2025: Top-Thema 08

„Morbus Mediterraneus“ – Wenn kulturelle Vorurteile die Diagnose beeinflussen

Abstract:

Menschen aus südländischen Ländern berichteten häufig von schmerzhaften medizinischen Erfahrungen, die durch Missverständnisse und kulturelle Unterschiede verursacht wurden. Der Begriff „Morbus Mediterraneus“ beschreibt diese vermeintlich übersteigerte Schmerzwahrnehmung und kam während der ersten Welle der Arbeitsmigration auf. Mediziner gehen davon aus, dass unterschiedliche Schmerzäußerungen und sprachliche Hürden zu Fehleinschätzungen führten. Studien zeigen, dass Diskriminierung im Gesundheitswesen systematisch auftritt und besonders Frauen, Muslime, Schwarze und Asiaten betrifft. Laut einer Studie mussten 34,4 % der Menschen mit Migrationshintergrund schon ihre Ärzte aufgrund von Diskriminierung wechseln. Kulturelle Schulungen für medizinisches Personal und eine stärkere Repräsentation von Migranten im Gesundheitswesen sind notwendig, um diese Missstände zu beheben. Berichtet wird über diese Form medizinischer Diskrimierung in deutschen Medien viel zu wenig.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Stellen Sie sich vor: Sie liegen in einem Krankenhausbett, haben starke Schmerzen, doch diese werden von Ärzten und Pflegepersonal ignoriert. Sie erhalten keine oder unzureichende Schmerzmittel, weil das Personal annimmt, Ihre Schmerzen seien übertrieben. Besonders häufig berichten Menschen mit südländischen Wurzeln oder südländischen Namen von solchen Erfahrungen. Der medizinische Ausdruck dafür lautet „Morbus Mediterraneus“ – eine abwertende Bezeichnung für vermeintlich übersteigerte Schmerzwahrnehmung bei Menschen aus dem Mittelmeerraum.

Menschen aus der Community der Influencerin @marliesjohanna berichten in einem ihrer Instagram-Beiträge von solchen Erfahrungen. Einem Vater wurde im Krankenhaus vorgeworfen, er sei zu dramatisch – später stellte sich heraus, dass eine falsch gesetzte Naht zu inneren Blutungen geführt hatte. Einer anderen Frau wurde im Kreißsaal keine PDA verabreicht, da das Personal annahm, sie könne die Schmerzen aushalten und würde dann möglicherweise kein weiteres Kind bekommen wollen.

Der Begriff „Morbus Mediterraneus“ setzt sich aus zwei Teilen zusammen: „Morbus“ bedeutet Krankheit, „Mediterraneus“ beschreibt den Mittelmeerraum. Es handelt sich um einen veralteten Ausdruck, der vermutlich nie offiziell in der medizinischen Literatur verwendet wurde, so PD Dr. med. Anton Gillessen, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin mit Schwerpunkt Gastroenterologie am Herz-Jesu-Krankenhaus Münster-Hiltrup. Dennoch kennt er den Begriff aus seiner Zeit als Assistenzarzt. Er entstand während der ersten Welle der Arbeitsmigration („Gastarbeiter“), als viele Menschen aus Italien, der Türkei, Spanien, Griechenland und Jugoslawien nach Mitteleuropa kamen. Das Phänomen ist auch unter den Bezeichnungen „Morbus Bosporus“ oder „Mamma-mia-Syndrom“ bekannt.

Besonders südländische Patienten hätten eine andere Art, Schmerz auszudrücken, die für nordeuropäische Ärzte oft ungewohnt sei. Gillessen erklärt, dass Nordeuropäer früh lernten, Schmerzen nicht lautstark zu äußern, sondern sie präzise zu beschreiben. Südländische Patienten hingegen zeigten Schmerzen oft gestenreich und lautstark, selbst wenn es sich um vergleichsweise leichtere Beschwerden handelte. Auch sprachliche Hürden erschwerten die Verständigung und führten zu Missverständnissen bei der Anamnese.

Infolgedessen kam es zu Fehleinschätzungen: Einerseits führten laute Schmerzäußerungen zu einer schnelleren, aber nicht immer angemessenen Behandlung. Andererseits konnten Ärzte aufgrund des bekannten „Phänomens“ auch dazu neigen, Schmerzen nicht ernst genug zu nehmen, was eine unzureichende medizinische Versorgung zur Folge hatte. Laut Gillessen können solche Missverständnisse im Extremfall zu schwerwiegenden Eingriffen oder einer mangelhaften Behandlung führen.

In einer qualitativen Studie von M. Weßel und S. Gerhards aus dem Jahr 2023 wurden Medizinstudierende zum Thema Rassismus befragt. Die Untersuchung ergab, dass soziale Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Bildung, Religion und Migrationshintergrund die wichtigsten Einflussfaktoren darstellen. Die Autoren stellten zudem fest, dass es in der medizinischen Literatur nur wenige Daten zu Menschen mit Migrationshintergrund gibt, die – wenn überhaupt – erst ab 2017 erfasst wurden.

