2023: Top-Thema 08

Suizid im Justizvollzug

Abstract:

Menschen, die in deutschen Justizvollzugsanstalten inhaftiert sind, haben ein vielfach erhöhtes Suizidrisiko im Vergleich zur Gesamtbevölkerung Deutschlands. Seit 2006 gibt es die Bundesarbeitsgemeinschaft „Suizidprävention im Justizvollzug“, dennoch ist die Suizidrate noch immer hoch und gilt als höchste singuläre Todesursache in deutschen Gefängnissen. Die Gründe sind vielschichtig, die genauen Zahlen schwanken und der Prozentsatz ist bundesweit nicht einheitlich. Fachleute kritisieren, dass es für Inhaftierte häufig schwieriger ist, an therapeutische Angebote heranzukommen. Die Fürsorgepflicht für inhaftierte Menschen trägt der Staat.

Sachverhalt & Richtigkeit: 

„Von 2000 bis 2019 haben sich 1449 Gefangene, davon 42 Frauen und 1407 Männer, im deutschen Justizvollzug suizidiert.“ (Quelle: Bundesarbeitsgruppe Suizidprävention im Justizvollzug: Aktuelles zu Suiziden und Suizidprävention im deutschen Justizvollzug – Bundesarbeitsgruppe Suizidprävention im Justizvollzug (bag-suizidpraevention.de). Der geschlechtsspezifische Unterschied ergibt sich daraus, dass signifikant mehr Männer als Frauen unter den Inhaftierten sind. Im Jahr 2022 waren von 42 492 Insassen 40 086 Männer und 2 406 Frauen (Quelle: Statistisches Bundesamt). Die Suizidrate ist unter Gefängnisinsassen also deutlich höher.

Aber woran liegt das? Das Bundesgesundheitsministerium nennt ein paar Gründe: Zum einen wird davon ausgegangen, dass Inhaftierte schon vor Haftantritt eine Vielzahl an Risikofaktoren aufweisen. Das können zum Beispiel psychische Erkrankungen oder Drogenmissbrauch sein. Laut Optitz-Welke und Konrad  liegen bei „den Ergebnissen von Untersuchungen zur Prävalenz psychiatrischer Störungen bei Gefangenen in Deutschland [liegt] bei bis zu 8 % der Gefangenen eine Schizophrenie vor, 20–44 % leiden an einer Alkoholabhängigkeit und bei bis zu 40 % kann eine depressive Störung diagnostiziert werden.“ Mit Haftantritt kommen weitere Faktoren dazu, die zu einem Suizid führen können. Das sind zum Beispiel ein Drogenentzug, soziale Isolierung oder Schuldgefühle, die wegen der begangenen Tat aufkommen können. Zudem brechen die wichtigsten sozialen Bezugspersonen weg. Diese Veränderung der Umstände wird auch als „Inhaftierungsschock“ bezeichnet.

Die Suizidgefährdung ist daher auch während der ersten Wochen nach der Inhaftierung besonders hoch. Von 2000 bis 2019 wurden etwa 50% der Suizide von Untersuchungsgefangenen begangen, meistens unmittelbar nach Haftbeginn. 6% der Suizide in Gefängnissen werden am Tag der Inhaftierung begangen, ein Drittel im ersten Monat und etwas mehr als 50% in den ersten vier Monaten. Gerade zu Haftbeginn sollten also präventive Maßnahmen ergriffen werden, um den Fall einer Selbsttötung zu verhindern.

