2018: Top 1

Inklusion der Arbeitswelt

Im erwerbsfähigen Alter machen Menschen mit Behinderung einen großen Anteil an unserer Gesellschaft aus. Aufgrund des demographischen Wandels wächst dieser Anteil sogar. Dennoch bekommt man in der Medienberichterstattung erstaunlich wenig über Inklusion in der Arbeitswelt mit. Die Medien sollten sich aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung und fehlender Berührungspunkte im Alltag zur Aufgabe nehmen, Barrieren und Vorurteile durch vermehrte journalistische Berichterstattung auf Augenhöhe zu verringern, anstatt sie wie bisher weiter zu verfestigen.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Sucht man in Datenbanken nach dem Stichwort „Inklusion“, so besteht der Großteil der angezeigten Ergebnisse aus Berichten über Inklusion in Schulen. Insbesondere nach der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 findet man regionale und überregionale Berichte zu der Thematik. Grenzt man Inklusion auf berufliche Inklusion ein, so werden die Suchergebnisse ums hundertfache verringert. Laut Ulrike Pfaff von der Aktion Mensch liegt das an dem, in der Bevölkerung

verbreiteten Vorurteil, dass Inklusion in Schulen stattfinde. Arbeit dagegen werde gleichgesetzt mit Kraft und Gesundheit, sodass Menschen mit Behinderung schon rein gedanklich nicht in dieses Feld eingeordnet werden könnten. Menschen mit Behinderungen werden im Allgemeinen nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft in allen Lebensbereichen angesehen. Pfaff meint außerdem, dass es ein langer Prozess sein werde, das auszuräumen, denn das Problem des Teufelskreises liegt in der Unkenntnis der Unternehmen über erfolgreiche berufliche Inklusion sowie auch in falschen Annahmen zu Unkündbarkeit und Fördergeldern. Darin spielen die Medien eine wichtige Rolle. Dagmar König von ver.di sagt über die journalistische Berichterstattung: „Wenn in den Medien über Menschen mit Behinderungen berichtet wird, geht es eher um Themen wie Inklusion in Bildung oder Sport. Die Inklusion in der Arbeitswelt ist bislang ein Thema, das in den Medien eher unterrepräsentiert ist“ und dass es „hier hilfreich [wäre], wenn die Medien z.B. positive Beispiele darstellen könnten, wo und mit welchen Hilfsmitteln es gelungen ist, Menschen mit Beeinträchtigungen auf dem regulären Arbeitsmarkt zu integrieren. Das könnte helfen, Vorbehalte und Barrieren abzubauen. Viele Vorurteile basieren darauf, dass Menschen mit Behinderungen nicht leistungsfähig und häufig krank wären“.

Das Schweizer Medienforschungsinstitut Media Tenor International hat im Auftrag der Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtspflege (BGW) im Jahr 2017 eine Studie zur Medienberichterstattung über Inklusion im Arbeitsleben durchgeführt. Hierfür wurden mehr als 1,2 Millionen Beiträge aus TV- und Radio-Nachrichten, Wochenmedien und ausgewählten Tageszeitungen im Zeitraum 2012 bis 2016 quantitativ und qualitativ ausgewertet. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass in der Berichterstattung eher Behindertenpolitik, Sport oder Gesundheit thematisiert werden und auch die Frage der Inklusion in Schulen deutlich häufiger thematisiert wurde als die Teilhabe am Berufsleben. „Es müsste mindestens zehnmal mehr über Menschen mit Behinderungen berichtet werden, damit ein relevanter Anteil der Bevölkerung wüsste, wie es tatsächlich um ihre Lage bestellt ist“, so steht es in dem Pressetext der Studie. Zusätzlich geht aus den rein quantitativen Ergebnissen, der Analyse, der Themen mit größter/geringster Medienpräsenz 2017 von Matthias Vollbracht (Media Tenor) hervor, dass Inklusion und die Diskriminierung von Behinderten auf jeden Fall zu den untergegangen Themen 2017 gehört.

