2009: Top 1

Notstand im Krankenhaus: Pflegebedürftige allein gelassen

Eine halbe Million Menschen in Deutschland braucht im Alltag eine Pflegekraft. Kommen diese Menschen ins Krankenhaus, müssen fast alle von ihnen auf diese Hilfe verzichten. Denn die Pflegeversicherung zahlt dann keine Betreuung mehr, weil in der Klinik angeblich eine ausreichende Versorgung gewährleistet sei. Tatsächlich haben die Pflegekräfte in den Krankenhäusern bereits zu wenig Zeit für ihre normalen Aufgaben, besonderen Bedürfnissen können sie noch wenigergerecht werden. Häufige Folgen sind: Mahlzeiten werden zu schnell abgeräumt, Patienten mit auffälligem Verhalten werden durch Medikamente ruhig gestellt. Ein Gesetz, das 2009 erlassen wurde, sollte das Problem lösen – es hilft aber nur etwa 500 Betroffenen in ganz Deutschland. Über die Missstände und über das unzureichende Gesetz wurde kaum berichtet.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Ein Krankenhausaufenthalt ist für Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung mit zahlreichen Problemen verbunden. Sie haben, losgelöst vom Grund ihres Krankenhausaufenthaltes, bereits einen vorhandenen Pflege- und Betreuungsbedarf. Ebenso fällt es ihnen meist schwerer, sich an die neue Umgebung, die unvertrauten Menschen und undurchschaubaren Abläufe im Krankenhaus zu gewöhnen. Trotz des ohnehin oft engen Personalschlüssels in Krankenhäusern müssen sie auf ihre Pflegeassistenz verzichten, auf die sie laut Pflegestufenzuordnung ein Recht haben.

Die Folge: Der straffe Krankenhauszeitplan entspricht meist nicht dem Rhythmus der pflegebedürftigen Menschen. Das Essen wird zu schnell abgeräumt. Menschen mit Behinderungen werden mit Medikamenten ruhig gestellt, weil das Personal keine Zeit für eine intensive Betreuung hat. Schließlich widerspricht der erhöhte Pflegebedarf der Menschen den ökonomischen Zielsetzungen der Krankenhäuser und es kommt zu verfrühten Entlassungen.

Die Politik hat das Problem auf Drängen der Vereine für Menschen mit Behinderung erkannt und im Sommer 2009 das Assistenzpflegebedarfsgesetz verabschiedet. Allerdings garantiert das Gesetz lediglich pflegebedürftigen Menschen, die als Arbeitgeber selbst eine Pflegeassistenz beschäftigen, die zusätzliche Aufnahme der Pflegekraft im Krankenhaus. Das Bundesgesundheitsministerium bestätigte auf Nachfrage, dass dieses Gesetz etwa 500 Menschen in Deutschland zugute kommt – und somit nur einem sehr geringen Teil der rund 504.000 pflegebedürftigen Menschen in Deutschland. Nur ein Bruchteil von ihnen beschäftigt selbst als Arbeitgeber eine Pflegekraft. Der Großteil erhält, je nach Pflegestufe, eine von der Pflegeversicherung finanzierte Hilfskraft.

Relevanz:

Angesichts des demografischen Wandels sollte dem Aspekt der Pflegeassistenz heutzutage eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommen. In absehbarer Zeit ist aufgrund der hohen Lebenserwartung mit einem steigenden Bedarf an Assistenzpflege zu rechnen. Die Zahl der Betroffenen wird daher noch wachsen. Und mit ihr das Bedürfnis nach einer angemessenen Berücksichtigung des spezifischen Pflege- und Assistenzbedarfs von Menschen mit Behinderungen während eines Krankenhausaufenthalts.

Überdies ist in der UN-Konvention die Garantie der Menschenrechte für Menschen mit Behinderung ohne Diskriminierung festgeschrieben. Im Falle von verfrühten Entlassungen wegen schlechter ökonomischer Krankenhausbilanzen ist die Einhaltung dieses Paragrafen zumindest streitbar.

