2016: Top 2

EU und Euratom: Verpflichtet, die Kernkraft zu fördern

Der Euratom-Vertrag ist ein Fossil: Er wurde 1957 unterzeichnet und hat seitdem keinerlei Reformen erfahren. Recherchen zeigen, dass die Strukturen von Euratom ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden. Deutschland leistet nach wie vor Zahlungen an das Bündnis, dessen erklärtes Ziel ist, die Atomindustrie aufzubauen und zu entwickeln – trotz des beschlossenen Atomausstiegs. Ein klassisches Beispiel für ein langfristig relevantes, aber vernachlässigtes Thema.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Die Europäische Atomgemeinschaft, kurz auch Euratom genannt, wurde im Rahmen der Römischen Verträge am 25. März 1957 gegründet. Gründerstaaten waren unter anderem Frankreich, Italien, die Benelux-Staaten und Deutschland. Als Zweck des Vertrages wird die generelle Förderung von Atomenergie angegeben:

„Aufgabe der Atomgemeinschaft ist es durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Nuklearindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedsstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen mit anderen Ländern beizutragen.“

Das Bündnis sollte zudem die Nuklearforschung fördern, einen Gesundheitsschutz durch Überwachung des Umgangs mit spaltbaren Stoffen garantieren und somit die Kontrolle von nuklearen Stoffen ermöglichen. Zudem bietet Euratom die Möglichkeit, eine gleichmäßige Versorgung mit entsprechendem Material zu organisieren. All dies geschehe „in dem Bewusstsein, dass die Kernenergie eine unentbehrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt darstellt“. Als Mitgliedsstaat der Europäischen Atomgemeinschaft ist die Bundesrepublik einerseits an den Euratom-Vertrag gebunden, zugleich strebt man jedoch einen Atomausstieg bis 2022 an. Die Mitglieder sind nach Artikel 6 zu einer Finanzierung verpflichtet. Da der Vertrag seit seiner Verabschiedung vor fast 60 Jahren keinerlei Reformen erfahren hat, wird aus unterschiedlichen Richtungen heftige Kritik geäußert.

Neben einigen Mitgliedstaaten, unter anderem Deutschland, haben sich auch viele Umweltorganisationen wie Greenpeace Deutschland intensiv mit der Problematik auseinandergesetzt. Im eigens erstellten Fact-Sheet von Greenpeace stellt die Organisation dar, dass es durchaus Proteste und Bedenken bei der Übernahme des Vertrages in die neue EU-Verfassung gab, welche vor allem darauf beruhen, dass der Vertrag nicht angepasst wurde und somit nicht mehr zeitgerecht und effektiv sein kann. Zwar wurde zur Zeit der Schließung von Euratom Kernenergie als unentbehrlich für die Entwicklung der europäischen Staaten und die Energiegewinnung gehalten, doch in Zeiten größeren Umweltbewusstseins sei eine Anpassung zugunsten von erneuerbaren, sauberen Energiequellen absolut notwendig. Weitere Kritikpunkte stellen die mangelnde Wirtschaftlichkeit der existierenden Reaktoren sowie abnehmende gesellschaftliche Akzeptanz dar, die nicht unterschätzt werden sollten. Letzteres wäre an dem Trend vieler Staaten zum Atomausstieg in Europa klar erkennbar. Problematisch wird es vor allem, wenn einzelne Nationen, wie Finnland, das neue Reaktoren plante, Kredite aus dem Euratom-Topf fordern. Die Summen können sich hierbei beispielsweise auf 250 Millionen Euro belaufen, wie sie für den Bau eines Reaktors in Rumänien gefordert wurden. Durch Deutschlands Mitgliedschaft in Euratom, ist die Bundesrepublik gezwungen, solche Projekte anderer Nationen mitzufinanzieren, obwohl der eigene Atomausstieg schon lange geplant ist.

Greenpeace kritisiert weiterhin die intransparente Arbeit der einzelnen Euratom-Kommissionen und die ungerechtfertigte Verteilung der Ressourcen. So verlässt sich beispielsweise das Amt für Sicherheitsüberwachung bei Buch- und Lagerkontrollen auf die Daten, die von den Betreibern nuklearer Institutionen übermittelt werden. Hier fehlt eine direkte und effektive Kontrolle von Lagerbeständen, weshalb auch kaum Unterschlagungen von spaltbarem Material festgestellt werden. Somit kann keinerlei Garantie geboten werden, dass gegebene Richtlinien überhaupt eingehalten werden, das Amt ist also hochgradig ineffizient. Laut BUND komme Euratom seiner Sorgfaltspflicht somit nicht nach. Doch anstatt solche Prozesse zu optimieren, erfolgen im Bereich der Prüfämter zunehmend Stellen- und Budgetkürzungen.