Bei dem Sachverhalt ist nicht nur die rein quantitative Unterrepräsentanz nennenswert, sondern auch die Art und Weise der Berichterstattung. So ergab die Studie der BGW, dass in der Medienberichterstattung häufig mit Bildern von „Heldinnen“ oder „Helden“ gearbeitet wird, die ihr Schicksal „trotz Behinderung“ tapfer und mutig meistern oder auch von „Opfern“, die das Mitleid der Gesellschaft benötigen. Es wird mit Stereotypen und falschen Sprachbildern verfestigt, die mit diskreditierenden Formulierungen wie „an den Rollstuhl gefesselt“ einhergehen. Ebenso meint Pfaff von der Aktion Mensch, dass eine Berichterstattung auf Augenhöhe selten in der Presse zu finden sei und dass selbst das Bild in renommierten Zeitungen gezeichnet sei von solchen Stereotypen und Opferrollen. Ein typischer Fall sei auch, dass die Menschen einfach mit Vornamen und Du angesprochen würden (z.B. „Wilhelm, 43, usw.“). Sie wies zudem auf das Projekt „Leidmedien.de“ hin, das 2012 zu den Paralympics in London von den Sozialhelden (Raul Krauthausen) in der Kooperation mit Aktion Mensch gegründet wurde, um den Redaktionen Tipps für eine Berichterstattung über behinderte Menschen auf Augenhöhe zu geben. Das Problem liege laut Website darin, dass im Regelfall nicht behinderte Menschen über behinderte Menschen berichten – ohne persönlichen Kontakt oder Bezugspunkt. Auf der Website weisen sie sowohl auf Klischees als auch auf Positivbeispiele in den Medien hin. Zudem bieten sie einen Ratgeber sowie Workshops für die Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen an, um Berührungsängste abzubauen und Begegnungen zwischen nicht behinderten und behinderten Menschen zu schaffen.

Relevanz: 

Die Relevanz beim Thema berufliche Inklusion, ergibt sich aus mehreren Punkten. Zum einen gehört dazu die hohe Zahl von Menschen mit Behinderungen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland, die laut des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, der Integrationsämter und ver.di einstimmig bei rund drei Millionen liegt. Das ist ein großer Anteil der Gesamtbevölkerung. Zudem ist diese Zahl vor allem aufgrund des demographischen Wandels sogar wachsend. Dadurch gewinnt das Thema besondere Relevanz für jeden einzelnen von uns. Außerdem kann jede*r irgendwann durch einen Unfall oder eine Krankheit, eine Behinderung haben. Die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen lag laut Christian Weinert, Pressereferent der Bundesagentur für Arbeit zuletzt bei 12,4 Prozent. Aktuell werden auf 4,7 Prozent der zählenden Arbeitsplätze Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigt. Hier zählen allerdings nur die Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten, die unter die gesetzliche Pflichtquote von fünf Prozent fallen.

Laut ver.di werde die gesetzliche Pflichtbeschäftigungsquote von fünf Prozent für mittlere und größere Unternehmen zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung bislang nicht erfüllt. Rund ein Viertel der beschäftigungspflichtigen Unternehmen stellen dauerhaft keine schwerbehinderten Menschen ein und weniger als die Hälfte erreicht bislang die Pflichtbeschäftigungsquote. In der Studie der BGW wird festgestellt, dass die drei Millionen Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen im erwerbsfähigen Alter aber eine ebenso große Gruppe darstellen wie alle Beschäftigten im Einzelhandel und eine dreimal so große wie die der Bankmitarbeiter*innen.

Laut Pfaff (Aktion Mensch), König (ver.di), der BGW und Leidmedien.de spielen die Tabuisierung und Stereotypisierung der Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen dabei eine sehr große Rolle: „Lesen Arbeitgeber*innen Schlagzeilen wie ‚trotz Behinderung erfolgreich’ entstehen leicht Zweifel, ob die behinderte Bewerberin für den Job wirklich geeignet sei. Dies hat in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit von v.a. schwerbehinderten Menschen in Deutschland einen hohen Einfluss.“ (Leidmedien.de). Letztlich prägen die Medien das Bild von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft und sollten ihre Verantwortung bei der Verfestigung von Vorurteilen und Stereotypen erkennen.

Vernachlässigung:

Im Allgemeinen ist bei der Datenbankrecherche aufgefallen, dass eher regional über erfolgreiche Inklusion mit dem Fokus auf Inklusion in Schulen berichtet wird. Berichte in überregional etablierten Medien sind nur wenige zu finden. Diese legen den Fokus eher auf Bildungspolitik. Auffällig ist auch, dass Berichte vor allem in der Süddeutschen Zeitung, in der taz oder im Tagesspiegel zu finden sind. Auch hier tauchen jedoch viele Berichte in den Regionalseiten auf und thematisieren einen Einzelfall. Selten wird auf allgemeine Missstände hingewiesen. Bei dem Thema berufliche Inklusion ist jedoch auch die Art und Weise der Berichterstattung von Relevanz. Es lassen sich sehr wenige positive Beispiele finden. Ein paar davon sind auf der Website von Leidmedien.de dargestellt, u.a. von Deutschlandfunk und Das Erste. Darunter ist aber wiederum kein einziger Beitrag explizit zur beruflichen Inklusion.

