2006: Top 4

Biowaffen aus dem Internet

Gefährliche Krankheitserreger lassen sich aus frei über das Internet erhältlichen Gen-Sequenzen zusammensetzen. Dieser Versandhandel unterliegt keiner wirkungsvollen Kontrolle. Terroristische Organisationen mit entsprechender Kenntnis und Ausrüstung könnten so zum Beispiel in den Besitz des Pocken-Virus gelangen, gegen den es keinen ausreichenden Impfschutz mehr gibt. Eine internationale Biologen-Konferenz hat bereits im Mai 2006 vor der Gefahr eines Missbrauchs gewarnt. Die Berichterstattung über dieses Thema ist im Vergleich zu seiner Brisanz gering.

Sachverhalt & Richtigkeit

Die für einen Virus erforderlichen Gensequenzen könnte theoretisch jeder bei Biotech-Firmen bestellen und mit den entsprechenden Kenntnissen könnte man dieses Virus dann zusammenbauen. Die Firmen müssen zwar ihre Kunden überprüfen, doch die Bestellung wird via E-Mail eingereicht und die E-Mail-Adresse könnte ja gefälscht sein. Auch könnte man die benötigten Gene bei verschiedenen Firmen bestellen, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen.

US-Forscher haben 2002 das Polio-Virus aus DNS, die aus dem Versandhandel stammte, nachgebaut. Letzten Herbst konstruierte eine Gruppe von Forschern das Virus der Spanischen Grippe von 1918/19. Diese Viren lassen sich vergleichsweise einfach herstellen und kontrollieren und einige von ihnen sind tödlich. Beispielsweise wäre auch heutzutage noch kein sicherer Impfschutz gegen den Pockenerreger vorhanden.

Nach der Meinung von David Baltimore, dem Nobelpreisträger für Medizin 1975 und Präsidenten des California Institute of Technology ist die Sequenz des Viren-Organismus allgemein bekannt und lässt sich erneut synthetisieren, wenn man über ein entsprechendes Labor verfügt. Es gibt genügend Molekularbiologen und Spezialfirmen, die DNS-Stücke synthetisieren und verkaufen. Das Journal Nature hat im Herbst 2004 in einem Editorial gewarnt: ”Wenn die Biologen wirklich an der Schwelle zum Synthetisieren neuer Lebensformen sind, könnte es breiten Missbrauch oder ungewollte Desaster geben.”

Vom 20. bis 22. Mai 2006 fand in Berkeley die ”Synthetic Biology 2.0 Conference” statt, auf der unter anderem die Sicherheitsfrage der Biotechnologie diskutiert wurde. Man orientierte sich an einer ähnlichen Konferenz in Asimolar vor 30 Jahren, als sich die frühe Gentechnik selbst gezügelt hatte.

Auf der Asimolar-Konferenz hatte man damals allein die Sicherheitsfrage angesprochen, nicht jedoch die ethischen Komponenten oder die Frage möglicher aus der Gentechnik hervorgehender Biowaffen. Man war damals der naiven Ansicht, dass es einen Vertrag zwischen den Ländern gebe und dass niemand diese Technologie zum Bau biologischer Waffen nutzen würde. Hinterher hat sich dann herausgestellt, dass etwa die Sowjetunion ein gigantisches Geheimprogramm zur Entwicklung solcher vorangetrieben hat.

Außerdem ist die heutige Situation eine andere, da Terrororganisationen ganz neue Grenzen überschreiten und sich nicht in internationale Verträge einbinden lassen.

Die synthetisch arbeitenden Biologen befürchten mittlerweile, dass mit den Ergebnissen ihrer Forschung Unheilvolles angerichtet werden könnte. Außerdem haben sie die Sorge, dass Gesetze verabschiedet werden, die ihrer Arbeit einen Riegel vorschieben könnten. Darum wollten sie auf der Konferenz in Berkeley eine Selbstverpflichtung verabschieden, um zu verhindern, dass mit ihrer Technologie neue Biowaffen geschaffen werden können. Dazu kam es nicht. Man hat sich nicht auf mehr einigen können als auf einen Appell an DNA-Firmen, verdächtige Kundenwünsche nicht zu erfüllen. Von außen hat es herbe Kritik gegeben.

Auf weitgehende Ablehnung stieß auch ein offener Brief von rund 35 Organisationen, unter anderem von Greenpeace und der Third World Network, die einen Stopp der synthetischen Biologie forderten. Sie meinten, sie wären alarmiert darüber, dass die synthetischen Biologen nur für freiwillige Selbstkontrolle ohne Einbeziehung breiter sozialer Gruppen eintreten.

Für Ende des Sommers wird ein Gutachten von Craig Venter und Forschern des Massachusetts Institute of Technology (MIT) erwartet, das über mögliche Risiken des Feldes aufklären soll.

Relevanz

Es handelt sich um tödliche Viren, die jeder synthetisch arbeitende Biologe recht einfach herstellen und verkaufen kann. Die mangelnden Maßnahmen zur Überprüfung eingehender Bestellungen könnten im Einzelfall dazu führen, dass sich Personen oder Gruppierungen mit terroristischem Hintergrund tödliche Stoffe zu eigen machen könnten, um Anschläge oder Sabotageakte auszuführen.

Denkbare Folgen wären Massenepidemien durch Verseuchung von Trinkwasservorkommen, Nahrungsmitteln oder Luftversorgungssystemen, denen die Bevölkerung beinahe schutzlos ausgeliefert wäre. Im schlimmsten Fall könnte dies den Tod zahlreicher Menschen bedeuten.

In Zeiten allgegenwärtiger Terrorangst und der politischen Diskussion um verbesserte Terrorabwehr sollte gerade auch der Vertrieb von Biostoffen einer strengeren Kontrolle unterzogen werden. Den Terrorfall einmal ausgeschlossen, besteht immer noch die Gefahr, dass Viren unabsichtlich aus Labors gelangen könnten, wenn in ihnen nicht die notwendigen Schutzmaßnahmen für den Umgang mit diesen Stoffen getroffen worden sind. Die möglichen Folgen der zu laschen Kontrollen sind also in jedem Fall unkalkulierbar.