Vernachlässigung:

In den Medien wurde über das Thema „Betreuungsqualität von Menschen mit Behinderung in Krankenhäusern“ in den vergangenen zwei Jahren nicht berichtet.

Quellen:

Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen e. V. (ForseA), 23.10.2009, Chronologie zum Thema Assistenzpflege im Krankenhaus,

www.forsea.de/projekte/Krankenhaus/kh_start.shtml

Deutscher Bundestag, Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus, 23.10.2009, dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/128/1612855.pdf, Gesetz im Wortlaut

Statistisches Bundesamt, aktuelle Zahlen zu Pflegebedürftigen Menschen in Deutschland (Stand 2007),

https://www-ec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?cmspath=struktur,Warenkorb.

csp&action=basketadd&id=1023652

Prof. Dr. Michael Seidel, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Leitender Arzt und Geschäftsführer im Stiftungsbereich Behindertenhilfe der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel Bielefeld, E-Mail-Wechsel am 26.10.2009

Elisabeth Scharfenberg, MdB, pflegepolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, E-Mail-Wechsel am 6.11.2009

Gerhard Barts, Vorsitzender ForseA, größter Verein von Menschen mit Behinderungen in Deutschland, Gespräch am 10.11.2009

Kay Stalinsky, Bundesgesundheitsministerium Referat Assistenzpflege, Gespräch am 20.11.2009

Matthias Vernaldi, Redaktion Mondkalb, Gespräch am 20.11.2009

Kommentare:

Prof. Dr. Michael Seidel, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie:

„Für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung stellt sich ein Krankenhausaufenthalt verständlicherweise oft noch viel undurchschaubarer, komplizierter und beängstigender als für Menschen ohne Behinderungen dar. Ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten, sich auf fremde, hochkomplexe Situationen mit fremden, mit ihren individuellen und mit ihren spezifischen behinderungsbedingten Bedürfnissen unvertrauten Menschen (Pflegekräfte, Ärzte, Therapeuten usw.) einzustellen, sind eingeschränkt. Leider trifft das Gesetz bisher nur für Menschen mit angestellten Assistenten zu. Eine mediale Beachtung des Problems hätte vielleicht eine bessere Umsetzung des Gesetzes bewirkt.“

Gerhard Barts, Vorsitzender ForseA, größter Verein von Menschen mit Behinderungen in Deutschland:

„Das Krankenhauspersonal ist oft sowieso schon überfordert, weil die personellen Kapazitäten eng sind. Wir wissen von zahlreichen Fällen, in denen Menschen mit Behinderungen deshalb während ihres Krankenhausaufenthaltes zu wenig Betreuung und schlechte Behandlung erfahren haben: Das Assistenzpflegebedarfsgesetz wurde in seiner ursprünglichen Entwurfsform vor allem von CDU/CSU-Mitgliegern stark eingeschränkt, wichtige Bestandteile wurden weggestrichen, weil man zu hohe Kosten befürchtet hat. Das Thema wird von den Medien nahezu komplett ignoriert und auch vermieden. Wenn, dann berichten sie zu besonderen Tagen im Jahr mal über Menschen mit Behinderungen. Dann aber auch nicht tiefergehend.“

Matthias Vernaldi, Redaktion Mondkalb:

„Medien, die von einem breiten Publikum wahrgenommen werden, berichten selten über das Thema Assistenzpflege und schon gar nicht über ein so spezifisches Thema wie die Betreuungsqualität von pflegebedürftigen Menschen im Krankenhaus. Dabei kommt dem Aspekt der Pflegeassistenz heutzutage durchaus eine hohe Relevanz zu. Angesichts des demografischen Wandels muss nahezu jeder in Deutschland damit rechnen, dass er im Alter auf Pflege angewiesen sein wird.“