Die mangelhafte Risikobereitschaft der Meinungsmacher – Investigativer Journalismus in Deutschland

Investigativer Journalismus dient in Demokratien zur Kontrolle der Macht und wird in diesem Sinne auch als „Watchdog-Journalism“ bezeichnet. Sein Ziel ist es, Machtmissbrauch, Korruption und Fehlverhalten ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, Missstände aufzudecken, zu warnen und zu Reaktionen und Reformen zu animieren. Investigativer Journalismus findet sozusagen den Fehler im System. Dabei hängt sein Erfolg, also im besten Fall eine Korrektur der angeprangerten Missstände, maßgeblich von der Reaktion der Öffentlichkeit ab.

Investigativ arbeitende Journalisten sind in Deutschland leider ein „Minderheitenphänomen“. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt, es sind aber schätzungsweise weniger als 50. Der Investigative Journalismus ist ein stark unterbelichtetes Forschungsfeld. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung in Deutschland ist eher eine Debatte um das journalistische Selbstverständnis. So ist es nicht verwunderlich, dass weiterhin die verbreitete Sichtweise vorherrscht, dass aufdeckende Recherche an individuelle Tugenden wie Hartnäckigkeit, Zivilcourage und eine gute Spürnase gebunden sei.

Investigativer Journalismus ist aber hauptsächlich kritischer, vertiefender Journalismus, der auf der Grundlage von intensiver Recherche bisher unbekannte Sachverhalte von gesellschaftlicher Relevanz öffentlich macht, und sollte deshalb viel selbstverständlicher in diesem Berufsfeld etabliert sein.

Wie kommt es, dass sich Investigativer Journalismus trotz seiner wichtigen Funktion, in Deutschland so schwer tut?

Werfen wir einen Blick auf die theoretische Forschung:  Bis in die 90er Jahre gibt es lediglich Studien, die sich mit Teilaspekten des Investigativen Journalismus beschäftigen, wie z. B. den ethischen Grenzen. Erst Mitte der 90er Jahre erscheint eine erste umfangreiche Studie. Manfred Redelfs analysiert 1996 die Rahmenbedingungen des Investigativen Journalismus in den USA. In seiner Analyse arbeitet er vier Ebenen heraus, die die investigative Berichterstattung determinieren: die politisch-gesellschaftliche, die ökonomische, die rechtlich-normative und die journalistisch-professionelle Ebene.

Sven Preger kommt 2004 in der medienwissenschaftlichen Strukturanalyse „Mangelware Recherche“ zu dem Ergebnis: „Recherche ist im deutschen Journalismus nicht verankert. Weder auf organisatorischer Ebene der Verlage, Reaktionen und Sender, noch in den Köpfen der Journalisten und Ausbilder.“

Was ist Investigativer Journalismus?

Die Definition des Investigativen Journalismus ist untrennbar verbunden mit der Recherche und dem Recherche-Journalismus. „Die journalistische Recherche ist ein professionelles Verfahren, mit dem Aussagen über Vorgänge geprüft und beurteilt werden. Diese Aussagen müssen einen faktischen Bezug zur Wirklichkeit haben […]. Das Ziel jeder Recherche besteht darin Geschehnisse möglichst genau und umfassend in Erfahrung zu bringen – und die dabei gewonnenen Informationen so weit sie zutreffend sind, in einen Sinnzusammenhang zu stellen und öffentlich zu machen2 (vgl. Haller, Michael, 2004, S. 39). Somit legen investigative Journalisten offen, was ohne sie im Verborgenen geblieben wäre. Dem Journalisten kommt nach dieser Definition eine aktive Rolle zu.

Drei Recherche-Typen

Die Techniken der investigativen Recherche sind nicht unumstritten. In Deutschland ist die Vorgehensweise methodisch besonders geprägt von den Rollenspielen des prominenten Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff. Im Vergleich dazu ist diese Vorgehensweise in den USA aufgrund rechtlicher Konsequenzen sehr unüblich. Dafür ist die dort sehr verbreitete Recherchemethode „Computer Assisted Reporting“, kurz CAR, unter Journalisten in Deutschland noch sehr wenig etabliert.

