2008: Top 8

Idealisiertes Mutterbild statt Berichterstattung über postnatale Depression

Über Mutterliebe wird in den Medien meist idealisierend zum Muttertag berichtet. Dass aber 15 Prozent aller Mütter an sogenannten postnatalen Depressionen leiden, bleibt weithin unbekannt. Trotz der Häufigkeit der Erkrankung gibt es in der Öffentlichkeit wenig Verständnis für Frauen, die nicht dem medial vermittelten Ideal der bedingungslosen Mutterliebe entsprechen. Diese Mütter schämen sich daher, sich und anderen ihre psychische Verfassung einzugestehen. Deswegen und auch weil die weite Verbreitung der postnatalen Depression in der Öffentlichkeit wenig diskutiert wird, bleiben zwei Drittel aller Fälle unerkannt und ohne Therapie.

Sachverhalt & Richtigkeit

Nach einer Geburt erleben die meisten Mütter intensive positive Emotionen und fühlen tiefes „Mutterglück“. Dies liegt an der persönlichen Freude über das Kind und vor allem auch an Hormonen, die der Körper einer Entbindenden normalerweise ausschüttet.

In vielen Fällen – wissenschaftliche Studien gehen von Zahlen zwischen 10 bis 20 Prozent aus – erleiden die Frauen jedoch postpartale Depressionen. Bei sogar 50 bis 80 Prozent der Mütter treten traurige Stimmungen in den ersten zehn Tagen nach der Entbindung auf, wofür oft hormonelle Störungen verantwortlich sind.

Diese Störungen können sich dann später im ersten Jahr nach der Geburt zu postpartalen Depressionen entwickeln – und somit zu ernsthaften Krankheiten.

Viele Ursachen spielen hier eine Rolle, beispielsweise sind manche Frauen von ihrer Mutterrolle (zum Beispiel dem Schlafentzug oder der Verantwortung) überfordert. Bei ihnen fehlt in Folge der Erkrankung die absolute, hingebende Mutterliebe. Für das Kind und seine Entwicklung hat das schwerwiegende Auswirkungen, da die Mutter die zentrale Bezugsperson ist.

In der Gesellschaft gibt es trotz der Häufigkeit der Erkrankung wenig Verständnis für Frauen, die nicht dem weit verbreiteten Mythos der Mutterliebe entsprechen. Diese gefühlte Stigmatisierung belastet die Frauen zusätzlich. Sie schämen sich, ihre fehlende Liebe zuzugeben. Deswegen und auch weil die weite Verbreitung der Krankheit unbekannt ist, werden zwei Drittel aller Fälle postpartaler Depressionen nicht diagnostiziert.

Relevanz

Das Thema ist gesellschaftlich von großer Relevanz. 10 bis 20 Prozent der Entbindenden sind direkt und ihr Umfeld indirekt von dem Thema betroffen. Das von den Medien mitgetragene Bild der entweder aufopfernd liebenden oder krankhaft mordenden Mutter verstärkt den Druck, der auf den ohnehin schon psychisch labilen Müttern lastet und hindert sie daran, sich Hilfe zu suchen.

Informationen über die Verbreitung der gut behandelbaren Krankheit fehlen in der Berichterstattung. Dies trägt ebenso dazu bei, dass zwei Drittel aller Fälle postpartaler Depressionen nicht diagnostiziert werden – mit ernsthaften Auswirkungen für die Gesundheit der Mütter und die Entwicklung der Kinder.

Vernachlässigung

Wird in den Medien über Mutterliebe berichtet, stehen meist Fälle von Kindstötung im Vordergrund. Diesem Bild der „Nicht-normal-liebenden-Mutter“ steht die alljährliche idealisierende Muttertagsberichterstattung gegenüber.

Zudem wird auch häufiger über Mutterliebe in der Tierwelt als über postpartale Depressionen berichtet. Sind die Depressionen Gegenstand der Berichterstattung, werden sie häufig als Ausnahme-Krankheit dargestellt. Über die Häufigkeit der Erkrankung wurde im überprüften Zeitraum von zwei Jahren überhaupt nicht berichtet, ebenso wenig über mögliche Hilfsangebote und Therapien.

Sogar ein sechsseitiger Spiegel-Online-Artikel ausschließlich zum Thema Mutterliebe vom 14.5.2006 (Muttertag) ging nicht näher darauf ein, wie verbreitet postpartale Depressionen eigentlich sind, und wie quälend es für Frauen sein kann, wenn sie nach der Entbindung keine Mutterliebe empfinden.

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Quellen

dpa: „Hormon der Mutterliebe“, 13.1.2008, auf http://diepresse.com/ über das Hormon Oxytocin

Tina Baier: „Das stärkste Gefühl entschlüsselt“, 14.5.2006, Spiegel-Online, www.spiegel-online.de:

Im Artikel wurde berichtet, dass die genaue Ursache für die fehlende Liebe zum Kind noch nicht ausreichend erforscht sei. Jedoch gehe man davon aus, dass die frühe oder mangelnde Bindung nachhaltige Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes hat.

Dr. Bernd Schellhas, Psychologisches Institut der Universität Potsdam, Arbeitsbereich: emotionale und soziale Entwicklung, Gespräch am 2.11.2008

Birgit Lorz, Online-Journalistin, betreibt Elternratgeber-Website www.biggis-kinderseite.de, Gespräch am 3.11.2008

Dr. Annegret Wiese, Rechtsanwältin, Dipl.-Psychologin, Buchautorin: „Gesellschaftliche Idealvorstellungen von Mutterliebe“, Gespräch am 19.11.2008

Sabine Surholt, Vorsitzende des Vereis Schatten & Licht – Krise nach der Geburt e. V., Gespräch am 24.11.2008

„Schatten & Licht – Krise nach der Geburt e.V.“, www.schatten-und-licht.de: Der Verein wurde 1996 als bundesweiter, gemeinnütziger Verein von betroffenen Frauen als Selbsthilfeorganisation gegründet.

Forum für Wissenschaft, Industrie und Wirtschaft: www.innovationsreport.de: Wissenschaftliche Artikel über Studien

Ira Schmalbrock, Diplom-Psychologin im Beratungs- und Frauenzentrum in Ingolstadt, Gespräch am 17.11.2008

Dr. Edith Wolber, Pressereferentin des Deutschen Hebammenverbands e.V., Gespräch am 20.11.2008

Kommentare

Birgit Lorz, Journalistin, Autorin:

„Auf jeden Fall ist das Thema vernachlässigt. Es sollte mehr darüber berichtet werden. Wenn die Mutterliebe fehlt, gibt es in der Gesellschaft dafür wenig Verständnis.“

Ira Schmalbrock, Diplom-Psychologin im Beratungs- und Frauenzentrum in Ingolstadt:

„Über fehlende Mutterliebe nach der Geburt wird in den Medien sehr wenig berichtet. Es wird nicht darüber berichtet, dass postpartale Depressionen rund 15 Prozent aller Frauen treffen und ein ganz normales Phänomen sind. Und wenn schon über fehlende Mutterliebe nach der Geburt berichtet wird, werden die Frauen oft als psychisch krank im negativen Sinne dargestellt, also als verrückt und abnormal.“

Dr. Edith Wolber, Pressereferentin des Deutschen Hebammenverbands e.V.:

„Generell kann man sagen, dass in den Medien eher das hohe Ideal der Mutterliebe dargestellt wird als die Realität. Das klafft weit auseinander. Viele Redakteure sehen nicht, dass es da einen Unterschied gibt.“