2008: Top 1

Zu viele Straftäter in der Psychiatrie

Immer mehr Straftäter müssen ihre Strafe in der Psychiatrie verbüßen. Das liegt nicht an einem Anstieg psychisch kranker Angeklagter, sondern an einer veränderten Spruchpraxis der Richter. Entsprechend steigt die Zahl zweifelhafter Einweisungen. Gleichzeitig sind die Hürden für die Entlassung aus dem so genannten Maßregelvollzug gesetzlich erhöht worden – was nach spektakulären Einzelfällen auch medial eingefordert wurde. Die Verurteilten kommen somit schnell in die Forensik hinein und schwer wieder heraus. Für diese veränderte Gefangenenunterbringung zahlt der Staat rund 700 Millionen Euro zusätzlich. Über diese Entwicklung zu berichten bedeutet, Täter auch als Opfer darzustellen. Davor scheuen sich deutsche Medien offenbar.

Sachverhalt & Richtigkeit

Im Zeitraum 1992 bis 2006 ist die Zahl der im Maßregelvollzug untergebrachten Personen drastisch gestiegen, seitdem bleibt die Zahl Unterbringungen konstant hoch. Der Grund dafür ist offensichtlich nicht die Zunahme von Straftaten durch psychisch Kranke: Aus der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik geht hervor, dass die Anzahl der Delikte im Bereich Mord und Totschlag im Jahr 2007 im Vergleich zum Vorjahr sogar um rund fünf Prozent gesunken ist. Rückläufig entwickelten sich auch Vergewaltigung und sexuelle Nötigung. Für den sexuellen Missbrauch von Kindern ist 2007 eine geringe Steigerung zu verzeichnen, im Jahr 2006 wurde jedoch der niedrigste Wert seit 1993 erreicht. Die Anzahl von Straftaten insgesamt ist seit 1993 rückläufig. Die Statistik belegt also, dass die Zunahme von Einweisungen in den Maßregelvollzug nicht in Verbindung mit einer steigenden Zahl von begangenen Straftaten steht, sondern andere Faktoren für die hohe Zahl an Unterbringungen im Maßregelvollzug verantwortlich sein müssen.

Verändert hat sich vor allem zweierlei: Die Spruchpraxis der Gerichte und die rechtlichen Hürden, um den geschlossenen Psychiatrievollzug wieder zu verlassen. Zum einen landen Angeklagte daher häufiger in der Psychiatrie. Das zeigt insbesondere die erhöhte Zahl der Verurteilungen nach Paragraf 64 des Strafgesetzbuches. Zwischen 1996 bis 2004 wurden besonders viele Angeklagte gemäß dieses Paragrafen verurteilt. Er regelt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, wenn ein Hang zu Alkohol/ berauschenden Mitteln besteht und eine rechtswidrige Tat im Rausch begangen wurde oder darauf zurückzuführen ist. Die Zunahme ist laut Experten auf eine veränderte Spruchpraxis der Gerichte zurückzuführen, nachdem das Bundesverfassungsgericht einen Absatz für nicht verfassungskonform erklärt hat.

Zum anderen verlassen einmal Verurteilte die Psychiatrie unter größeren Schwierigkeiten und bleiben in der Regel länger darin als früher. Der Grund dafür ist eine Verschärfung des Paragrafen 67 des Strafgesetzbuches, mit der die Hürde für die Entlassung aus dem Maßregelvollzug erhöht wurde. Damit stieg die durchschnittliche Unterbringungsdauer der Patienten und somit auch die Gesamtzahl der untergebrachten Personen.

Die Folgen der Vielzahl an Einweisungen, die zum Teil durch den Druck der Öffentlichkeit und der Medien herbeigeführt wurde: Die Gefahr, dass Patienten zu Unrecht in den Maßregelvollzug eingewiesen und behalten werden steigt. Zudem leiden Behandlungsintensität und Behandlungserfolg unter fehlenden Kapazitäten, weil die forensischen Kliniken überfüllt sind. Dies bestätigen Experten aus dem Bereich der forensischen Psychiatrie.

Relevanz

Die Thematik ist für die Öffentlichkeit vor allem aus drei Gründen von größter Relevanz:

* Der Personenkreis der im Maßregelvollzug untergebrachten Insassen hat sich erheblich ausgeweitet.
* Die Kapazitäten für diesen erweiterten Personenkreis fehlen in fast allen Bundesländern, unzureichende Betreuung und unangemessene Unterbringung der Patienten stellen eine Gefahr für die Öffentlichkeit dar.
* Die Patienten im Maßregelvollzug verursachen erhebliche Kosten für den Steuerzahler; nach Aussage eines Experten über 700 Millionen Euro im Jahr.