Gerade im Bereich der nuklearen Forschung wird deutlich, worin die finanzielle Problematik besteht. 7,6% der jährlich zur Verfügung stehenden Mittel der Atomgemeinschaft werden in diesen Bereich gesteckt. Während andere Mitgliedsstaaten von Euratom an nachhaltigen Reaktortechnologien arbeiten und dies mithilfe des Euratom-Budgets finanzieren, erhalten deutsche Forscher aufgrund des Ausstieges keinen Zugang zu solchen Fördermitteln. „So subventioniert Berlin die Reaktorforscher anderer EU-Staaten“, schreibt Hans Schuh in Die Zeit. Zudem wird ein Großteil der Forschungsgelder an das Euratom Joint Research Center für die Erforschung von Kernfusion als mögliche Energiequelle vergeben. Eine tatsächliche Nutzung kann aber nicht in absehbarer Nähe erfolgen, verschlingt aber Gelder, die möglicherweise sinnvoller in der Entwicklung erneuerbarer Energien investiert wären. Dies scheint zudem kein Einzelfall zu sein, häufig seien teure Studien nutzlos.

Ein starker Kritikpunkt sei auch die hohe Ineffizienz der gesamten Organisation. Da die Euratom-Gemeinschaft theoretisch auch für die Einhaltungen aller schützenden Richtlinien verantwortlich ist, scheint es höchst problematisch, dass die zuständigen Abteilungen für Schutz und Kontrolle ständig unterbesetzt und –finanziert sind. Es wird also deutlich, inwiefern man zumindest eine zeitgemäße Struktur schaffen könnte, indem man die zur Verfügung stehen Mittel in die Bereiche Schutz, Kontrolle und Sicherheit verlagert. Insbesondere für Nationen mit geplantem Atomausstieg wäre dies von Interesse, da somit eine erhöhte Sicherheit im Umgang mit den noch vorhandenen Kraftwerken geschaffen werden könnte.

Laut Greenpeace und BUND stehe eine solch massive Förderung der Atomindustrie im Widerspruch zur europäischen Philosophie von freiem Wettbewerb und liberaler Marktwirtschaft, da man eine „Schaffung günstiger ökonomischer, und politischer Rahmenbedingungen“ anstrebt. Häufig erfolgt dies über die Vergabe von Krediten. Bis 2007 wurden Kredite in einer Gesamthöhe von 3,4 Mrd. Euro, von den zur Verfügung stehenden 4 Mrd. Euro, vergeben. Dazu gehört die Arbeit der Europäischen Versorgungsagentur (ESA), die die Bezugsrechte für Uranerze und andere spaltbare Stoffe besitzt. Dies soll vor allem dazu dienen, allen Mitgliedsstaaten einen Zugang zu nuklearen Stoffen zu bieten, welches einen freien Wettbewerb allerdings verhindert. So soll es jedoch möglich sein, eine atomare Bewaffnung einzelner Staaten zu verhindern. Solche Aspekte sind sicherlich auch heute noch von Bedeutung. Ebenso bedeutsam ist die Koordination zwischen den Mitgliedsstaaten und dass friedliche Kontakte zu anderen Atomnationen gepflegt werden. Die genannten Aspekte stellen somit noch eine Legitimierung für Euratom dar. Dennoch sollte überdacht werden, wie dies im Verhältnis zu einer massiven Förderung der Atomlobby steht.

Es wird erkenntlich, dass die Intransparenz und ungerechtfertigte Verteilung von Mitteln ein Problem darstellen und somit reformiert werden sollten. Für Nationen, wie die deutsche Bundesrepublik, die einen Atomausstieg planen, kommen natürlich weiterhin Fragen bezüglich des eigenen Nutzens auf. Weitere Zahlungen, ohne einen Vorteil aus einer solchen Verbindung zu ziehen, wären keinesfalls im Interesse solcher Staaten.

Abgesehen von geplanten Energiewenden ignoriert die Europäische Atomgesellschaft beständig die abnehmende gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber nuklearer Energiegewinnung. Nach Katastrophen wie Fukushima sind mögliche Risiken stark in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt. Diesen Zweifeln wird jedoch keine Diskussionsplattform von Seiten Euratoms geboten. Stattdessen sind ausgerechnet Abteilungen zuständig für Sicherheit, Schutz und Kontrolle chronisch unterfinanziert. Häufig wird deshalb Kritik an der Vernachlässigung solcher bedeutenden Aufgaben geäußert.

Somit wird deutlich, wie diskussionswürdig der Euratom-Vertrag geworden ist. Die Frage nach seiner Legitimation im Angesicht einer angestrebten Energiewende bleibt hier demnach offen.