Außergewöhnliche Maßnahmen erfordert die investigative Recherche aber in jedem Fall. Die detektivische Arbeit der Journalisten trifft schnell auf Widerstand. Mit verheimlichten Missständen gehen zwangsläufig gewisse Geheimhaltungsinteressen der Verursacher einher, die es als Reporter zu umgehen gilt.

Journalisten wählen hierzulande folgende Vorgehensweisen, um ihrer Recherchearbeit nachzukommen. Die „Überprüfungs- oder Vervollständigungsrecherche“ durchleuchtet Aussagen über Geschehnisse, um die Aussagen unstrittig zu machen und die beteiligten Akteure zu ermitteln. Diese Methode fällt unter die Kategorie ‚einfache Alltagsrecherchen‘.

Die „Themenrecherche“ spürt Trends auf, greift Themen auf und vertieft Fragestellungen. Sie liefert auch die nötigen Hintergrundinformationen, um ein Thema fundiert einschätzen zu können. Auch diese Vorgehensweise gehört zum Standard journalistischer Arbeit.

Die aufdeckende oder Investigative Recherche deckt dagegen bisher unbekannte Sachverhalte von öffentlicher Relevanz auf. Ihre drei Hauptmerkmale sind: 1. die aktive Reporterrolle, 2. besondere gesellschaftliche Relevanz und 3. Recherche gegen Widerstände und Barrieren.

Ziel und Funktion

Diese Arbeitsweise setzt sich zum Ziel, Missstände in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft aufzudecken und leistet dabei eine wichtige Funktion der Machtkontrolle. Investigativer Journalismus ist neben den drei Staatsgewalten die  „vierte, publikative Gewalt“ und erfüllt damit die in den Landespressegesetzen festgeschriebene Medienfunktion. Journalismus soll sicherstellen, dass die Presse die öffentliche Meinung mit prägt und damit auch die Staatsgewalt beeinflusst.

Die Presse kann also als vierte Säule des Staates bezeichnet werden, und ist verantwortlich für die Bekanntmachung jeglicher Unrechtmäßigkeiten im System. Die spezielle Form des Recherche-Journalismus kann hier einen wichtigen Beitrag leisten.

Investigatives Arbeiten

Ausgangspunkt für intensive Recherchen sind oft Insider-Informationen oder Widersprüche.

Die Recherche beginnt in diesem Fall mit einem konkreten Verdacht. Deshalb ist der Aufbau von umfangreichen Quellen- und Informantennetzwerken, und dessen Pflege hilfreich. Der Reporter sollte das Vertrauen einer Informationsquelle gewinnen und ihr gleichzeitig misstrauen- denn besonders Ergebnisoffenheit ist wichtig. Der Reporter sollte sich des Ausgangs einer Recherche niemals zu sicher sein bzw. sich durch einen Verdacht nicht beeinflussen lassen. Eine gründliche Archivierung der Unterlagen und die Nachbereitung der Ergebnisse sind ebenfalls von großer Bedeutung, der Reporter muss später jeden seiner Schritte genau nachvollziehen können.

Im Vorfeld ist es hilfreich, sich einen Befragungsplan für die Recherche anzulegen- auch Hilfsmittel wie ‚mind mapping’ sind empfehlenswert, um auch organisatorisch den Überblick zu behalten. Besonders wichtig ist aber ein umfassender Schutz der Informanten. Die Bereinigung von internen Unterlagen, eine Auslagerung von brisanten Akten etc. stellt die Anonymität der Informationsquelle sicher und verhindert negative Folgen für die Informanten.

Verschiedene Recherche-Strategien

Strategisches Vorgehen ist ein weiteres wichtiges Mittel, um den Erfolg einer investigativen Ermittlung zu garantieren. Die Reporter können das Thema einkreisen, also von außen nach innen recherchieren. So werden erst Unbeteiligte (z. B. Experten) dann Beteiligte, und zuletzt der Kern, also die Hauptverantwortlichen mit den belastenden Rechercheergebnissen konfrontiert. Die Reporter können aber auch strategisch pendeln, das heißt zwischen den verschiedenen Lagern hin und her wechseln, um die Informationen zu sammeln und ein ausgewogenes Bild beider Seiten zu erschließen.