Vernachlässigung

Wenige Journalisten, die für die allgemeine Öffentlichkeit publizieren, haben in den letzten Jahren über den überfüllten Strafvollzug in der Psychiatrie berichtet, den Grund für die steigende Zahl an Patienten analysiert oder die wachsende Zahl an Patienten der nicht wachsenden Zahl an psychisch erkrankten Straftätern gegenübergestellt. Lediglich einzelne Fachartikel, geschrieben von Experten zum Beispiel im Deutschen Ärzteblatt, haben sich mit Problematik hintergründig befasst. In der Presse, im Hörfunk und im Fernsehen kommt der Maßregelvollzug meist nur in Verbindung mit einer aktuell begangenen Straftat, der Entlassung eines Straftäters, dem Neu- oder Umbau einer forensischen Klinik oder ähnlichen Themen vor. In diesen Berichten wird vereinzelt auf die Überfüllung der Kliniken hingewiesen, der Hintergrund jedoch nicht beleuchtet. Nach Einschätzung der forensischen Experten und der Journalistin Anja Riediger, die der Problematik in Fernseh-Berichten nachgeht, liegt die Vernachlässigung des Themas vor allem an der Personengruppe, über die berichtet werden soll: die „Täter“ im Maßregelvollzug müssten in diesem Fall als „Opfer“ der Gerichte und der Öffentlichkeit gezeigt werden, was jedoch schwer vermittelbar ist.

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Quellen

Prof. Dr. Andreas Spengler, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie Schwerpunkt Forensische Psychiatrie, Mail-Kontakt am 1.11.2008, 5.11.2008 und 23.11.2008:

Prof. Dr. Peter Müller, Psychiater und Einreicher, Mail-Kontakt am 26.10.2008

Bernhard Scholten, ehem. Psychiatrie-Referent des Landes Rheinland-Pfalz, Mail-Kontakt am 8.11.2008:

Anja Riediger, Journalistin (u.a. Redaktion Zeitgeschehen, Magazine FAKT/exakt MDR-Fernsehen), Mail-Kontakt am 17.11.2008 und 21.11.2008:

Polizeiliche Kriminalstatistik 2007 (Bundesministerium des Innern):

Statistische Entwicklung der begangenen Straftaten in Deutschland.

Strafvollzugsstatistik des Statistischen Bundesamtes:

Statistik zur Anzahl im psychiatrischen Krankenhaus und in der Entziehungsanstalt aufgrund strafrichterlicher Anordnung Untergebrachter (Maßregelvollzug).

Kommentare

Prof. Andreas Spengler, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie:

Ich sehe die derzeitige Lage im Maßregelvollzug noch immer kritisch. Behandlungen müssten weiter intensiviert werden, der stationäre Maßregelvollzug „enthospitalisiert“, die ambulante Nachsorge verstärkt. Die Medien überhöhen durch negativ tendenziöse, boulevardisierte Berichterstattung gefühlte Gefahrenwerte, so dass die Bevölkerung verunsichert wird. Die veröffentlichten Meinungen vertragen sich oft nicht mit den gesetzlichen Grundlagen. Sehr wenige Berichte stellen die Erfolge sachlich und positiv dar. Die tatsächlichen Verhältnisse bei den Patienten in den Einrichtungen des Maßregelvollzugs werden nicht deutlich. Bad news sell.“

Bernhard Scholten, ehem. Psychiatrie-Referent des Landes Rheinland-Pfalz:

„Ich denke, dass die Kapazitätsprobleme im Maßregelvollzug in den Jahren 2002 bis 2004 auch öffentlich dargestellt und diskutiert wurden; allerdings wurde die sachliche Berichterstattung oftmals durch den Sensationsjournalismus überschattet.“

Anja Riediger, Journalistin:

„Das Thema Maßregelvollzug halte ich für „unterbelichtet“, wenn es um die Belange der Insassen geht. Die Hintergründe sind zum einen ein Mangel an Sympathie gegenüber den Insassen. Zum anderen erwecken psychisch kranke Gewaltverbrecher wenig Mitgefühl, denn gesellschaftlich ist eine härtere Bestrafung ja gewünscht. Dazu kommen schwierige Recherche- und Produktionsbedingungen.“