Spezifisch bei muslimischen Patienten oder Kollegen berichten die Studenten andere Behandlung. Diese Patienten werden abgestempelt, aufgrund ihrer anderen Religion oder anderen Hautfarbe.

Eine Studie von A. Baumeister (2021) zeigt, dass medizinisches Personal insbesondere bei Patienten mit afrikanischem oder asiatischem Hintergrund Schwierigkeiten hat, deren Gesichtsausdrücke richtig zu deuten. Dies erschwert es, ihre Bedürfnisse angemessen zu erfassen.

Gillessen betont ebenfalls, dass Interkulturalität und Transkulturalität im Gesundheitssystem kaum berücksichtigt werden. Dies betrifft nicht nur Menschen südländischer Herkunft, sondern allgemein Patienten mit Migrationshintergrund. Kulturelle Missverständnisse können zu falschen Behandlungen führen – bis hin zu unnötigen Operationen, wie im Fall eines Patienten, dessen Bauchdecke geöffnet wurde, weil seine Schmerzen falsch eingeschätzt wurden.

Der NaDiRa-Bericht 2023 zeigt, dass 34,4 % der Menschen mit Migrationshintergrund den Arzt wechseln mussten, weil ihre Beschwerden nicht ernst genommen wurden – im Vergleich zu 24,2 % der nicht rassistisch markierten Personen. Besonders betroffen sind Frauen: 28,8 % der Frauen mit Migrationshintergrund mussten den Arzt wechseln, während der Anteil bei Männern mit Migrationshintergrund bei 18,7 % liegt.

Zusätzlich zeigt die Untersuchung, dass muslimische Menschen eine um 9 Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit haben, den Arzt zu wechseln als nicht rassistisch markierte Personen. Ein ähnlicher Effekt zeigt sich bei asiatischen Menschen, deren Wahrscheinlichkeit, den Arzt wechseln zu müssen, um 7 Prozentpunkte höher liegt. Diese Unterschiede verdeutlichen, dass Diskriminierung im Gesundheitssystem nicht nur punktuell auftritt, sondern systematisch Menschen mit Migrationshintergrund betrifft.

Diese Form der Ungleichbehandlung wird auch als „Morbus Aliorum“ – die Krankheit der „Anderen“ – bezeichnet. Betroffene werden oft nicht ernst genommen, was zu Unterschieden in Diagnosen und Behandlungen führt.

Ein Beispiel für alltägliche Diskriminierung im Gesundheitswesen ist der Fall des Großvaters von Anna (Name geändert), eines chinesisch-vietnamesischen Mannes, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und fließend Deutsch spricht. Als er in einer dringenden Angelegenheit ohne Termin eine Arztpraxis aufsuchte, wurde ihm von der Arzthelferin mitgeteilt, sie könne ihn schlecht verstehen und er solle mit einem Dolmetscher wiederkommen. Dies zeigt, dass Diskriminierung nicht nur medizinische Behandlungen betrifft, sondern bereits in der Interaktion mit medizinischem Personal beginnt.

Relevanz:

Heute leben wir in einer noch viel multikulturelleren Gesellschaft als zu der Zeit, aus der der Begriff „Morbus Mediterraneus“ stammt, was die immense Relevanz dieses Themas unterstreicht. Laut dem Statistischen Bundesamt hatten im Jahr 2022 rund 24,3 % der deutschen Bevölkerung eine Einwanderungsgeschichte, darunter viele südländische (z. B. über fünf Millionen Muslime), schwarze (über eine Million) und asiatische Menschen (über drei Millionen).

Diese Menschen sind auf Ärztinnen und Ärzte angewiesen, die ihre Beschwerden ernst nehmen und angemessene Behandlungen anbieten. Kulturelle Unterschiede müssen in der medizinischen Ausbildung stärker berücksichtigt werden, um das Verständnis zu fördern und Symptome verschiedener Patientengruppen korrekt zu interpretieren. Personen mit Migrationshintergrund müssen in medizinischen Studien und im Gesundheitswesen insgesamt stärker repräsentiert werden, damit das System an ihre Bedürfnisse angepasst wird.

Niemand darf aufgrund seiner Herkunft benachteiligt oder schlechter behandelt werden. Medizinisches Personal sollte daher interkulturell geschult werden, um angemessene Behandlung sicherzustellen – was offensichtlich nicht immer der Fall ist.

Vernachlässigung:

Dieses Thema erhält in den Medien insgesamt wenig Aufmerksamkeit, und Berichterstattungen dazu sind rar. Zu den wenigen größeren Medien, die über „Morbus Mediterraneus“ berichtet haben, gehören DocCheck (15. April 2021), Focus (28. Januar 2019), DER SPIEGEL (18. September 2019 und 3. Juni 2024) sowie der NDR (13. November 2023).

Dennoch scheint keine dieser Veröffentlichungen eine breite öffentliche Debatte angestoßen zu haben, da das Thema für viele noch neu und weitgehend unbekannt ist. Zudem sind die meisten Artikel bereits einige Jahre alt – mit Ausnahme des jüngsten SPIEGEL-Beitrags.