Die dritte Recherchemethode namens „Follow-up Strategie“ setzt auf fließende Recherche. In diesem Fall wird parallel recherchiert und veröffentlicht. Alle drei Strategien sind systematische Vorgehensweisen. Neben handwerklichen Vorraussetzungen braucht der investigative Journalist akribischen Fleiß, die Rückendeckung der Redaktion und große Investitionsbereitschaft der Reporter.

Arbeitsbedingungen von investigativen Journalisten in Deutschland

Investigative Journalisten haben einen beträchtlichen Mehraufwand an Arbeit und Zeit, der von vielen Redaktionen nicht anerkannt wird. Sie erfüllen eine Sonderrolle als Reporter oder leisten investigative Recherche neben der Alltagsarbeit. Frei arbeitenden Journalisten können es sich aus finanziellen Gründen oft nicht leisten nur investigative Themen zu bearbeiten. Zusätzlich kann diese Arbeit zu einer großen Belastung für das Privatleben werden.

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema gibt es in Deutschland erst seit relativ kurzer Zeit. Das „Netzwerk Recherche“, ein junger Verein deutscher Journalisten mit der Zielsetzung, Recherche Journalismus zu fördern, publiziert seit 2004 eine Buchreihe zum Recherche-Journalismus. Auch die wachsende Anzahl von Recherchehandbüchern und anderen Abhandlungen zum Thema zeugt von der wachsenden Bereitschaft, sich intensiver mit Recherche zu befassen.

Die deutsche Journalistik ist sich seit längerem des Recherchedefizits in deutschen Redaktionen bewusst. Die Leistung investigativer Reporter ist von ihren Redaktionen, von deren Risiko- und Investitionsbereitschaft abhängig. Die erforderliche strukturelle Komponente, dh. Rahmenbedingungen und Arbeitsweisen bedingen einen erfolgreichen investigativen, d. h. qualitativ hochwertigen Journalismus. Gerade die informative, aufklärende Funktion journalistischer Arbeit fordert ein Berufsethos, das im Interesse von Demokratie und Rechtsstaat dem Auftrag der freien Meinungs- und Willensbildung gerecht wird.

(aus: Cario, Ingmar: Die Deutschland-Ermittler: Investigativer Journalismus und die Methoden der Macher. Lit. Verlag, Berlin: 2006

Nagel, Lars-Marten: Bedingt ermittlungsbereit: Investigativer Journalismus in Deutschland und in den USA. Lit-Verlag, 2007 )

8 Kommentare zu Die mangelhafte Risikobereitschaft der Meinungsmacher – Investigativer Journalismus in Deutschland

  1. Das Problem ist, dass sich viele Missstände vorerst regional abspielen. Die überregionale Aufmerksamkeit derselben etabliert sich oft aus einer regionaler Veröffentlichung heraus. Nun ist es so, dass Lokalmedien meistens politisch verbunden sind oder Anteile des Verlags sogar Parteien gehören. Ich erlebe das am eigenen Leib. Dazu gibt es auch ein Buch des Vereins „netzwerk recherche“, das sich mit dem leidigen Thema befasst: „Lokaljournalismus zwischen Recherche und Regionalstolz“.

  2. Diese Informationen haben mich beeindruckt und bestätigt in dem was ich erlebe,sehe und kombiniere.Gute Arbeit!

  3. Themenvorschlag: D Land und was Stimmt nicht in Deutschland? Anhand persoenlicher Erfahrumgem und Verfahren.

    • Lieber Herr Stening, das ist natürlich in seiner Allgemeinheit nicht wirklich in konkreter Themenvorschlag. Was meinen Sie denn genau? Mit freundlichen Grüßen, H. Haarkötter (INA-Vorstand)

  4. Vielen Dank für den Artikel. Ich hoffe das in Zukunft wieder mehr Journalisten es wagen öffentlich oder mit Alias zu recherchieren. In diesen Zeiten scheint dies schon fast geächtet zu sein.

  5. Ein sehr interessanter Artikel! Und Hochachtung für die Journalisten, die Risiken eingehen, um Missstände aufzudecken.

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  1. Investigative Journalisten auf illegalem Boden - Medienfrage

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