In einer Umfrage von 2004 konfrontierten die Wissenschaftsjournalisten Volker Stollorz und Klaus Koch die Mitglieder der Wissenschaftspressekonferenz mit 15 fiktiven Fällen zwischen PR und Wissenschaftsjournalismus. Alle Grenzfälle haben gemeinsam, dass sich ein Journalist entscheiden muss, ob er den Interessen eines PR-Auftraggebers, eigenen finanziellen Interessen oder journalistischen Prinzipien den Vorzug gibt.Die Befragten sollten angeben, ob sie selbst oder Kollegen schon einmal in einer solchen Situation gewesen seien und wie sie sich verhalten hätten. Zusätzlich machten die Befragten Angaben zu Gehalt, PR -Anteil und Art ihres Arbeitsverhältnisses.
Volker Stollorz kommentiert für den blinden Fleck die Ergebnisse der Umfrage.
Wieso haben Sie fiktive Fallbeispiele für Ihre Umfrage verwendet?
Einige Studien haben bereits versucht, herauszufinden, ob und wie sich PR-Arbeit und Wissenschaftsjournalismus vereinen lassen. Wir wollten die Methodik dieser Studien umkehren und die Befragten mit konkreten Fällen konfrontieren. Die Beispiele sind zwar hypothetisch, aber an reale Fälle angelehnt. Das Problem bei einer solchen fiktiven Umfrage über Einstellungen ist, dass sie Interpretationsspielräume lässt. Außerdem muss man klar sagen, dass unsere Umfrage nicht repräsentativ ist, da wir nur Mitglieder der Wissenschaftspressekonferenz befragt haben.
Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Umfrage?
Erst einmal war es erstaunlich, dass 99 von 171 Mitgliedern den langen Fragebogen ausgefüllt zurückgeschickt haben. Die Problematik scheint sowohl bei Wissenschaftsredakteuren als auch bei Freien einen Nerv zu Treffen. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der Umfrage für mich, dass die journalistischen Standards in den Köpfen der befragten Journalisten präsent sind. Sie wissen, wie unabhängige Journalisten agieren sollten. Aber die verinnerlichten Standards können im Alltag nur noch bedingt umgesetzt werden. Seit der Umfrage hat sich die ökonomische Lage noch weiter verschärft. Je dramatischer die Zustände werden, desto unrealistischer ist es, dass die journalistischen Standards und Ethik-Kodizes eingehalten werden können. Zum Teil nimmt das Ganze absurde Formen an, wie man etwa anhand einer aktuellen Diskussion bei der New York Times schön sehen kann. Selbst bei diesem Flagschiff des Journalismus ist der strenge Code of Conduct der NYT offenbar nicht ohne weiteres auf freie Mitarbeiter anwendbar.. Für eine kleinere Zeitung erscheint er mir erst recht unrealistisch. Ich persönlich kenne jedenfalls keine deutsche Zeitung, die einen solchen strengen Codex anzuwenden versucht.
Wie kann das zur Begünstigung von PR-Themen und der Vernachlässigung anderer Themen führen?
Die PR-Forschung zeigt, dass Journalisten von PR beeinflusst werden. Recherche kostet Personal, Zeit und Geld und ist daher zunächst unökonomisch. Das kann dann zu struktureller Vernachlässigung aufwendiger Themen führen. Gerüchte statt Fakten zu liefern, ist einfacher, Zitieren billiger. Wenn sich die strukturellen Rahmenbedingungen für unabhängige Journalisten nicht ändern, wird tendenziell immer mehr PR etwa die Themenwahl steuern. Dazu kommen Faulheit, Termindruck und mitunter zu geringes Wissen. Allerdings bin ich auch der Meinung, dass es heute sehr viel einfacher geworden ist, PR-Angaben zu überprüfen. Bei Medizinthemen nutzt man beispielsweise die Publikationsdatenbanken als Fakten- oder Expertencheck. Wenn man sein Handwerk beherrscht, die entsprechenden Veröffentlichungen lesen und die Studienlage einschätzen kann, ist es heute leichter, die PR-Angaben zu überprüfen. Außerdem kommt es mir so vor als hätte es in den vergangenen Jahren einen Wandel gegeben. Das neue Hobby vieler Medizinjournalisten scheint die Aufdeckung von Interessenskonflikten zu sein.