Zusammenfassend ist also eine Vernachlässigung aufgrund der hohen Relevanz (hoher Anteil der Bevölkerung, der wachsend ist), der Missstände in dem Bereich (hohe Arbeitslosigkeit, auch aufgrund von allgemeinen Vorurteilen und Unwissenheit) sowie in der Berichterstattung (Fokus liegt auf Schulen und Bildungspolitik und findet selten auf Augenhöhe statt) feststellbar.

 

_______________________________________________________

 

Quellen:

 

Telefonat mit Hektor Haarkötter am 07.12.2017

E-Mail-Kontakt zu Sandra Bieler (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege) am 18.12.2017

Studie zur Medienberichterstattung über Inklusion im Arbeitsleben, durchgeführt von Media Tenor im Auftrag der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (Pressetext abrufbar unter: https://www.bgw-online.de/DE/Presse/Pressearchiv/2017/PI-8-2017-Medienstudie.html [02.02.18])

E-Mail-Kontakt zum Autoren der Studie Matthias Vollbracht (Media Tenor) am 03.01.2018

Schaubild zu den Ergebnissen der Analyse der Themen mit größter/geringster Medienpräsenz 2017 von Matthias Vollbracht (Media Tenor) aus der E-Mail vom 05.01.2018

Statistiken der Bundesagentur für Arbeit aus der E-Mail von Christian Weinert (Pressereferent der Bundesagentur für Arbeit) vom 18.12.2017

Statistiken der Integrationsämter (abrufbar unter: https://www.integrationsaemter.de/Fachlexikon/Gewerkschaften/77c447i1p/index.html [15.12.2017])

Statistiken des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur beruflichen Inklusion aus der E-Mail von Christian Westhoff (Stellvertretender Pressesprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales) vom 15.12.2017

Statement von Dagmar König (ver.di-Bundesvorstand) vom 12.01.2018

Telefonat mit Ulrike Pfaff (Aktion Mensch) am 22.01.2018

Projekt Leidmedien.de der Sozialhelden und der Aktion Mensch (abrufbar unter http://leidmedien.de [02.02.2018])

Kommentar:

„Eine Berichterstattung auf Augenhöhe finden wir nicht oft in der Presse“

– Ulrike Pfaff, Aktion Mensch

„Wenn in den Medien über Menschen mit Behinderungen berichtet wird, geht es eher um Themen wie Inklusion in Bildung oder Sport. Die Inklusion in der Arbeitswelt ist bislang ein Thema, dass in den Medien eher unterrepräsentiert ist, obwohl mehr als eine Million Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen auf dem Arbeitsmarkt tätig sind. Insgesamt leben in Deutschland etwa drei Millionen Menschen mit erheblichen Beeinträchtigungen im erwerbsfähigen Alter. […] Hier wäre hilfreich, wenn die Medien z.B. positive Beispiele darstellen könnten, wo und mit welchen Hilfsmitteln es gelungen ist, Menschen mit Beeinträchtigungen auf dem regulären Arbeitsmarkt zu integrieren. Das könnte helfen, Vorbehalte und Barrieren abzubauen. Viele Vorurteile basieren darauf, dass Menschen mit Behinderungen nicht leistungsfähig und häufig krank wären. Diese Wahrnehmung ist aber falsch – oft ist genau das Gegenteil der Fall. Menschen mit Behinderung können eine große Bereicherung für Unternehmen sein, weil sie viele andere –zusätzliche – Erfahrungen machen und dadurch ganz neue Ideen und Kompetenzen ins Unternehmen einbringen. Wer sich also auf die Chancen statt auf die Probleme konzentriert, kann sehr gute und hochmotivierte Fachkräfte für das Unternehmen gewinnen.“

– Dagmar König, ver.di-Bundesvorstand

„Die Brisanz und Relevanz beim Thema berufliche Inklusion ergibt sich aus mehreren Facetten:

  • Der hohen Zahl von Menschen mit schweren Behinderungen in Deutschland (wachsend, v.a. aufgrund von Demographie)
  • Der hohen Arbeitslosigkeit von Menschen mit schweren Behinderungen
  • Dem Mandat zur Umsetzung der UN-Konvention zur Inklusion
  • Der Tabuisierung und Stereotypisierung der Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen.“ – Matthias Vollbracht, Autor der Studie zur Medienberichterstattung über Inklusion im Arbeitsleben