Bei Haftantritt gibt es häufig ein Screening, bei dem festgestellt werden soll, wie das Suizidrisiko einzuschätzen ist, berichtet der Deutschlandfunk. Dazu zählt unter anderem, ob es in der Vergangenheit schon einmal einen Suizidversuch gab. Das Problem dabei ist, dass der eben erwähnte Inhaftierungsschock häufig erst nach dem Screening eintritt. Das Screening sollte also häufiger durchgeführt werden und nicht nur direkt zu Beginn. Es gibt auch Möglichkeiten, einem Inhaftierungsschock entgegenzuwirken, zum Beispiel, indem der Kontakt zu den Angehörigen gestärkt wird. In Norwegen, das seinen Justizvollzug seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stark reformiert hat und auf dem Prinzip der Resozialisierung und Rehabilitation der Gefangenen aufbaut, sind die Gefängnisse kleiner und dezentraler aufgebaut, um die sozialen Kontakte zu Freund:innen und Angehörigen zu fördern.

Als Präventionsmaßnahme gibt es vereinzelt auch das „Listener“-Modell, bei dem einem Neuzugang ein Häftling an die Seite gestellt wird, der schon länger inhaftiert ist und eine besondere Schulung durchlaufen hat, um in dieser Situation helfen zu können.

Ein weiteres Problem ist, dass psychologisch-psychiatrisches Personal nicht jederzeit erreichbar ist. Umso wichtiger wäre deshalb eine flächendeckende Schulung von Vollzugsbeamten, um Situationen schneller zu erkennen und rechtzeitig psychologische Unterstützung anfordern zu können. An solchen Präventivmaßnahmen forscht und arbeitet die Bundesarbeitsgruppe „Suizidprävention im Justizvollzug“ seit 2006. Auch am Universitätsklinikum Dresden werden Fragestellungen zu dem Thema untersucht. Bis jetzt wurden allerdings noch keine Ergebnisse veröffentlicht. Jedoch ist der personelle Mangel von Wachpersonal bekannt, sodass Schulungsmaßnahmen keine ausreichende Präventionsmaßnahme darstellen.

Dirk Kempen arbeitet in der forensischen Psychiatrie der LVR-Klinik Düren und arbeitet mit psychisch-erkrankten Straftätern. Dort wird das Thema Suizidalität intensiver behandelt als in einem „normalen“ Gefängnis. „Bei entsprechenden PatientInnen beschäftigten wir uns täglich damit. Täglich wird akute Suizidalität mit ÄrztInnen, PflegerInnen und PsychologInnen abgeklärt“. Als Maßnahmen, die getroffen werden, nennt Kempen Beobachtung, Gespräche, Medikamente, Absonderung, Entzug gefährlicher Gegenstände sowie Fixierung. „Bei uns findet eine engmaschigere, intensivere Beobachtung statt“, berichtet er. „Wir machen mehr mit [den Inhaftierten]. Bei uns geht es vor allem um Resozialisierung. Wenn die Menschen zu uns kommen, haben wir schon einen Bericht über den Zustand, unter anderem über die Suizidalität. Im Gefängnis ist das zu Beginn nicht in dem Ausmaß bekannt.“

Relevanz:

Der Staat hat allen Inhaftierten gegenüber eine Fürsorgepflicht. Menschen werden eingesperrt, die Lebensumstände verändern sich rapide – und die Suizidrate steigt. Es ist also wichtig, weiter aufzuklären, psychologische Betreuung bereitzustellen und Warnsignale frühzeitig zu erkennen. . Obwohl das Problem zumindest in Justizvollzugsanstalten bekannt ist, wird wenig dagegen getan. Das liegt vor allem an mangelndem Fachpersonal. Gäbe es eine verstärkte Berichterstattung, würde auch der Druck gegenüber Justizvollzugsanstalten gestärkt werden, mehr präventive Maßnahmen zu ergreifen und Suizide zu verhindern.

Vernachlässigung:

Trotz der hohen Suizidrate in deutschen Gefängnissen wird nur wenig darüber berichtet. Im Jahr 2019 hat es das Thema in die Süddeutsche Zeitung, den Tagesspiegel und die Zeit geschafft. Seither wird nur vereinzelt darüber berichtet. Der Fokus der Berichterstattung liegt eher auf (prominenten) internationalen Fällen.