Eine positive Entwicklung also?
Ja, aber es gibt auch problematische Entwicklungen. Zum Beispiel Kollegen, die nicht mehr mit Pharmafirmen sprechen, weil sie interessengeleitete Kommunikation befürchten, aber gleichzeitig denken, dass Experten ohne Interessenkonflikte tatsächlich unabhängig sind. Sie überprüfen nicht, ob es zum Beispiel Interessen von Wissenschaftsorganisationen oder Krankenkassen gibt, die Experten ihres Vertrauens beeinflussen. Außerdem gilt leider, dass Kompetenz und Unabhängigkeit nicht immer Hand in Hand gehen. Und ein Interessenkonflikt bedeutet umgekehrt nun einmal leider nicht automatisch, dass der Experte in der Sache Unsinn redet.
Haben Sie Beispiele?
Die verwirrende Diskussion um die HPV-Impfung zum Beispiel hat gezeigt, dass bei Journalisten beliebte Experten der Evidenz basierten Medizin irren können. Ein krasses Beispiel ist die WDR-Dokumentation „Heilung unerwünscht“ über die Neurodermitis-Salbe Regividerm. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat man das Geld für lange Recherchen. Der Autor hat sich ein Jahr Zeit genommen für seine Recherche, sogar ein Buch verfasst. Ich kenne seine Motive nicht, vermute aber, dass er ein Märchen aus dem Reich der bösen Pharmaindustrie erzählen wollte und dabei beide Augen verschlossen bei allem, was an Expertise seinem Klischee widersprach. Der einzige Lichtblick in diesem Fall ist, dass inzwischen sogar Blogger Journalisten kontrollieren, wenn Journalisten Thesen und Themen abschreiben und übernehmen.
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Sie leiten aus Ihrer Umfrage allgemeine Verhaltensregeln ab. Wie lauten diese?
Die meisten Befragten waren sich einig in ihrer Forderung nach Transparenz. Potenzielle Konfliktsituationen, denen Journalisten nicht ausweichen können oder wollen, sollten offen gelegt werden. Freiberufler sollten ihre Redakteure informieren, Zeitungen und Sender sogar ihr Publikum – etwa in der Art wie medizinische Fachzeitschriften bereits seit einigen Jahren mit potentiellen Interessenskonflikten umgehen.
Weniger eindeutig fallen die Meinungen etwa bei der Übernahme von Reisekosten durch Firmen im Vergleich zu öffentlichen Institutionen aus. Das Übernehmen von Reisekosten durch öffentliche Institution wurde weniger kritisch gesehen als wenn das eine private Firma – in unserem Beispiel einem Ölkonzern macht. Das erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich. Wichtig schein mir für Interessenskonflikte zu sensibilisieren. Besonders junge Journalisten sind sich der potentiellen Interessenskonflikte oft erst gar nicht bewusst. Die Diskussion über Grenzfälle wie in unserem Fragebogen könnte dabei helfen, ein stabiles Rollenverständnis als Wissenschaftsjournalist aufzubauen.
Volker Stollorz ist Diplom-Biologe, Buchautor und freier Wissenschaftsjournalist, lebt in Köln und arbeitet unter anderem für Tages- und Wochenzeitungen, überregionale Magazine und das WDR-Fernsehen. Er hat für seine Arbeiten zahlreiche Preise erhalten, unter anderem den Georg von Holtzbrinck Preis für Wissenschaftsjournalismus und den Europäischen Journalistenpreis.
Klaus Koch ist leitender Redakteur am IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen). Nach seinem Biologiestudium in Bonn und Köln, erhielt er 1990 ein Stipendium „Wissenschaftsjournalismus“ der Robert-Bosch-Stiftung. Bis Ende 2005 war er als freier Wissenschaftsjournalist und Buchautor tätig.
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