch am 8. Juni 2011

Joachim Wieland, Verfassungsrechtler in Speyer, Gespräch am 8. Juni 2011

Bartholomäus Kalb, MdB und Mitglied im Soffin-Gremium, Gespräch am 8. Juni 2011

Philip Bohle, Finanzmarktreferent der Grünen und Beisitzer im Soffin-Gremium, Gespräch am 9. Juni 2011

Hannes Koch, freier Journalist in Berlin, Gespräch am 9. Juni 2011

Kommentare
Harald Schumann, Redakteur beim Tagesspiegel:
„Das Thema ist total vernachlässigt. Besonders die Verabschiedung des Restrukturierungsgesetzes im November 2010. Ohne Not ist der Soffin institutionalisiert worden. Die Intransparanz ist langfristig eingeführt. 99 Prozent der Wirtschaftsjournalisten schwimmen im Mainstream. Medien brauchen einen politischen Akteur, der die Kritik an solchen Entscheidungen vertritt. Die Opposition leistet jedoch keinen Widerstand gegen den Verfassungsbruch. Und im Finanzbereich gibt es so gut wie keine zivilgesellschaftlichen Strukturen, anders als bei Verbraucher- oder Energiethemen.“

Hannes Koch, freier Journalist:
„Ich halte das Thema für eindeutig vernachlässigt. Ich plane selbst im Herbst zum dritten Jahrestag der Gründung des Soffin ein Stück. Das Ganze ist unter viel zu geringer Kontrolle ins Leben gerufen worden. Die Öffentlichkeit weiß viel zu wenig darüber. Es gibt sehr viele Themen, die sich in den Vordergrund schieben und so etwas überlagern.“

Philipp Bohle, Finanzmarktreferent der Grüner und Beisitzer im Soffin-Gremium:
„Das ist auf jeden Fall ein vernachlässigtes Thema. Das parlamentarische Gremium ist zahnlos. Das Finanzministerium deklariert oft Dokumente als geheim, die nicht geheim sein müssten. Der Grund „Geschäftsgeheimnis“ wird sehr breit ausgelegt. Original-Unterlagen der Banken dürfen grundsätzlich nicht eingesehen werden.“