Untersuchung der Vernachlässigung

Wie bereits erwähnt findet der Euratom-Vertrag häufig nur Aufmerksamkeit in beiläufigen Erwähnungen, wenn es beispielsweise um Zuschüsse für die Nuklearforschung geht. Die großen Kritikpunkte, wie oben bereits aufgeführt, erhalten dabei nahezu keine Beachtung und das Gesamtbild des ineffizienten und intransparenten Euratom-Bündnisses wird gar nicht erst angedeutet. Erwähnt werden einzig Struktur und Aufgabe des Vertrages, nicht aber jedoch seine Umsetzung oder Effizienz. Aktuelle Zahlen zu Ausgaben und Finanzierung der Organisation zu finden, erweist sich zudem als äußerst kompliziert und unterstreicht somit auch die Kritik der fehlenden Transparenz der Euratom-Kommissionen.

Lediglich Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace oder BUND tragen etwas zur kritischen Aufklärung über die Zustände der Europäischen Atomgemeinschaft bei. Jedoch ist hier auffällig, dass die entsprechenden Beiträge einige Jahre zurückliegen und kein aktueller Aufwand diesbezüglich betrieben wird. Zudem kann aufgrund der geringeren Reichweite dieser Organisationen keine breite Masse auf das Thema aufmerksam gemacht werden.

Aufgrund der vorliegenden Berichterstattung wird deutlich, dass der Diskurs um die Zeitgemäßheit Euratoms als vernachlässigt zu betrachten ist. Aufgrund dieser mangelnden Öffentlichkeit kann auch keine gesellschaftliche Diskussion über das Thema entstehen.

Vernachlässigung

Ein Grund für die Vernachlässigung des Themas könnte auf einen Einfluss einer starken europäischen Atomlobby, wie sie von Euratom unterstützt wird, zurückgeführt werden. Eine kontroverse und öffentliche Diskussion der Organisationsstrukturen ginge gegen deren Interesse.

Aber auch bei Betrachtung der Nachrichtenwerttheorien lassen sich mögliche Ursachen erkennen. Die Thematik bietet den Medien keine Sensationsnachricht oder Prominenz. Aufgrund der hohen Komplexität, vor allem auch juristisch, ist die Thematik zu dem kaum eindeutig darstell-bar. Da eine alltägliche Nähe zur Bevölkerung fehlt ist auch eine Personalisierung kaum möglich, welche heutzutage zunehmend an Bedeutung bei einer Nachrichtengenerierung gewinnt.

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Quellen:

„Atomausstieg und Energiewende als ‚Herkulesaufgabe‘“. Web- und Textarchiv des Deutschen Bundestages. (2011). > https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/34716466_kw23_de_atomgesetz/205630< (Letzter Zugriff: 02.01.2016)

„Euratom – 50 Jahre sind genug!“. Hintergrundpapier vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und urgewald (März 2007). >http://www.bund.net/fileadmin/bundnet/publikationen/atomkraft/20070300_atomkraft_euratomvertrag_hintergrund.pdf< (Letzter Zugriff: 05.01.2015). S. 8

„Europäische Atomgemeinschaft (Euratom)“. Website des Bundesministeriums für Umwelt, Na-turschutz, Bau und Reaktorsicherheit. >http://www.bmub.bund.de/themen/atomenergie-strahlenschutz/nukleare-sicherheit/europa/euratom/< (Letzter Zugriff: 05.01.2016)

„Mission Statement“ . (19.06.2014). Euratom Supply Agency Website. >http://ec.europa.eu/euratom/mission.html< (Letzter Zugriff: 05.01.2016)

„Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft“ >http://www.europarl.europa.eu/brussels/website/media/Basis/Vertraege/Pdf/EURATOM-Vertrag.pdf< (Letzter Zugriff 05.01.2016)

Münchmeyer, Tobias (2002). „Euratom – Im Schatten der Öffentlichkeit“. Greenpeace. >https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/fs_euratom_neu_1.pdf< (Letzter Zu-griff: 05.01.2016)

Scherf, Martina (16.07.2015). „Fusionsforscher bangen um Zuschüsse“. Süddeutsche Zeitung Online. > http://www.sueddeutsche.de/bayern/kernfusion-fusionsforscher-bangen-um-zuschuesse-1.2569267< (Letzter Zugriff: 07.01.2016)

Schuh, Hans (28.09.2006). „Kernenergie – Spaß am Spalten“. Zeit Online. > http://www.zeit.de/2006/40/U-Kernenergie< (Letzter Zugriff: 02.01.2016)

Wolff, Reinhard (07.08.2015). „Rosatom baut finnischen Atomreaktor – Mit Tricks zum neuen AKW“. Taz.de. >http://www.taz.de/!5221455/< (Letzter Zugriff: 05.01.2016